Zukunft braucht Erinnerung

Die Fotos lassen sich durch Anklicken vergrößern und in einem gesonderten Fenster öffnen!

Ein Rückblick auf die öffentliche Fachtagung zur vielfältigen LSBTTIQ [1]–Geschichte "Zukunft braucht Erinnerung" am 5.10.2019 im Stuttgarter Lern– und Erinnerungsort Hotel Silber

Mehr als 50 Interessierte an der vielfältigen Geschichte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten kamen am 5. Oktober 2019 in das Gebäude der ehemaligen Gestapozentrale von Württemberg und Hohenzollern "Hotel Silber", um die Ergebnisse aktueller Arbeiten kennenzulernen, zu diskutieren und um sich über zukünftige Richtungen von historischer Forschung und Vermittlung auszutauschen. Eingeladen hatten der Fachverband Homosexualität und Geschichte sowie die Initiative Lern– und Gedenkort Hotel Silber und ihre AG Vielfalt. Der Fachverband war mit mehreren Historiker*innen sowie Geschichtsaktivist*innen aus verschiedenen Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz vertreten. Unterstützt wurde die Tagung durch die Landeszentrale für politische Bildung Baden–Württemberg, das Haus der Geschichte Baden–Württemberg und nicht zuletzt durch das Netzwerk LSBTTIQ Baden–Württemberg.

Foto 1

Prof. Dr. Paula Lutum–Lenger, Direktorin des Hauses der Geschichte Baden–Württemberg und Ralf Bogen, Mitarbeiter der AG Dauerausstellung für die Initiative Lern– und Gedenkort Hotel Silber, führten Tagungsteilnehmende am Vortag durch die Dauerausstellung des neuen Lern– und Erinnerungsortes zum Thema "Die Polizei im Hotel Silber und die Bekämpfung von Homosexualität".[2]

In der Begrüßung von Ralf Bogen (Stuttgart, Vorstand der Initiative Lern– und Gedenkort Hotel Silber) und Karl–Heinz Steinle (Berlin, Vorstand des Fachverbands Homosexualität und Geschichte) im Namen der Veranstaltenden wurde an die Geschichte des Hauses Hotel Silber erinnert, in der die ehemalige Gestapozentrale von Württemberg und Hohenzollern und nach 1945 die städtische Kriminalpolizei ihren Sitz hatte. Es sei kein Zufall gewesen, dass sich vier LSBTTIQ–Vereine (IG CSD Stuttgart, KC Stuttgart, LSVD Baden–Württemberg und Weissenburg) als Mitglied in der Initiative Lern– und Gedenkort Hotel Silber erfolgreich am Kampf um den Erhalt des Gebäudes als Lern– und Erinnerungsort beteiligt hätten.[3] Bis dahin habe es in Baden–Württemberg keinen Ort gegeben, an dem angemessen über das NS– und Nachkriegs–Unrecht an LSBTTIQ–Menschen erinnert werde. Die Tagung passe gut zum Ziel des neuen Lern– und Erinnerungsortes, "diesen Ort des Terrors in einen Ort des Bekenntnisses zu demokratischen Grundrechten und zu gelebter Akzeptanz menschlicher Vielfalt zu wandeln" (aus der Präambel zu den Hotel Silber Verträgen). Im Anschluss wurde der Fachverband Homosexualität und Geschichte vorgestellt. Seit 1992 fördere dieser u. a. durch jährlich stattfindende Fachtagungen wie diese den Erfahrungsaustausch seiner Mitglieder und aller an LSBTTIQ–Geschichte Interessierten.[4] Nach einer Danksagung an einer Reihe von Organisationen und Menschen, die die Tagung möglich gemacht haben [5], moderierte Steinle vormittags die Vorstellung der ersten drei Vortragenden inklusive der jeweils anschließenden Diskussionen.

Foto 2

Dr. des. Sabrina Mittermeier (Augsburg) erklärte in ihrem Vortrag "LSBTTIQ Public History in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, 1969–2016" zunächst den von ihr verwendeten Begriff "Public History" mit einer Definition von Martin Lücke und Irmgard Zindorf (2018): "Public History wird sowohl als jede Form der öffentlichen Geschichtsdarstellung verstanden, die sich an eine breite, nicht geschichtswissenschaftliche Öffentlichkeit richtet, als auch als eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich der Erforschung von Geschichtspräsentationen widmet." Sie warf die brisante Frage auf, wer bestimme, an wen, was, wie erinnert werde. LSBTTIQ–Geschichte habe in Deutschland nach wie vor fast nirgendwo Einzug in Schul– und Universitätslehrpläne gehalten. Das außeruniversitäre und unbezahlte Archivieren und Sammeln durch Geschichtsaktivist*Innen sei daher auch heute noch eine wichtige Form des Aktivismus der LSBTTIQ–Emanzipationsbewegung. Ihr geplantes, jedoch noch nicht finanziertes Projekt solle Einrichtungen analysieren, die es sich zum Ziel gesetzt hätten, LSBTTIQ Geschichte in die Öffentlichkeit zu tragen. Für die USA gehörten hierzu die ONE National Gay and Lesbian Archives (Los Angeles), das Stonewall National Museum and Archives (Fort Lauderdale), das GLTB Museum and Historical Society (San Francisco), das Lesbian Herstory Archives (New York) und verschiedene AIDS–Memorial‘s (Key West, New Orleans und weitere). Für die BRD nannte sie u. a. das Schwule Museum* (Berlin), der Spinnboden – Lesbisches Archiv und Bibliothek e.V. (Berlin), das Forum Homosexualität e.V. (München), das Centrum Schwule Geschichte (Köln) oder das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen (Berlin).

In der Diskussion ging es um verschiedene Fragestellungen, z. B. wie das Projekt berücksichtigen wird, dass sich Dokumente zu lesbischen Frauen in Frauenarchiven wiederfinden und dass es große Unterschiede gibt zwischen der Forschung und Vermittlung der Geschichte von weißen schwulen CIS [6]–Männern im Verhältnis zu anderen Gruppen der LSBTTIQ–Community. Ebenso thematisierten Diskussionsbeiträge das Verhältnis von akademisch–institutionalisierten Forschungen und (Geschichts–)Projekten zu Forschungen und Erinnerungsprojekten der LSBTTIQ–Emanzipationsbewegung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Situation in den USA und in Deutschland sollen im Projekt genauer untersucht werden. Eine wichtige Gemeinsamkeit sei laut Mittermeier heute, dass sich in beiden Ländern LSBTTIQ–Geschichtsaktivist*innen mit Rollback–Kräften konfrontiert sehen, in den USA mit Trump und in Deutschland mit der AfD.

Im zweiten Vortrag referierte Janka Kluge zur Geschichte der Emanzipationsbewegung transsexueller Menschen unter dem Titel "Von der Sichtbarkeit zur Unsichtbarkeit und wieder zurück". Die Bewegung habe mit dem Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes 1981 aus damaliger Sicht ein wichtiges Ziel erreicht. Nun seien für transsexuelle Menschen eine Namensänderung und eine geschlechtsanpassende Operation möglich gewesen. Dies habe "von der Sichtbarkeit zur Unsichtbarkeit" geführt, da sich transsexuelle Menschen in den Folgejahren aus der politischen Öffentlichkeitsarbeit für transsexuelle Anliegen für mehrere Jahre weitgehend zurückgezogen hätten. Über drei Jahrzehnte später habe das Bundesverfassungsgericht auf Klagen von einzelnen Betroffenen das Transsexuellengesetz in mindestens 10 Punkten als rechtswidrig eingestuft. Insbesondere die nach wie vor erforderliche Zwangsbegutachtungen für Namensänderungen und geschlechtsanpassende Operationen hätten dazu geführt, dass in den letzten Jahren mehrere transsexuelle Menschen wieder "aus der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit" hervorgetreten seien und sich verstärkt für ihre Anliegen in der Öffentlichkeit engagieren würden. In Stuttgart sei es in diesem Jahr zum ersten Trans*Pride mit über 400 Teilnehmenden gekommen. Auf Bundesebene hätten sich 40 verschiedene Trans*Gruppen zum Bundesverband Trans* zusammengeschlossen, der die Kampagne gestartet habe "Sagt es laut! – Selbstbestimmung! TSG (Transsexuellengesetz) abschaffen!" (www.bundesverband–trans.de/sagt–es–laut/). Ein wichtiges Thema der weltweiten Trans*Bewegung sei die Psychopathologisierung sowie Hass, Gewalt und Ermordung von Trans*Menschen. Die meisten Morde seien in den USA zu verzeichnen und zwar an schwarzen Frauen aus armen Verhältnissen, die um überleben zu können oftmals der Prostitution nachgingen.

In der Diskussion wurden die Fragen nach der Bedeutung der Begriffe von Transsexualität in Abgrenzung von Transgender für die Emanzipationsbewegung geschlechtlicher Minderheiten und nach dem Verhältnis lesbischer Einrichtungen zu transsexuellen Frauen gestellt. Radikalfeministinnen würden nach wie vor transsexuelle Frauen nicht als Frauen anerkennen. In vergangenen Jahren habe das Frauenkulturzentrum und Café Sarah in Stuttgart transsexuellen Frauen keinen Eintritt in ihre Räume gewährt. Zu den Morden an Trans*Menschen wurde angemerkt, dass es Morde an Transmänner durch CIS–Frauen so gut wie keine gäbe, dass bei diesen Geschlecht, Hautfarbe sowie prekäre ökonomische Verhältnisse eine zentrale Rolle spielten.

Foto 3

Ilona Scheidle (Mannheim) berichtete in ihrem Vortrag "Bekämpftes / umkämpftes Gedenken – eine Geschichte zur ‘Lesbengedenkkugel‘ in der Mahn– und Gedenkstätte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück" wie autonome Frauengruppen zum 70. Jahrestag der Befreiung in Ravensbrück in einer von der Gedenkstättenleitung nicht genehmigten Aktion eine Gedenkkugel mit folgender Inschrift niederlegten: "In Gedenken an die lesbischen Frauen und Mädchen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und Uckermark, die als Widerständige, Ver–rückte, ‘Asoziale‘ und aus anderen Gründen verfolgt und ermordet wurden." Die Leitung der Gedenkstätte ließ die Gedenkkugel wieder entfernen. Seitdem gibt es eine Auseinandersetzung um das Gedenken an die lesbischen Frauen in der dortigen KZ–Gedenkstätte. Scheidle führte aus, dass sie bei den "W–Fragen: Wer, was, wann, wie, warum"beim "warum" "hängen geblieben" sei mit der Konsequenz, dass sie nicht konkreter auf den Streit und auf neue Entwicklungen in der KZ–Gedenkstätte Ravensbrück eingegangen ist. Sie hält den Androzentrismus, welcher Männer als Zentrum, Maßstab und Norm in allen gesellschaftlichen Bereichen versteht, für den zentralen Grund, warum in der Gedenkstätte bislang an lesbische Frauen nicht als Opfer erinnert wird. Für die Marginalisierung von Lesbengeschichte führte sie weitere Beispiele an, u. a. die Förderung von "100 Jahre Homosexuellengeschichte", ein Projekt, bei dem später "100 Jahre Schwulengeschichte" herausgekommen sei. Gedenkpolitik und Geschichtswissenschaft seien von patriarchalischen Strukturen geprägt, so dass lesbische Frauen im Unterschied zu schwulen Männern einer doppelte Diskriminierung ausgesetzt seien: als Lesben und als Frauen. Als ein positives "Gegen"–Beispiel stellte sie den ersten Gedenkort für eine im Nationalsozialismus verfolgte lesbisch lebende Frau vor, den Hilde Radusch GEDENK–Ort in Berlin.

In der Diskussion wurde nach den konkreten Akteur*innen der Verhinderung der Gedenkkugel in Ravensbrück gefragt. Weitere Diskussionsbeiträge hoben hervor, dass die Unterschiede des Umgangs des NS–Staates zwischen homosexuellen Frauen und Männern nicht nivelliert werden und lesbische NS–Opfer durch biographische Forschung ein Gesicht und einen Namen erhalten sollten. Der Vorwurf des Lesbisch–Seins sollte für biographische Forschung ausreichen. Zwischen lesbischen und schwulen NS–Opfern solle keine Konkurrenz "aufgemacht" werden. Schwule Männer sollten Verständnis haben für die Empörung lesbischer Frauen, wenn diese mit ihren Anliegen in der Erinnerungsarbeit und bei der Forschungsförderung übergangen würden. Bei verschiedenen Projekten und in manchen Regionen wie z. B. in Rheinland–Pfalz gelänge zunehmend ein solidarischer schwul–lesbischer Austausch und gegenseitige Unterstützung.

Nach der Mittagspause begrüßte Angela Jäger (Mannheim) für das Netzwerk LSBTTIQ Baden–Württemberg die Gäste. Das Netzwerk unterstütze diese Fachtagung und möchte von der Geschichtsarbeit zugleich profitieren, indem – so Jäger – "Ihr uns unsere Geschichte gebt". Das Netzwerk begrüße es, dass das Land Baden–Württemberg an der Universität Stuttgart die Erforschung der Verfolgungsgeschichte homosexueller Männer in den letzten Jahren fördere und es setze sich darüber hinaus für eine bessere Finanzierung der Forschung zu lesbischen und bisexuellen Frauen sowie transsexuellen Menschen ein. Jäger moderierte die weiteren Vorträge und Diskussionen.

Foto 4

Der Vortrag "Die Homophilenbewegung im deutschen Südwesten als Akteur der Anerkennung" von Dr. Julia Noah Munier (München) bezog sich überwiegend auf die Adenauer–Ära (1949 bis 1963). Trotz und aufgrund der Verfolgung nach §175 StGB bildeten sich im Verborgenen homosexuelle Freundeskreise und eine international vernetzte homophile Bewegung, die erfolgreich zur Liberalisierung des §175 beigetragen hätten. Dabei hätten die beteiligten Männer auch herrschenden Vorstellungen wie die Ablehnung der Promiskuität und der Prostitution vertreten, wenn beispielsweise "MM aus Stuttgart" in der Züricher Zeitschrift "Der Kreis" 1952 geschrieben habe: "Es ist nicht wahr, daß der Homosexuelle notwendig das Opfer der Justiz werden müsste. Er wird es immer wieder, weil er eine inhumane Form der Beziehung pflegt. Weil er auf die Straße geht, sich mit Prostituierten abgibt, weil er überhaupt nicht nach den sittlichen Qualitäten eines Menschen fragt, sondern nur dessen Leib will." Munier arbeitete die Bedeutung der Gemeinschaft für die eigene Anerkennung als homophiler Mensch heraus. Sie hob Erinnerungen an Tanzveranstaltungen in Stuttgart und Freiburg sowie an die Feste des Züricher "Der Kreis" mit zeitweise über 600 Personen als etwas "Ersehntes und Außergewöhnliches" hervor. Sie erwähnte verschiedene Einzelpersonen und Gruppen in Baden–Württemberg, die sowohl gemeinsame Freizeitaktivitäten organisierten als auch vorsichtige politische Aktivitäten zur Entkriminalisierung der Homosexualität entwickelten. Beispielhaft seien hier genannt: Toni Simon, der/die ab 1950 eine Eingabe zur Abschaffung des §175 StGB an Bundesjustizminister Dehler initiierte; der Autor Harry Wilde, der in seinem Buch "Das Schicksal der Verfemten" 1969 an den Gesetzgeber appellierte, "jeder Diskriminierung von Minderheiten ein Ende zu setzen und damit einem neuen Verständnis des «homosexuellen» Nächsten den Weg zu ebnen." Die Finanzierung des Versands des Buches an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestags wurde von der Reutlinger Kameradschaft "Die Runde" unterstützt. Für das erhaltene Exemplar bedankte sich Bundesjustizminister Heinemann persönlich beim Tübinger Verleger.

In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass wir auch im Südwesten stolz sein können auf mehrere Einzelpersonen und Gruppen, die sich erfolgreich am Kampf zur 1969 erzielten Reform des §175 StGB beteiligt hatten. Mit Bezugnahme auf Menschenrechte und Minderheitenrechte ist ihnen eine überzeugende und nachhaltige Argumentation für die Anerkennung homosexueller Menschen gelungen. Weitere Forschungen bei damals beteiligten Personen wären wünschenswert, wie z. B. zu Ernst–Walter Hanack (damals Heidelberg) und in den Nachlässen der Stuttgarter FDP–Rechtspolitikerin Emmy Diemer–Nicolaus oder des Tübinger Strafrechtsprofessors Jürgen Baumann.

Foto 5

Die Historikerin Cynthia Sadler (Mannheim) zeigte in ihrem Vortrag "Eine Annäherung an Formen weiblichen gleichgeschlechtlichen Begehrens: Paris – Wien im 18. Jahrhundert" anhand von zwei Beispielen auf, dass einzelnen Frauen liebenden Frauen trotz Jahrtausend alter patriarchalischer Strukturen und Gewohnheiten schon damals eine eigene Sexualität möglich war.

Zunächst befasste sich Sadler mit Briefen einer Hochadligen an ihre Schwägerin. Darin habe es sowohl die zeitüblich romantischen, als auch sexualisierte "Briefküsse" gegeben wie z. B.: "Ich küsse dein ertzenglisches Arscherl" "Ich küsse Ihren verehrungswürdigen Arsch in meinem Anbieten". Als zweites Beispiel ging sie auf die in Paris offen homosexuell lebende Schauspielerin Françoise Marie Antoinette Saucerotte (1756–1815) ein. Die erstmals 1784 erschienene Schmähschrift "Apologie de la secte Anandryne" habe vorgeblich den Abdruck einer von Saucerotte gehaltenen Rede über einen lesbisch–erotischen Geheimbund dargestellt. Ausgeführt werde darin, dass das wahre Glück die Liebe zwischen Frauen sei. Masturbation werde als etwas Gutes bezeichnet. Bemerkenswerterweise werde Frauen liebenden Frauen in dieser Schmähschrift bei den geschilderten Orgien eine eigene natürliche Lust und Sexualität zugeschrieben. Jedoch würden weibliche, gleichgeschlechtliche Vergnügungen letztlich dann doch nur als Vorgeschmack dargestellt, um Frauen auf das angeblich größere Vergnügen der heterosexuellen Penetration vorzubereiten. Es zeige sich hier der bis heute immer noch tradierte Diskurs, dass Sex zwischen Frauen kein "richtiger Sex" sei. Lesbischer Sex werde als erotisches Moment für den Mann dargestellt, was auch in der heutigen Massenpornographie des Internets ein gängiges Schema sei.

In der Diskussion wurde auf die Problematik der Benennung von Frauenfreundschaften als lesbisch eingegangen. Zum einen habe es im 18. Jahrhundert den Begriff "lesbisch" als Identität noch gar nicht gegeben. Zum anderen gebe es auch im 20. Jahrhundert noch viele Frauen, die sich selbst nicht als lesbisch bezeichneten, was ein Problem für die heutige Geschichtsschreibung darstelle. Es wurde auf die Besonderheit des österreichischen Strafrechts eingegangen, welches bis 1971 geschlechtsneutral gewesen sei. Trotzdem sei die Verfolgungsintensität bei gleichgeschlechtlichen Handlungen von Frauen in Österreich wesentlich geringer gewesen als die bei Männern.

Foto 6

Artur Reinhard (Tübingen) zeigte in seinem Vortrag "Der Fall eines Tübinger Studenten, der in den 1950er Jahren wegen zwei §175–StGB–Verstößen von der Universität verwiesen wurde" an einem konkreten Beispiel der Nachkriegszeit die verhängnisvolle Rolle der Universität Tübingen auf.

Unabhängig von der Justiz waren akademische Strafen bei Verstößen gegen die akademische Ordnung möglich, welche vom einfachen Verweis bis zur Wegweisung von der Universität reichten (zeitlich begrenzt oder für immer; ggf. mit Ausschluss vom Hochschulstudium in Deutschland generell bei nicht näher definierten "ehrlosen Handlungen").

Im Beispiel ging es um einen Mann, der nach mehrmaligen Versuchen, heterosexuell zu leben, körperliche Beschwerden entwickelt und sich nach Krankenhausaufenthalten in psychotherapeutische Behandlung in Tübingen begeben habe. Die homosexuelle Veranlagung treibe ihn unweigerlich dem Suizid zu, so ein ihn behandelnder Arzt. Trotzdem habe der Ende 20–Jährige das Studium der Volkswirtschaft beginnen können. Obwohl er den Eindruck gehabt habe, dass infolge der Psychotherapie seine homosexuellen Neigungen beseitigt seien, sei es erneut zu homosexuellen Handlungen gekommen. Diese hätten zu zwei Verurteilungen geführt, letztere zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe.

Das Amtsgericht habe die Universität Tübingen informiert und der Universitätsrat habe die Strafakten mit einem 38–seitigen psychotherapeutischen Bericht erhalten. Ohne den Studenten anzuhören, werde in der Beschlussvorlage ausgeführt: die strafbaren Handlungen "sind zweifellos ein sehr schwerer Verstoß gegen die akademische Sitte. Eine disziplinarische Ahndung ist erforderlich. Die Strafmilderungsgründe sind gering, die Strafschärfungsgründe überwiegen." Es sei die Wegweisung von der Universität, ggf. beschränkt auf ein Jahr, empfohlen worden. Der Rektor habe den Studenten sofort einstweilig von der Universität ausgeschlossen.

In der Diskussion wurde betont, dass während der NS–Diktatur mehrere Universitäten die Aberkennung von Titeln als akademische Strafe bei homosexuellen Fällen angewandt hätten. Entsprechend den nach 1945 weitergeltenden NS–Verfahrensregeln seien Strafverfahrensinformationen von der Justiz direkt an den Arbeitgeber bzw. an die Universität weitergeleitet worden. Bis 1970 seien zur Universität Tübingen sieben §175–Fälle gegen Studierende bekannt, fünf Fälle hätten sich hier zwischen 1949 und 1962 ereignet.

Foto 7

Bei der Abschlussdiskussion "Erfolge – Defizite – Perspektiven in der Aufarbeitung und Darstellung der vielfältigen LSBTTIQ–Geschichte. Resümee und Erfahrungsaustausch aller Tagungsteilnehmenden" ging es vorrangig um die Problematik eines angemessenen Umgangs mit den heutigen Begriffen LSBTTIQ bei der Geschichtsforschung und um das Verhältnis der Bewegungsforschung zur institutionalisierten Forschung sowie um ihre schulische sowie außerschulische Vermittlung.

Die große heteronormative Erzählung mit Regenbogenfarben zu "bequeeren" erfordere, dass die Wissensbestände sowie die Ergebnisse historischer Forschung von Bewegungsaktivist*innen ohne hierarchisches Gefälle in universitäre Forschung einflößen. Zu Anfang des Stuttgarter Universitätsprojektes zur LSBTTIQ–Geschichte [7] habe es eine besondere Situation gegeben. Es sei der Eindruck entstanden, dass die Universität durchaus Interesse an der bisher geleisteten historischen Forschung und an einer Zusammenarbeit habe. Die Kommunikation sei jedoch abgebrochen und es bestehe keine angemessene Transparenz über die weitere Entwicklung des Universitätsprojekts. Insbesondere sei unklar, wie die institutionalisierte Forschung den Anspruch realisieren möchte, neben schwuler auch die Geschichte lesbischer und bisexueller Frauen und geschlechtlicher Minderheiten aufzuarbeiten. Die Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung sei aus Täterperspektive in der NS–Zeit ein Verfolgungsbereich gewesen, was eine gemeinsame Aufarbeitung nahelege. Die wegen Abtreibung ins KZ verbrachten Frauen seien bislang nicht rehabilitiert worden. Es wurde die Frage gestellt, ob und wo es eine gemeinsame Aufarbeitung gebe und falls dies noch nicht der Fall sei, wie diese gegebenenfalls entwickelt werden könne.

Es wurde von verschiedenen außeruniversitären Projekten der Vermittlung von LSBTTIQ–Geschichte berichtet, wie z. B. das Internetprojekt "Der Liebe wegen" (www.der–liebe–wegen.org), das aktuell ergänzt werde durch das Projekt "Der Liebe Wege" (www.derliebewege.de); die Wanderausstellung "Sie machen Geschichte – lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, queere Menschen in Baden–Württemberg"; das Projekt des Stadtarchivs Tübingen "Queer durch Tübingen – LSBTTIQ in Tübingen und Region vom Mittelalter bis heute", das 2021 in einer Ausstellung im Stadtmuseum mit großem Katalog münden werde. Es sollten weitere Möglichkeiten der Finanzierung im lokalen Bereich gefunden und realisiert werden.

LSBTTIQ–Geschichte sei bislang eine wenig konkret–verbindliche Leitperspektive im Bildungsplan für Baden–Württemberg. In den Schulen gebe es neue Fragestellungen, beispielsweise nach dem Umgang mit Trans–Kindern. Die LSBTTIQ–Emanzipation erfordere weitere Aktivitäten bis die Akzeptanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in den Schulen eine Selbstverständlichkeit sei, wobei die Geschichtsarbeit eine nach wie vor wichtige Rolle spiele.

Ralf Bogen (AG Vielfalt der Initiative Lern– und Gedenkort Hotel Silber) und
Eckhard Prinz (lesbisch–schwule Geschichtswerkstatt Rhein–Neckar)
Erstveröffentlichung auf www.der–liebe–wegen.org

Die AG Vielfalt der Initiative Lern– und Gedenkort Hotel Silber sowie die lesbisch–schwule Geschichtswerkstatt Rhein–Neckar sind Mitglied im überparteilichen und weltanschaulich nicht gebundenen Zusammenschluss von lesbischen–schwulen–bisexuellen–transsexuellen–transgender–intersexuellen und queeren Gruppen, Vereinen und Initiativen, dem Netzwerk LSBTTIQ Baden–Württemberg (www.netzwerk–lsbttiq.net).

---------------------------------------------------------

 

[1] LSBTTIQ steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Menschen.

[2] Alle hier verwendeten Fotos wurden uns von Dietmar Wagner zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, wofür sich die Autoren herzlich bei ihm bedanken.

[3] Weitere Informationen zur Initiative Lern– und Gedenkort Hotel Silber siehe www.hotel–silber.de, zum Erinnerungsort Hotel Silber siehe www.geschichtsort–hotel–silber.de sowie zur §175–Verfolgung ausgehend vom "Hotel Silber" siehe www.der–liebe–wegen.org. Erstmals wird in Baden–Württemberg in einem Erinnerungsort in der Dauerausstellung im Hotel Silber das §175–Unrecht sowohl während der NS–Zeit als auch in der Nachkriegszeit angemessen dargestellt und – wenn auch nur kurz – das Leid lesbischer Frauen und geschlechtlicher Minderheiten thematisiert und damit sichtbar.

[4] Website des Fachverband Homosexualität und Geschichte siehe www.invertito.de.

[5] Hier sei insbesondere die Weissenburg, LSBTTIQ–Zentrum Stuttgart, erwähnt. Vereinsmitarbeitende halfen nicht nur beim Catering, sondern boten auch Abendessen für die Tagungsteilnehmenden an und richteten die Abendveranstaltung zum Thema "Neue Wege zur Sichtbarkeit der vielfältigen LSBTTIQ–Geschichte" mit Philine Pastenaci, Sissy that Talk und Sven Tröndle in der Weissenburg aus.

[6] CIS–Männer sind Männer, deren augenscheinliches Geschlecht aufgrund ihrer äußeren Genitalien zum Zeitpunkt ihrer Geburt und eines entsprechenden Geschlechtseintrags im Geburtsregister mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt.

[7] Informationen zum universitären Projekt siehe www.lsbttiq–bw.de.




Zum Seitenanfang
 

Zur Haupt-Seite "Jahrestagung"