Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Liebe Leserinnen und Leser,

bei allen Fortschritten im Kampf um die Gleichberechtigung und Emanzipation und trotz des zunehmenden Empowerments der LSBTTIQ–Community in inzwischen erfreulich vielen Ländern bleibt ihre Geschichte in vielen Bereichen eine Geschichte der Unterdrückung und Verfolgung. Davon zeugen auch viele der in den letzten gut 20 Jahren veröffentlichten Beiträge in Invertito – und bei weitem nicht nur diejenigen, welche die nationalsozialistische Terrorherrschaft beleuchten. Hinter der geschichtswissenschaftlichen, sich im Wesentlichen auf schriftliche Quellen stützenden Aufarbeitung der sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen gleichgeschlechtlicher Lebenswelten sowie der konkreten Unterdrückungs– und Verfolgungsmechanismen steht als Matrix das, wenn auch oft nur schemenhaft fassbare, individuelle Schicksal. Für die jüngere Geschichte der Homo– und anderer nicht heteronormativer Sexualitäten kommt daher der ZeugInnenschaft eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Kontext steht auch das 2012 von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld initiierte Projekt "Archiv der anderen Erinnerungen", das zum Ziel hat, wenn auch nicht primär als historische Dokumentation, sondern als Sammlung konkreter Erfahrungen und persönlicher Sichtweisen von LSBTTIQ rund um die Fragen nach sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität, lebensgeschichtliche Videozeugnisse zu sammeln, zu erschließen und einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Daniel Baranowski, der das Projekt zusammen mit einem Team von freien MitarbeiterInnen seit 2015 leitet, setzt sich in seinem Beitrag mit den methodischen Voraussetzungen und den sich daraus ergebenden Folgerungen für die konkrete Arbeit mit den gesammelten Lebensgeschichten auseinander. Im Zentrum seines "Werkstattberichtes" steht die Auseinandersetzung mit dem im Kontext der Shoah problematisierten Begriff der "ZeugInnenschaft". Dabei plädiert er dafür, die im Rahmen des Projektes gesammelten lebensgeschichtlichen Zeugnisse nicht im objektivierenden Sinne als "Beweise" oder "Informationen" vergangener Zustände, sondern explizit als Narrationen im Sinne von abstrakten Beschreibungen, Schilderungen von Ereignissen, aber auch subjektiven Wahrnehmungen, Gefühlen, Bewertungen, Leidenschaften, Begehren usw. zu verstehen. Dies verringert keineswegs den Stellenwert der Zeugnisse, sondern verschiebt den Fokus des "Wahrhaftigen" und "Authentischen" weg vom Vergangenen auf den Moment des Erzählens des Vergangenen. Es entlastet damit die "ZeugInnen" vom Anspruch, Beweise, Gewissheiten und gültige Wahrheiten liefern zu müssen, ermächtigt sie, unabhängig von Erwartungen ihre Geschichte(n) zu erzählen, und eröffnet so den Raum auch für "andere Erinnerungen".

Für das vorliegende Jahrbuch war von der Redaktion zwar kein Schwerpunktthema gewählt, wohl nicht zuletzt der Umstand, dass das jährliche Treffen des FHG 2019 in Stuttgart stattfand, führte jedoch dazu, dass die meisten der eingereichten Beiträge Aspekte der LSBTTIQ–Geschichte Baden–Württembergs beleuchten. Im Auftaktbeitrag macht sich Joachim Brüser, angestoßen durch ein Erinnerungsprojekt für Opfer der NationalsozialistInnen in Kirchheim unter Teck, in einer aufwendigen Archivrecherche auf die Suche nach homosexuellen Männern, die in dieser unweit Stuttgarts gelegenen Mittelstadt während der NS–Herrschaft, aber auch in der Nachkriegszeit wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verurteilt wurden. Nicht zuletzt aufgrund der teils schlechten Überlieferung ist er lediglich auf zwei Fälle gestoßen. Ein weiterer Fall ist nur durch die Erinnerung von NachbarInnen und Familienangehörigen bekannt. Joachim Brüsers Beitrag zeigt nicht nur eindrücklich die Schwierigkeiten bei der Recherche auf, sondern bietet auch einen Einblick in Aufarbeitung der und Gedenken an die Homosexuellenverfolgung abseits der großen Zentren in der sogenannten "Provinz".

Die Frage nach der Verfolgung resp. der Form der Verfolgung lesbischer Frauen während der nationalsozialistischen Herrschaft führt immer wieder zu teils heftigen Diskussionen zwischen HistorikerInnen, die zum Thema forschen. Eine gängige These lautet dabei, dass lesbische Frauen mit dem Vorwurf der "Asozialität" vermehrt psychiatrisiert worden seien, allerdings ohne dass diese Behauptung mit einschlägigen Studien verifiziert werden konnte. Im Rahmen eines vom Landesnetzwerk LSBTTIQ Baden–Württemberg initiierten, für die Bundesrepublik singulären Projektes, sichtet nun Claudia Weinschenk in den Landesteilen Baden und Württemberg die Akten dreier Jahrgänge jeweils einer Universitätspsychiatrie und einer Heil– und Pflegeanstalt nach Hinweisen auf Patientinnen, die aufgrund gleichgeschlechtlicher Handlungen in die Anstalten eingewiesen wurden sind. Im vorliegenden Werkstattbericht präsentiert sie unter Berücksichtigung der komplexen methodischen Fragestellungen und Probleme nun erste Ergebnisse aus der Recherche im Archiv der Universitätspsychiatrie Heidelberg. Zwar ist sie bei ihren Forschungen lediglich auf vier Fälle gestoßen, bei denen lesbische oder möglicherweise lesbische Handlungen offen angesprochen wurden. Sie vermag aber aufzuzeigen, dass bei einer größeren Zahl von Frauen, die während des untersuchten Zeitraums in die Universitätspsychiatrie eingewiesen wurden, gleichgeschlechtliche Handlungen — wenn in den Akten auch nicht direkt benannt — eine Rolle gespielt haben könnten.

Julia Noah Munier geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung der sich in der Nachkriegszeit bildenden sogenannten Homophilenbewegung als Akteurin im Anerkennungsprozess gleichgeschlechtlicher Lebensweisen zukommt. Dabei wird diese nicht als homogenes Ganzes, sondern als "performative Assemblage" von unterschiedlichsten Diskursen, Affekten, Praktiken und Artefakten verstanden. In ihrer Analyse, die sich methodisch wesentlich auf soziologische Theorien stützt, unterscheidet sie unter Beiziehung einzelner schriftlicher Quellen verschiedene Phasen der Herausbildung der Homophilenbewegung: von der Grundvoraussetzung einer homophilen Subjektivierung durch die individuelle wechselseitige Anerkennung über die am Beispiel von Tanzveranstaltungen gesellschaftlich verortete Entstehung von Mikrokollektiven und die Herausbildung einer anerkennungsfähigen homophilen Identität bis hin zum Entstehen größerer Netzwerke, die schließlich mit einer Strategie der "stillen Diplomatie" die erfolgreiche Basis für eine Entkriminalisierung einvernehmlicher homosexueller Handlungen Ende der 1960er Jahre bildete.

Auch der letzte Schwerpunktbeitrag ist zeitlich in der Nachkriegszeit angesiedelt. Artur Reinhard beleuchtet anhand der Auswertung von Straf– und Disziplinarakten den Fall eines Tübinger Studenten, der wegen Verstoßes gegen den § 175 zweimal verhaftet wurde. Neben dem biographischen Hintergrund — der Student war u. a. mehrere Monate in psychiatrischen Kliniken — legt Reinhard einen besonderen Fokus auf die Verteidigungsstrategien der Angeklagten, die mit ihren Aussagen zu verhindern suchten, dass sie vor Gericht als "veranlagte" und damit nicht "heilbare" Homosexuelle eingestuft wurden, um so die Chancen auf ein mildes Urteil zu erhöhen. Das Strafverfahren hatte für den Studenten aber auch direkte Auswirkungen auf seine akademische Laufbahn, denn die Universitätsleitung wurde vom Strafgericht über das Strafverfahren informiert. Als Folge davon eröffnete sie selbst ein Disziplinarverfahren, da sie sein Verhalten als schweren Verstoß gegen die akademische Sitte bewertete. Sie agiert damit in einer Weise, wie sie in dieser Zeit auch an anderen Universitäten üblich war.

Abgeschlossen wird das Jahrbuch wie immer durch eine Reihe von Rezensionen wichtigen Neuerscheinungen zur Geschichte der Homosexualitäten quer durch die Jahrhunderte. Für das nächste Jahrbuch ist kein Schwerpunktthema geplant. Invertito nimmt daher gerne Beiträge und Berichte aus verschiedensten Themenfeldern entgegen.

Die Redaktion




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