Homosexualitäten revisited

Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 29 (2018), Heft 2,
Innsbruck: StudienVerlag, 176 S., € 32
 

sorry, no cover

 

Rezension von Hans–Peter Weingand, Graz

Erschienen in Invertito 20 (2018)

Den letzten Heftschwerpunkt "Homosexualitäten" gab es in der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft im Heft 3/1998. Seither ist einiges geschehen. Das editorial: homosexualitäten: revisited der Herausgeber*innen Elisa Heinrich und Johann Karl Kirchknopf ist deshalb nicht nur Inhaltsangabe, sondern auch eine kurze Forschungsgeschichte der letzten 20 Jahre.

In Zeiten, in denen es scheinen möchte, als wolle "queer" das Ende der Geschichte der Homosexualitäten als einer Sonderform einläuten, macht Rüdiger Lautmann bewusst, dass Homosexualität und Homophobie eine Geschichte haben. Die Frage der Herausgeber*innen des Heftes — "Ist Homosexualität angesichts sich zunehmend diversifizierender Sexualitätskonzepte denn überhaupt noch eine brauchbare epistemische Kategorie?" — beantwortet er dahingehend, dass "von den Zehner– bis in die Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts" das Wort in wissenschaftlichen, behördlichen und massenmedialen Diskursen war und in dieser Zeit die Unterdrückung der damit Bezeichneten signalisierte. Lautmann sieht ab ca. 1850 den Beginn von etwas historisch Neuem: einen Übergang von relativer Unauffälligkeit zu kämpferischen Auseinandersetzungen, eine Wechselwirkung zwischen dem Erwachen "des homosexuellen Komplexes" und der eliminatorischen Abwehr desselben — ermöglicht von der christlichen Grundierung der Sexualmoral und der scharfen Unterscheidung zwischen "Homo"– und "Heterosexualität". Lautmann analysiert die Homosexualität und das "Exportprodukt" Homophobie als Trajekt der westlichen Spätmoderne und übernimmt einen Begriff aus der Biographieforschung, der für eine zeitlich gegliederte und inhaltlich verkettete Abfolge von Ereignissen und Zustandsänderungen steht, gestaltet von soziokulturellen Vorhaben, individuellen Handlungen und subjektiven Erfahrungen. In dem Wechselspiel von Verfolgung und Widerstand macht Lautmann deutlich, dass weder die stigmatisierende Homophobie noch die Emanzipation von LSBT*I–Menschen "unausweichliche Geschichtsverläufe" sind — weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft.

Unter dem Titel Queere Zärtlichkeit, internationale Assemblagen und Transfeminismus für Historiker*innen: (Post–)queere Diskurse revisited diskutiert Hanna Hacker verschiedene theoretische und methodologische turns innerhalb queerer Theorieproduktion der letzten 20 Jahre. Es geht um die Reflexion der für "queer" charakteristischen Wechselwirkung zwischen Aktivismen, politischen Strategien und wissenschaftlichen Positionen. Schwerpunkte sind dabei unter dem Schlagwort temporal turn das Bewusstsein für den "Umgang homosexuell markierter Akteur*innen mit Konstruktionen ihrer Geschichte" oder der fiktionale Charakter klassischer schwuler und lesbischer Geschichtsnarrative, wie die Stonewall riots oder Homonationalismus und Geopolitik mit dem Hinweis, wie sehr historische Zäsuren wie "AIDS–Krise" und "9/11" mit Fokus auf die USA thematisiert werden. Hacker konstatiert, dass "queer" allmählich aufhört, als Überbegriff schlechthin für sich als nicht–normativ verstehende Akteur*innen und ihre Handlungszusammenhänge zu fungieren, und plädiert für ein kritisches trans*reading um "verschwiegene oder marginalisierte Trans*Präsenz in historischen (Kon–)Texten zu entziffern und ebenso, [um] kulturelle Narrative als Repräsentationen genuinen und notwendigen Scheiterns der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit zu deuten".

Der Verein QWIEN — Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte startete 2013 das Projekt "Namentliche Erfassung der homosexuellen und transgender Opfer des NS in Wien" mit einer Vollerhebung der erhaltenen Strafakten der Wiener Landgerichte I und II und des 1939 geschaffenen Sondergerichts. Die ca. 700 Strafakten lieferten Daten zu ca. 1400 männlichen und 79 weiblichen Beschuldigten bzw. Verurteilten. Das zweite Projekt erforschte die "Strafverfolgung homosexueller Handlungen durch die NS–Militärgerichtsbarkeit in Wien" mit etwa 100 Beschuldigten in ca. 90 Verfahren. Aus diesem Gesamtbestand wurde ein Sample von 434 Personen ausgewählt. Manuela Bauer, Andreas Brunner, Hannes Sulzenbacher und Christopher Treiblmayr nutzten es unter dem Titel ‘Warme’ vor Gericht zur Analyse von "Selbst– und Fremdbildern homosexueller Männer in der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich". Die Auswertung der männlichen Angeklagten nach Milieus liefert Ergebnisse, wie sie Christian Fleck und Philipp Korom in Auswertungen für ganz Österreich bzw. für die Steiermark gewonnen haben: Es gab 1938/39 eine deutliche Spitze bei der Verfolgung und bei den Angeklagten eine totale Überrepräsentanz von Männern aus der Unterschicht. Ein plausibler Erklärungsansatz dafür sind u. a. die Wohnverhältnisse: Als Untermieter mit Klo am Gang unter massiver sozialer Kontrolle waren die meisten Männer auf subkulturelle Treffpunkte wie Bäder, Bedürfnisanstalten oder Parks angewiesen, die von der Polizei leicht observiert werden konnten und auch observiert worden sind. Das Projekt setzt den zweiten Schwerpunkt in qualitativen Auswertungen des Quellenmaterials, auf die Suche nach Ego–Dokumenten, auf Eigen– und Fremdbezeichnungen, auf Selbstbilder — auf die Wirkmächtigkeit verschiedener sozialer Konstruktionen. Und durch die Wahl des Zeitraumes dient dies auch einer kritischen Hinterfragung des "komplexen und oft widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Homosexualität und Nationalsozialismus".

Mit den Aktenzitaten "Homosexueller Charakter" und der Schutz der übrigen Buben im Titel befasst sich Ines Friedmann mit Homosexualität und Heilpädagogik in Wien und Tirol im 20. Jahrhundert. Quellenbasis ist die Vollerhebung der Akten der "Heilpädagogischen Abteilung" in Wien bzw. eine Stichprobe von einem Drittel der Akten der Tiroler "Kinderbeobachtungsstation". Die Fallzahl erweist sich als sehr klein: Bei einer Gesamtpatient*innenzahl zwischen 150 und 200 z. B. in Wien wurde meist nur in ein, zwei, drei Fällen pro Jahr Homosexualität als Einlieferungsgrund oder Diagnose genannt. Bei der Interpretation ist somit Vorsicht geboten. Ines Friedmann analysiert auch die ebenfalls seltenen Thematisierungen in der heilpädagogischen Literatur. Die untersuchten Fälle der Spitalabteilungen sind im Kontext der allgemeinen "sexuellen Auffälligkeit" zu sehen. In beiden Institutionen wurde nicht davon ausgegangen, dass es sich bei gleichgeschlechtlichem Begehren von Minderjährigen um ein pathologisches und damit behandlungswürdiges Krankheitsbild handelte. Ungleich stärker als gleichgeschlechtliches Begehren fand die (versuchte) Verminderung gleichgeschlechtlicher Sexualhandlungen Berücksichtigung. Dies hängt auch mit der Positionierung der langjährigen Leitungspersonen zusammen, deren Pensionierung auch das Jahr des Endes des Untersuchungszeitraumes bildet: In Innsbruck war dies 1987 mit Maria Nowak–Vogl (1922 — 1998), in Wien 1977 mit Hans Asperger (1906 — 1980) der Fall.

Masha Neufeld und Katharina Wiedlack haben für Wir sind Conchita, nicht Russland, oder: Homonationalismus auf gut Österreichisch ein Textkorpus von 35 Beiträgen in Tageszeitungen und 54 Ausgaben von LGBT–Medien vom Juni 2013 bis zum Sommer 2014 untersucht. Die Zeitpunkte sind durch die Einführung des sogenannten Gesetzes gegen "Homosexuellen–Propaganda" in Russland und die Wochen nach dem Sieg von Conchita Wurst beim ESC markiert. Denn hier kam es zu den meisten österreichischen Berichten über Homosexualität und Homophobie in Russland, auch wegen der österreichweiten Solidaritätskampagne "To Russia With Love Austria" (TRWLA). Weiters wurde die Berichterstattung im Zuge des Publikwerdens massiver homophober Gewalt in der innerhalb Russlands autonomen Republik Tschetschenien ab April 2017 berücksichtigt. Die Autor*innen bauen auf queerer Forschung auf, die sich dem "Homonationalismus"–Modell von Jasbir Puar verpflichtet fühlt, weshalb das Ergebnis der "Diskursanalyse" nicht überrascht: Sie zeigen, "auf welche Weise gesellschaftliche Toleranz oder sogar die Inklusion Homosexueller zum positiven Wert, der als nationales Identifikationsmerkmal taugt, erhoben wird, während zugleich ein konstitutives ‚Anderes‘ abgewertet wird". Aktivistische Proteste und Solidaritätsaktionen wie TRWLA "verorten Russland außerhalb der europäischen Werte und verfestigen eine Dichotomie, die seitens österreichischer, aber auch russischer Medien und Machthabender instrumentalisiert wird". Die Behauptung, dass in der Berichterstattung über Russland "die öffentliche Homophobie österreichischer Politiker*innen und der Bevölkerung sowie die existierenden Mängel an staatlicher und nationaler Anerkennung von historischen und zeitgenössischen Opfern homophober Gewalt in Österreich in den jeweiligen Debatten nahezu vollständig ausgeblendet" würden, mag für einzelne Artikel der "Mainstream–Medien" zutreffen. Bei den untersuchten Ausgaben der LGBT–Medien darf dies bezweifelt werden, sind doch gerade diese österreichischen Themen regelmäßig im Fokus der Berichterstattung. In einer Fußnote ist zu erfahren, dass die beiden Autor*innen selbst Teil der russischsprachigen queeren Community Wiens sind; diese war bis vor Kurzem nicht in die Aktivitäten von TRWLA eingebunden, und ihre Interventionsversuche wurden ignoriert. Leider wurde verabsäumt zu erörtern, ob mit dem Homonationalismus–Konzept Solidaritätsaktionen überhaupt opportun sind bzw. welche Strategien hier denkbar wären. Denn derzeit würden "LGBTs als stumme Objekte und Projektionsfläche" erscheinen und Solidarität dabei ein Symbol bleiben: "Durch die Übernahme und Aneignung nationalistischer Rhetorik werden xenophobe und rassistische Politiken nicht nur akzeptiert, sondern oftmals sogar aktiv unterstützt."

Maria Bühner verwendet einen breiten Quellenbestand aus (publizierten) Rückblicken bzw. Interviews beteiligter Frauen und Dokumenten des DDR–Ministeriums für Staatssicherheit und rekonstruiert und analysiert unter dem Titel Die Kontinuität des Schweigens das Gedenken der Ost–Berliner Gruppe Lesben in der Kirche in Ravensbrück. Für eine Gruppe von Lesben, die sich (wie auch Schwulengruppen oder die Friedensbewegung) ab 1982/83 als "Arbeitskreis" in der Evangelischen Kirche in Ost–Berlin bilden konnte, wurde die offizielle Erinnerungskultur der DDR an die Opfer der NS–Herrschaft zum Anlass, sich mit dem Schicksal homosexueller Häftlinge zu befassen, ihrer an den KZ–Mahnmalen zu gedenken und speziell die Frage nach dem Umgang mit lesbischen Frauen zu stellen. Die Staatsmacht wollte diese Versuche, Homosexuelle angesichts des antifaschistischen Gründungsmythos des Staates als "Opfer des Faschismus" zu etablieren, auf jeden Fall verhindern. Kränze mit dem Ausdruck des Gedenkens an unsere "lesbischen Schwestern" oder entsprechende Eintragungen in das Besuchsbuch in der Gedenkstätte Ravensbrück wurden entfernt, elf Aktivist*innen 1984 sogar von 30 Polizisten festgehalten, da die Staatssicherheit der Ansicht war, die Gruppe würde bewusst Freiräume der Kirche nutzen, um Personen zu sammeln, wobei "eine Konfrontation mit Staat und Gesellschaft angestrebt" werde. Mit Anfragen und Eingaben engagierte sich die Gruppe weiter und setzte identitätspolitische Akte zur Manifestation lesbischer Vergangenheit. Diese dienten natürlich auch der Identitätsfindung der Aktivist*innen, wurde doch eine Kausalität und Parallelität zur marginalisierten gesellschaftlichen Situation von Lesben in der DDR in den 1980er Jahren hergestellt.

Ein schönes Beispiel für die "Ordnung des Diskurses" (Michel Foucault), deren Regeln von den Absender*innen von Eingaben an staatliche Stellen verstanden und berücksichtigt werden müssen, um am Diskurs teilzunehmen und diesen letztlich mitgestalten zu können, liefert Teresa Tammer: In engen Grenzen und über die Mauer. Selbstbilder und Selbstbehauptungsstrategien der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin (HIB) 1973–1980 analysiert die Art und Weise, mit der die Aktivist*innen einerseits den Institutionen der DDR und andererseits der westlich–kapitalistischen Community und deren Szenemedien gegenübertraten. Doch ging es nicht nur um Inszenierung: Die Gründer der Gruppe waren überzeugt, dass "homosexuelle Emanzipation […] Teil eines erfolgreichen Sozialismus" sei, und versuchten in den 1970er Jahren, auch im Kontakt und beflügelt durch die Bildung von Gruppen in westdeutschen Städten, die DDR–Organe zu dieser Sichtweise zu motivieren. Trotz der Loyalitätsbekundungen blieben die staatlichen Organe repressiv: Die Registrierung einer "Interessengemeinschaft" bzw. die Gründung eines Vereins wurden 1976 verwehrt. Die Sprache der HIB war immer kritischer geworden. 1980 wurden die Aktivitäten eingestellt, fanden jedoch ihre Fortsetzung in den 1980er Jahren in den kirchlichen "Arbeitskreisen Homosexualität", welche sich neben anderen Friedens– und Menschenrechtsgruppen noch mehr verdächtig machten, "Feinde" der DDR zu sein.