Frank Ahland (Hg.):
Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung.

Schwul–lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert,
Berlin: Vergangenheitsverlag 2016, 273 S., € 16,99
 

sorry, no cover

 

Rezension von Anja Wieber, Dortmund

Erschienen in Invertito 20 (2018)

2016 und 2018 thematisierten die Fernsehdreiteiler Ku'damm 56 und Ku'damm 59 anhand der fiktiven Geschichte der Familie Schöllack (Mutter und drei Töchter) die Doppelmoral der Adenauerzeit, die in der Serie u. a. durch die Figur eines gegen seine Neigungen ankämpfenden homosexuellen Schwiegersohns bzw. Ehemannes repräsentiert wird. Dieser unterzieht sich sogar freiwillig, aber vergeblich einer ärztlichen Behandlung mit Elektroschocks und nutzt, um seine Position als Staatsanwalt nicht zu gefährden, den Schutz einer bürgerlichen Ehe. Wenn schon die deutsche Populärkultur dieses Thema aufgreift, dann ließe sich vermuten, dass in Deutschland eine ausreichende und flächendeckende Erforschung schwul–lesbischer Geschichte im 20. Jahrhundert vorliegt. Das ist allerdings längst nicht der Fall, wie der Herausgeber des Sammelbandes Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Schwul–lesbische Lebenswelten an Ruhr und Emscher im 20. Jahrhundert, der Dortmunder Historiker Frank Ahland, und viele der BeiträgerInnen des Bandes verschiedentlich betonen. Hervorgegangen ist diese regionale Studie über die schwul–lesbischen Lebenswelten im Ruhrgebiet aus einer Tagung, die 2015 auf Initiative des Dortmunder Arbeitskreises Schwul–lesbische Geschichte und des Forums Geschichtskultur an Rhein und Emscher in der Mahn– und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund stattfand.

Der Band beginnt mit den üblichen Grußworten, die interessante Schlaglichter auf das Thema werfen (S. 9 – 19), wie etwa der Hinweis auf die Tatsache, dass in Dortmund 2016 bundesweit zum ersten Mal eine Straße nach einem aufgrund seiner Homosexualität ermordeten Mann, nämlich Otto Meinecke, benannt wurde (Manfred Sauer, Bürgermeister Dortmunds, S. 11; siehe auch S. 123). Es folgt ein konziser Überblick über die Beiträge von Frank Ahland und der Historikerin Susanne Abeck (S. 21 – 38), die die Forschungsdesiderate des Themenkomplexes bzw. Problemfelder (besonders bessere Vernetzung der im Ruhrgebiet verstreuten lokalen Initiativen, Quellenverluste und etwa die überfällige Untersuchung der Verfolgung lesbischer Frauen, schichtenspezifische Elemente homosexueller Identität) und die drei inhaltlichen Schwerpunkte des Bandes benennen: I. Entrechtung und Verfolgung der Homo­sexuellen in der NS–Zeit und den 1950er Jahren; II. Erinnern und Gedenken an deren Geschichte seit den späten 1990er Jahren; III. Stationen der Selbstbehauptung der Homosexuellen im 20. Jahrhundert.

Der Essener Historiker Wolfgang D. Berude (S. 43 – 62) schildert anschaulich, wie nach der Zwangsarisierung der städtischen Bühnen in Essen die Verfolgung der Kommunisten und Homosexuellen begann und der so genannte Theaterskandal 1936 durch Denunziation und das Unterdrucksetzen der Inhaftierten eine Art Hexenjagd in Gang setzte. Dass bereits am 2. Mai 1933 der damalige Homosexuellentreff in Essen, das Eldorado, geschlossen wurde und acht Tage später auf dem Platz vor diesem Lokal die Essener Bücherverbrennung stattfand (S. 43), hat einen höchst symbolischen Charakter und belegt die von Anfang an deutliche Unkultur des Nationalsozialismus sowie dessen Unrechtssystem. Im anschließenden Kapitel (S. 63 – 80) stellt Frank Ahland die Ergebnisse zur Verfolgung homosexueller Männer in der NS–Zeit vor, die er aus der Analyse der Haftbücher des Dortmunder Polizeigefängnisses Steinwache gewinnen konnte. Er zeigt dabei den Zusammenhang zwischen dem NS–Männlichkeitskult und der verschärften Verfolgung der Homosexualität auf, die u. a. angestoßen wurde durch Himmlers Aufforderung am 15. Januar 1937, dem "Tage der deutschen Polizei", rigide gegen die angeblich staatsfeindliche Homosexualität vorzugehen. Aufschlussreich sind in der heutigen Rückschau auch der Grad der Öffentlichkeit bei der Verfolgung der Homosexuellen und die Instrumentalisierung der Polizei für diese Zwecke. Einige Verfolgte stellt Ahland näher vor — u. a. auch das Schicksal Louis Schilds, der als der Homosexualität bezichtigter Jude doppelt stigmatisiert war. Wie Berude verweist Ahland auf die Rolle der Denunziation und belegt den immensen Druck auf die Opfer, durch den diese z. T. in den Selbstmord getrieben wurden. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, dass die wegen ihrer homosexuellen Orientierung verfolgten Männer in der bundesrepublikanischen Wahrnehmung lange Zeit Opfer zweiter Klasse waren und es außerdem noch für etliche Inhaftierte gilt, ihren Weg nach der Verhaftung weiterzuverfolgen (Haftentlassung oder Überweisung in ein KZ, Überleben oder Tod?). Der Weetzener Historiker Alexander Wäldner (S. 81 – 93) richtet seinen Blick auf die Täter in der Gestapo und Polizei und belegt eindrucksvoll die über 1945 hinausreichende Ungleichbehandlung: Während die Täter in den allermeisten Fällen beruflich aufstiegen und die Verfolgung auf der Grundlage des in der NS–Zeit verschärften und immer noch rechtsgültigen § 175 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches (Verbot der sexuellen Handlungen zwischen Männern, erst 1994 gestrichen) auch nach dem Krieg fortführten, erfuhren die Verfolgten weder Rehabilitierung noch Wiedergutmachung. Auch wurde bisher kein Vertreter der Justiz für die Verurteilungen zur Verantwortung gezogen. Im letzten Kapitel des 1. Teils (S. 95 – 105) stellt der Kölner Sozialpädagoge Michael Jähme das von der ARCUS–Stiftung finanzierte ZeitzeugInnen–Projekt zu homosexuellen, trans– und intersexuellen Lebenserfahrungen in der frühen BRD vor. Oral History bietet auf diesem Forschungsfeld eine Lösung für das Problem der Quellenvernichtung, die sich aus der fortdauernden strafrechtlichen Verfolgung ergab: Für die Beteiligten war das Aufheben von Fotos und Briefen zu gefährlich, weswegen nun die Interviews eine Lücke schließen.

Den Abschnitt über die Praxis des Gedenkens leitet der Bochumer Psychotherapeut Jürgen Wenke (Rosa Strippe, Beratungsstelle für Schwule und Lesben) ein, der sich für die Erinnerung an homosexuelle Männer als Opfer des Nationalsozialismus im Rahmen des von dem Künstler Gunter Demnig initiierten Stolpersteinprojekts einsetzt (S. 109 – 124). Auf Wenkes Initiative gehen ruhrgebiets– und bundesweit eine stetig wachsende Anzahl von Stolpersteinen und diese flankierenden biographischen Portraits, aber auch entsprechende Gedenktafeln in KZ–Gedenkstätten zurück. Bei seinen Recherchen stieß und stößt Wenke auf bewegende Dokumente, wie etwa den brieflichen Hilferuf des jungen Josef Völkers, der heimlich aus Dachau an seine Eltern schreibt (S. 119), oder tritt in Kontakt zu Verwandten der Opfer. Im sich anschließenden Teilkapitel benennt die Mannheimer Historikerin Ilona Scheidle den Androzentrismus der Gedenkkultur, dem sie das Projekt des Berliner Gedenkortes für Hilde Radusch entgegensetzt (S. 125 – 143). Die bekennende Lesbe, Kommunistin (später Sozialdemokratin), Autorin und Frauenrechtlerin Radusch war verschiedentlich mit dem NS–Staat aneinandergeraten und musste 1944 untertauchen. Obwohl ihr selbst lange keine Entschädigung als Opfer des Nationalsozialismus zuerkannt wurde, setzte sie sich in der Nachkriegszeit für andere Opfer ein und war maßgeblich in den 1970er Jahren an der lesbischen Netzwerkbildung der BRD beteiligt. Scheidle stellt im Anschluss als Kandidatin für einen vergleichbaren Gedenkort in Gelsenkirchen die berühmte Kabarettistin und Chansonnière Claire Waldoff vor, zu deren ungewöhnlichem Lebensweg sowohl das Ablegen des Abiturs in dem ersten Gymnasialkurs für junge Frauen in Hannover als auch ihre seit den 1920er Jahren offen gelebte Liebe zu einer Frau sowie ihre gesellschaftskritischen und feministischen Ansichten gehörten. Den zweiten Teil beschließen die Ausführungen des Dortmunder Historikers Stefan Mühlhofer (Direktor des Stadtarchivs und Leiter der Mahn– und Gedenkstätte Steinwache) zu dem Ausstellungskonzept der Steinwache und dessen geplanter Überarbeitung (S. 145–155). Zwar war die museale Aufarbeitung der Verfolgung Homosexueller in der Dortmunder Gedenkstätte in einem separaten Raum ab 2004 wegweisend, der lokale Bezug fehlt allerdings bisher. Die Neukonzeption soll nun im Zeichen der "exemplarischen Gesellschaftsgeschichte von Terror und Verfolgung" (S. 150) stehen. Die Geschichte der Verfolgung homosexueller Männer ziele dabei sowohl auf der Seite der Häftlinge (wer war wann gleichzeitig mit wem aus welchen Gründen inhaftiert?) als auch auf der Seite der Polizeiarbeit auf Kontextualisierung. Indem die Steinwache als Schnittstelle zwischen "dem lokalen Stadtraum und dem reichsweiten Terrorsystem" verstanden wird, können — so Mühlhofer — die entsprechenden Quellen Schicksale Einzelner (eben auch Homosexueller) sowie deren Wege durch die Terrorinstanzen des Regimes sichtbar machen und die durch die NS–Verfolgung zerstörte Identität restituieren. Außerdem wird derzeit das Interesse der damaligen Dortmunder Stadtgesellschaft an der Polizeiarbeit der Steinwache, u. a. durch Analyse der Dortmunder Lokalzeitungen, kritisch untersucht. Der eigentlich für den Herbst 2018 angekündigten und nun vermutlich 2019 ausstehenden Eröffnung der neuen Ausstellung darf man mit Spannung entgegensehen.

Den dritten Teil des Bandes über die Stationen der Selbstbehauptung leitet der Aufsatz der Bonner Historikerin Ingeborg Boxhammer ein (S. 159 – 174). Sie präsentiert die sehr selbstbestimmten Lebens– und Berufswege von vier Frauen aus dem bürgerlichen, z. T. jüdischen Milieu, die als Dentistinnen — das Studium der Zahnmedizin war den Frauen zu jener Zeit noch verwehrt — finanziell unabhängig waren. Sie wiesen eine hohe Mobilität auf, da sie mehrere Praxen im Ruhrgebiet unterhielten, und wohnten zeitweilig auch im Zweigenerationenhaushalt. Zwar kann Boxhammer nicht nachweisen, dass es sich um lesbische Lebensentwürfe handelt, aber die Fortschrittlichkeit dieses Frauennetzwerkes verdeutlicht einmal mehr, wie viele bereits erstrittene Handlungsspielräume den Frauen in Deutschland durch das NS–System verlorengegangen sind. Dem neuen Aufbruch der lesbischen Frauen ab 1970 nach dem Rückschritt der NS–Zeit und dem Stillstand der langen 1950er Jahre widmet sich die Essener Soziologin Lisa Mense (S. 175 – 190). Nach einer Einführung in die Begrifflichkeiten der sozialen Bewegung und der damit verbundenen kollektiven Identität verweist sie auf die doppelte Diskriminierung lesbischer Frauen: Als Frauen erleben sie die Benachteiligungen der patriarchalen Gesellschaft und als Lesben wird ihnen aufgrund der auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Sexualitätsdiskurse eine eigene aktive Sexualität im Vergleich zu den homosexuellen Männern abgesprochen. Diese Parameter beschreiben auch die Entwicklung der Bewegung, die anfangs vor dem Hintergrund einer linken Befreiungssoziologie in ein Zusammengehen mit den schwulen Männern und den heterosexuellen Frauen mündete, später aber zu einer Ausdifferenzierung führte: Es entstand eine autonome lesbisch–feministische Bewegung, die auch im Ruhrgebiet eigene Organisationsstrukturen und eine eigene Gegenkultur (Verbände, Zentren, Cafés etc.) ausbildete. Als passende Ergänzung dazu liefert die Dortmunder Psychologin Ulrike Janz die erste ausführlichere Bestandsaufnahme der Lesbenbewegung im Ruhrgebiet (S. 191 – 204). Für verschiedene Ruhrgebietsorte (mit einem Schwerpunkt auf Bochum und Dortmund) kann sie die Vielfalt der Lesbenkultur seit 1970 aufzeigen, die von Vereinen und Beratungszentren über Buchläden und kulturelle Events (Lesenächte, Kinoabende, Disco etc.) bis zur lesbischen Forschung (Frauen– und Lesbenreferate an den Universitäten, Zeitschrift Ihrsinn) reicht. Außerdem verweist sie auf die seit einiger Zeit sich abzeichnende altersgruppenspezifische Ausdifferenzierung der Bewegung (spezielle Angebote für Mädchen, für ältere Frauen) und ihre regionale und überregionale Vernetzung. Bleibt zu hoffen, dass sich viele Zeitzeuginnen auf Janzens Aufruf zur Mitarbeit melden, damit aus diesem Überblick ein "Ruhrgebietsatlas der Lesbenbewegung" wird. Der Düsseldorfer Politiker Frank Laubenburg, einer "der Gründerväter der Aidshilfe–Bewegung", schildert in seinem Artikel (S. 205 – 218), wie in den 1980er Jahren der Aids–Schock und die Propagierung der Krankheit als Schwulenseuche zur Verunsicherung homosexueller Männer, aber auch zu hysterischen Reaktionen in der Öffentlichkeit führten. Einerseits gab es auf Seiten der Homosexuellen anfangs die Sorge und Skepsis, dass Beratungsangebote, insbesondere die von staatlicher Seite, Repression nach sich ziehen würden. Andererseits beförderten die Auseinandersetzung mit Aids und die Institutionalisierung der Aidshilfen aber auch unerwarteterweise die Selbstorganisation der Schwulenbewegung und die Sichtbarmachung ihrer Anliegen in der Gesellschaft. Der Band schließt mit einem Artikel des Siegener Historikers und Germanisten Tim Veith (S. 219 – 234) zur Analyse homosexueller Männlichkeits– und Körperdiskurse im Revier. Auf der Grundlage der Dortmunder Schwulenzeitschrift Rosa Zone untersucht er die Gesamtgestaltung der Hefte, die Cover und die Abbildungen in den Anzeigen (fotografische und gezeichnete) und kann bei diesem kostenlosen Stadtmagazin einerseits eine breitere Palette von nicht–normativen schwulen Männlichkeitsbildern (verschiedene Altersgruppen, Männertypen zwischen Macho und Twink, Verweis auf Subkulturen etc.) feststellen als in vergleichbaren Bezahlzeitschriften. Andererseits präsentieren die prominenten Abbildungen gerade junge, weiße, athletische Männer, häufig mit freiem Oberkörper, so dass sich eine Annäherung homonormativer Körperbilder an heteronormative Körperdiskurse feststellen lässt.

Diesem gelungenen Band, bei dem man lediglich einen Index vermisst, der die Fülle von Informationen (auch in den Anmerkungen) zugänglicher gemacht hätte, ist eine breite Rezeption zu wünschen. Dass die Beiträge neben der Geschichtswissenschaft auch in anderen Gesellschaftswissenschaften verortet sind, aber auch, dass etliche AutorInnen selbst ZeitzeugInnen für die Bewegung sind, macht diesen Band für verschiedene LeserInnengruppen interessant: Als lokale Studie wird hier die Geschichte der schwul–lesbischen Lebensformen im Ruhrgebiet für überregionale Queer Studies zugänglich gemacht, gleichzeitig eröffnet der Sammelband allen RuhrgebietlerInnen — egal welcher sexuellen Orientierung — einen Zugriff auf ihre eigene Geschichte und neue Wege der Erinnerungskultur.