Alexander Zinn:
"Aus dem Volkskörper entfernt"?

Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus,
Frankfurt a. M. / New York 2018: Campus, 695 S., € 39,95
 

sorry, no cover

 

Rezension von Klaus Sator, Berlin

Erschienen in Invertito 20 (2018)

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die Dissertation des Soziologen und Historikers Alexander Zinn, der bereits mit zwei größeren eigenständigen Veröffentlichungen zum Thema Homosexuelle und Nationalsozialismus in Erscheinung getreten ist. In seiner 1997 unter dem Titel Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten publizierten Diplomarbeit hat er sich mit der Sexualdenunziation als Kampfmittel der politischen Gegner des Nationalsozialismus beschäftigt. Mit dem 2011 erschienenen Buch Das Glück kam immer zu mir hat er eine Biographie zu Rudolf Brazda vorgelegt, dem letzten überlebenden homosexuellen Rosa–Winkel–Häftling eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers.

Die hier zu besprechende Arbeit ist eine Fortsetzung und Vertiefung der Erkenntnisse, die Zinn im Rahmen seiner Recherchen zu dem im thüringischen Meuselwitz lebenden Sohn tschechischer Einwanderer und seinem Freundeskreis gewonnen hat. Von diesen geleitet, stellt Zinn die Frage nach den Auswirkungen der nationalsozialistischen Diktatur auf den Alltag und die Lebensbedingungen homosexueller Männer und deren Verfolgung neu.

Seine Studie versteht sich als Beitrag zur Überwindung einer von ihm konstatierten Beschränkung der bisherigen Forschung auf das Schicksal der Verfolgten. Neben der Verfolgung gilt sein Interesse ihrem Selbstverständnis, ihrem Alltag und ihrer Lebensgestaltung, ihren Handlungsspielräumen sowie ihrer Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung und zum nationalsozialistischen Staat. Bei der Beschäftigung mit ihrer Verfolgung stehen deren Ursachen, Motive und Ziele sowie insbesondere die Umsetzung der auf Reichsebene erfolgten zentralen Vorgaben durch Gestapo, Kripo, Staatsanwaltschaften und Gerichte vor Ort im Mittelpunkt.

Nach der Einführung ins Thema und der Darlegung seines Erkenntnisinteresses sowie der herangezogenen Quellen (S. 9 – 57) untersucht Zinn den Alltag homosexueller Männer in den dreißiger Jahren (S. 79 – 242). Danach beschäftigt er sich in jeweils eigenen Kapiteln mit ihrer Verfolgung auf Reichsebene (S. 243 – 342), in Thüringen (S. 343 – 410) und im Altenburger Land (S. 411 – 499). Ausführungen zur Lage der Homosexuellen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (S. 58 – 78) sowie in der Bundesrepublik und in der DDR (S. 500 – 531) sind dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand voran– bzw. hintangestellt. In seinen Schlussbetrachtungen (S. 532 – 545) werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und mit dem bisherigen Forschungsstand konfrontiert. Ein Anhang enthält zahlreiche Tabellen mit statistischem Material zu Sozialstruktur und Verfolgung.

In den Ausführungen zu den einzelnen Kapiteln wird diese Gliederung jedoch nicht durchgehalten. Im Abschnitt zu Thüringen nehmen die Verfolgungen homosexueller Männer im Altenburger Land bereits einen zentralen Raum ein. Dadurch kommt es zu zahlreichen Wiederholungen. Ein von Zinn als Beleg für die positive Wahrnehmung des "Dritten Reichs" angeführtes Zitat aus einer Anfang der achtziger Jahre durchgeführten Befragung homosexueller Männer, in dem die Zeit während des Zweiten Weltkriegs bei der Wehrmacht rückblickend als die schönste Zeit ihres Lebens erscheint, wird z. B. an fünf Stellen präsentiert: in der Einleitung (S. 15), bei der Zusammenfassung seiner Erkenntnisse zur homosexuellen Alltagsgestaltung (S. 237) und in den Kapiteln zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung auf Reichsebene (S. 328), in Thüringen (S. 390) und im Altenburger Land (S. 487).

Zur Analyse der Lebensgestaltung homosexueller Männer im Nationalsozialismus zieht Zinn den von dem kanadischen Soziologen Erving Goffman Anfang der sechziger Jahre begründeten Stigma–Begriff heran. Für die Untersuchung ihrer Verfolgung greift er auf die von dem Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel während des Zweiten Weltkriegs 1941 im US–amerikanischen Exil veröffentlichte grundlegende Studie zum nationalsozialistischen Doppelstaat zurück.

Während er bei den Ausführungen zur Lage im Deutschen Reich vor allen Dingen Erkenntnisse aus früheren Forschungsbeiträgen referiert, ergänzt und problematisiert, stammen seine Darlegungen zur Lage in Thüringen aus eigenen Forschungen. In den hierzu präsentierten Ergebnissen nimmt das Altenburger Land den größten Raum ein. Die Untersuchung der persönlichen Lebensgestaltung und der Handlungsspielräume homosexueller Männer bleibt im Wesentlichen darauf beschränkt. Die Beschäftigung mit der Verfolgung homosexueller Männer umfasst das gesamte Land Thüringen.

Bei der Untersuchung der Hintergründe ihrer Verfolgung widmet Zinn sich zunächst deren ideologischen Grundlagen. Wie andere bereits vor ihm zeigt er auf, dass Homosexualität innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung zunächst kein Thema war und es hierzu innerhalb der NSDAP keine einheitliche Haltung gab. Er präsentiert Stimmen homosexueller Parteimitglieder, die sich von der nationalsozialistischen Regierung die Abschaffung der Strafverfolgung gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte zwischen Männern erhofften und der Verfolgung Homosexueller ablehnend gegenüberstanden. Hinsichtlich der Gewichtung der unterschiedlichen Positionen gelangt Zinn zu der Auffassung, dass die im Gefolge der im Sommer 1934 erfolgten Ausschaltung der SA und ihres homosexuellen Führers Ernst Röhm sich innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung durchsetzende feindselige Haltung weniger aus einer sittlich–moralischen Ablehnung gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte resultierte, sondern aus der "ideologischen Aufblähung der Homosexualität zu einer Staatsgefahr" (S. 267).

Im Ergebnis der Untersuchungen zu Thüringen gelangt Zinn zu der Erkenntnis, dass das dortige Erstarken der Nationalsozialisten sowie die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur die Lebensbedingungen Homosexueller zunächst kaum beeinträchtigt hat. Für das Altenburger Land kann er aufzeigen, dass es auch unter nationalsozialistischen Regierungen noch relativ große Freiräume gab. Zinn gelangt zu der Erkenntnis, dass der Umgang mit der eigenen Homosexualität stark vom Herkunftsmilieu bestimmt war und die soziale Schichtung eine nicht zu unterschätzende Rolle sowohl bei der Verfolgung Homosexueller als auch für ihre Verteidigungsmöglichkeiten im Rahmen von gegen sie eingeleiteten Ermittlungsverfahren gespielt hat. Im Hinblick auf die öffentliche Meinung gegenüber Homosexuellen vertritt er die These, dass diese weit weniger homophob war als bisher angenommen. Strafrechtliche Ermittlungen gegen Homosexuelle sind nach Zinns Erkenntnissen in Thüringen weniger durch Denunziationen aus der Mitte der Gesellschaft erfolgt. Sie waren weitaus häufiger Folge belastender Aussagen im Rahmen laufender Ermittlungsverfahren, die aufgrund politischer Vorgaben aus Berlin oder Ermittlungsersuchen auswärtiger Polizeidienststellen eingeleitet wurden.

Für Thüringen kann er aufzeigen, dass die Gleichschaltung der Justiz und die Umsetzung von an zentraler Stelle beschlossenen Maßnahmen zur Verfolgung Homosexueller mit beträchtlichen Schwierigkeiten verbunden war. Als Belege werden u. a. Kompetenzstreitigkeiten zwischen Kripo und Gestapo angeführt sowie die zentrale Bedeutung des individuellen Handelns der einzelnen mit der Überwachung und Verfolgung betrauten Personen. Als besonders verfolgte Gruppe benennt Zinn Homosexuelle aus höheren sozialen Schichten.

Obwohl der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Lage und der Strafverfolgung homosexueller Männer gilt, wirft Zinn an einigen Stellen seiner Arbeit auch die Frage nach einer strafrechtlichen Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus auf. Er bestreitet nicht, dass es Ermittlungsverfahren gegen Lesben gab, kommt bei den hierzu präsentierten Fällen jedoch zu der Auffassung, dass diese nur in Ausnahmefällen als Ausdruck einer Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Frauen angesehen werden könnten. In Zusammenhang mit der Verschärfung des § 175 legt Zinn dar, dass sich die unter nationalsozialistischen Juristen diskutierte Einbeziehung von Frauen nicht durchgesetzt hat und nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich die dort bestehende Strafverfolgung gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte zwischen Frauen im Rahmen der Angleichung an das deutsche Strafrecht perspektivisch abgeschafft werden sollte. Die Verfolgung von homosexuellen Frauen lässt sich auch nach Zinn weder von ihrem Umfang her noch im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Straftatbestände mit derjenigen homosexueller Männer vergleichen. In den überlieferten Registern der thüringischen Staatsanwaltschaften konnte er keinen Fall finden, in dem wegen gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte zwischen Frauen ermittelt wurde.

Mit seinem Beitrag hat Zinn den Blick auf die Spielräume homosexuellen Lebens während der nationalsozialistischen Diktatur erweitert, die Bedeutung regionaler Besonderheiten hervorgehoben und Anregungen für weiterführende Forschungen geliefert. Eine Schwäche der Arbeit ist, dass Zinn die in seiner Regionalstudie gewonnenen Erkenntnisse nicht nur zur Problematisierung bisheriger Forschungsergebnisse anführt, sondern diese in einem nicht unbeträchtlichen Umfang infrage stellt. Hierzu muss festgehalten werden, dass die von ihm im Rahmen seiner Mikrostudie gewonnenen Erkenntnisse sich vor allem auf das Altenburger Land mit einer Bevölkerung von lediglich rund 135.000 Personen (S. 79) beziehen. Auch wenn Zinn mit dem Hinweis auf eine erforderliche und notwendige Unterscheidung zwischen der Lage Homosexueller in der Großstadt und im ländlichen Raum einen wichtigen Aspekt zum Thema anspricht, gelten die von ihm gewonnenen Erkenntnisse nur für Thüringen und hier insbesondere das Altenburger Land. Sie lassen sich nicht ohne weiteres auf das Reich übertragen. Um zu einer vom Autor in seiner kritischen, nicht immer sachgerechten Auseinandersetzung mit den Verfassern und Verfasserinnen früherer Forschungsbeiträge geforderten differenzierteren Perspektive zu gelangen, sind weitere Regionalstudien unerlässlich. Für eine vergleichende historische Bewertung der Verfolgung homosexueller Männer und Frauen sollten zukünftige Forschungsbeiträge noch mehr auf die unterschiedliche Haltung gegenüber Männern und Frauen und ihrer Sexualität im Deutschen Reich abstellen.

Der Umfang der Arbeit hätte sich durch das Vermeiden der zahlreichen Wiederholungen um einiges verringern, ihre Lesbarkeit erhöhen und ihr potentieller Leserkreis erweitern lassen. Ein Namensregister hätte ihren Wert als Nachschlagewerk erhöht, z. B. auch im Hinblick auf die im Anhang präsentierten, aber nicht näher erläuterten Zusammenstellungen zu homosexuellen Häftlingen in Straf– und Konzentrationslagern und Todesfällen im Zuge ihrer Verfolgung.