Benedikt Wolf:
Penetrierte Männlichkeit.

Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905–1969),
Köln: Böhlau 2018, 449 S., € 60
 

sorry, no cover

 

Rezension von Manfred Herzer, Berlin

Erschienen in Invertito 20 (2018)

"Aber wann schlafen Sie?" fragte Karl und sah den Studenten verwundert an.
— "Ja, schlafen!" sagte der Student.
"Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin."
Franz Kafka, Der Verschollene

 

Als ich etwa 1965 in der Stadtbücherei Neukölln Hans Henny Jahnns Die Nacht aus Blei entdeckte, war meine Freude enorm: Endlich: Kafka schwul! Zehn Jahre später, von der harten, aber süßen Schule der Homosexuellen Aktion Westberlin geformt, entdeckte ich Prinz Kuckuck, einen satirischen Roman von Otto Julius Bierbaum. Numa Praetorius hatte ihn im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jahrgang 1908, als einen "großartigen Zeit– und Charakterroman von bleibender Bedeutung, voll satyrischen Schwunges, gallischem Esprit, deutschen Humors und echt modernen Geistes" gefeiert, in dem der Homosexualität eine Rolle zukomme, "wie man sie bisher in der Belletristik nicht findet". Noch heute finde ich, Numa hat mit seinem Urteil nicht übertrieben, und Prinz Kuckuck belegt nicht nur in Wilhelms "privatem Kanon", sondern noch immer auch in meinem eigenen Homo–Kanon einen Spitzenplatz.

Nun hat der junge Germanist Benedikt Wolf in seiner Dissertation einen eigenen, zehn Erzähltexte umfassenden Kanon vorgestellt, den er sein "Analysekorpus" (S. 402) nennt. Neben Bierbaums Prinz Kuckuck fand ich darin andere meiner Favoriten wie Franz Kafkas Ein Landarzt und Hans Henny Jahnns Spätwerke Die Nacht aus Blei und Jeden ereilt es, ferner Thomas Manns unvollendeten Felix Krull–Roman, Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Arnold Bronnens Septembernovelle und Hubert Fichtes Waisenhaus. Außerdem gibt es Kurzanalysen aus den Bereichen "Pornographie" (S. 50 u. ö.), "Obszönität" (S. 51) und der "sogenannten homosexuellen Belletristik" (S. 115). Mit letzterem Ausdruck meint Wolf etwa Felix Rexhausens Berührungen oder Sagittas Puppenjunge. Die ausgewählten Männer schrieben ihre Dichtungen zwischen dem Jahr der Erstausgabe von Sigmund Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie sowie dem Ausbruch der Eulenburgaffäre, 1905/06 und der Reform des § 175 durch die Kiesinger–Brandt–Regierung 1969 in der BRD. Beide Eckdaten markieren Wolf zufolge Wendepunkte im literarischen Zur–Sprache–Bringen "analer Rezeptivität" (S. 36f.), Freud und Fürst Eulenburg signalisierten ähnlich wie die 69er–Reform neue Stufen des Expliziten.

Die Einzelanalysen beginnen jeweils mit einer kurzen Nacherzählung der Dichtungen in schöner und klarer Sprache. Im nächsten Schritt wird die penetrierte Männlichkeit, die in den Texten auf mannigfache Weise enthalten ist, mit einem ganzen Bündel von Methoden interpretiert und dechiffriert, um so die verborgenen Bilder vom männlichen Analverkehr erkennbar zu machen. Wolf will zeigen, dass diese mehr oder weniger opake Szene sich "als ein verdecktes Kraftzentrum moderner Literatur überhaupt" (S. 41) erweist. Was unter einem solchen Zentrum zu verstehen ist, erklärt Wolf ebenso wenig, wie er seinen zentralen Ausdruck "Männlichkeit" expliziert. Man erfährt aber, dass die Untersuchungen, wie erwähnt, vornehmlich das Wechselspiel zwischen dem Männerkörper im Text und dem Text als Körper erforschen sollen. Es wird erläutert: "Körper im Text" bedeute "Diskursivierung des Körpers", während "Text als Körper" dasselbe sei wie "Somatisierung des Diskurses" (S. 42, S. 402 u. ö.)

Der für das Thema "Männliche Homosexualität in der deutschsprachigen Belletristik" einst Maßstäbe setzende Germanist Gerhard Härle hielt 1986 im Schwulenreferat der Westberliner Freien Universität einen Vortrag über die "Bedeutung des Analen für die Ästhetik homosexueller Literatur". Wolf entdeckt zu Recht in Härles altem Text "wichtige Ansatzpunkte" für die eigene literaturwissenschaftliche Perspektive auf penetrierte Männlichkeit und entnimmt ihm den Ausdruck "Doppelcharakter der analen Sexualität" (S. 41). Anders als Härle, der in der Weiblichkeit bei gleichzeitigem mehr oder weniger ausgeprägtem Masochismus das Doppelte dieses Sexes erkennt und in den Produktionen der so sexuierten Dichter ein "Doppelspiel" von Maske (der "gravitätische Klassizismus" der Dichtung) und Maskiertem ("die ganz banalen Züge des homosexuellen Begehrens") sieht, will Wolf eine Doppelheit von "Körper im Text" und "Text als Körper" seiner Untersuchung zugrunde legen — also eine komplette Umdefinition der Begrifflichkeit Härles (S. 42).

Als literaturwissenschaftlicher Laie, der dem nur schwer zugänglichen poststrukturalistischen Theoriegebäude skeptisch gegenübersteht, nähere ich mich Wolfs Begriff der "Somatisierung des Diskurses" wie folgt an. Zum einen übersetze ich die oben erwähnte "Diskursivierung des Körpers" im Text so: Wenn es in einem Erzähltext neben anderem um die Physis eines Menschen geht, dann wird seine Körperlichkeit vom Dichter zur Sprache gebracht oder der Körper wird diskursiviert. Weiterhin übersetze ich "Somatisierung des Diskurses", indem ich weiter unten an dem besonders problematischen Beispiel der Kafka–Deutung errate, dass mit Somatisierung die Formen und die Größen der mit schwarzer Farbe aufs weiße Papier gedruckten Buchstaben gemeint sind, aus denen der Text besteht (S. 42). Der "Textkörper" wird als lebendiges Subjekt vorgestellt und verfügt wie alles Lebendige über ein "Begehren" (S. 44); das Begehren des Textkörpers oder "Schriftkörpers" des Landarztes erfährt mittels der typografischen Gestaltung sogar eine "messianische Erlösung" (S. 306). "Essenzialisierung" der erzählten Sachverhalte soll dabei strikt vermieden und die allgegenwärtige "Heteronormativität" einer fundamentalen Kritik unterzogen werden (S. 54). Penetrierte Männlichkeit ist "in verschiedenen Deutlichkeitsgraden" (S. 51) in den Texten verborgen und der Philologe dechiffriert sie. Die "uneigentliche Sprache" (S. 49) als Ironie, Metaphorik, Metonymie oder die "Verfahren der relativen Explizität" (S. 52 u. ö.), die in den Texten zur Anwendung kommen, werden so übersetzt, dass der eigentlich gemeinte Analverkehr offenbar werden soll. Das außerordentlich lange und sehr häufig verwendete Adjektiv "heteronormativitätskritisch" wird lediglich mit dem Hinweis erläutert, dass es sich hierbei um die vom Erstbetreuer der Arbeit, Prof. Andreas Kraß, empfohlene Übersetzung des Ausdrucks Queer Studies handele (S. 43). Ebenso wird "hegemoniale Männlichkeit", die ja gewissermaßen als Krönung der Heteronormativität gelten kann, ein bisschen "definiert": nämlich "durch ihre Funktion, die Illegitimität von Verhältnissen zu verschleiern, in denen Männer Frauen unterdrücken" (S. 74).

Mit einem weiteren Kraß–Zitat werden die hier angewandten Methoden und Verfahren benannt: Eine "als ‘Queer Reading’ bezeichnete Leseweise" kommt mit den Mitteln "der Diskursanalyse, des Poststrukturalismus, der Psychoanalyse und der Dekonstruktion" zum Einsatz, um "der Möglichkeit eines Textbegehrens, das in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert" ist, auf die Spur zu kommen (S. 45). In Anlehnung an Roland Barthes und Michel Foucault gilt der poetische Text nun, nachdem die Person des Dichters eskamotiert ist, als eine Art automatisches Subjekt, das zu dem erwähnten Textbegehren und verschiedenen anderen Fertigkeiten in der Lage ist und bloß für sich selbst spricht. Zwischen dem Philologen und dem Sprachkunstwerk besteht demnach eine intersubjektive Kommunikation, die die Interpretationen produziert. Fragen der Produktions– und Rezeptionsästhetik werden von Wolf dieser Tradition folgend als tadelnswertes "detektivisches Lektüreverfahren" (S. 40), gar als "biographistische Lektüre" (S. 47) verworfen. Einzelne Begriffe des Historischen Materialismus wie "Mehrwert" (S. 394 u. ö.) oder "zweite Natur" werden zu einer Art Scherzartikel herabgesetzt und zur Charakterisierung der Männerherrschaft in der "Moderne" oder zur Bestimmung der "Erogenitätsgrade der Analschleimhaut" (S. 113) benutzt. Der in Gramscis Praxisphilosophie zentrale Begriff der Hegemonie wird von Wolf im Sinne einer kritisch gemeinten "Männlichkeitsforschung" (S. 73) eingesetzt, um Aussagen zu modernen patriarchalischen Strukturen zu treffen. Der Abschied von bürgerlicher Literatursoziologie und die Verabsolutierung reiner Textimmanenz werden damit begründet, dass es auf diesem Weg möglich sei, ein subversives Potential in den untersuchten Dichtungen zu enthüllen. Die Zurückweisung jeglicher biografischer Methodik wird exemplarisch an Hans Mayers Außenseiter von 1975 mit der These gerechtfertigt, die Homosexualität eines Autors dürfe keinesfalls zur Analyse seiner Texte herangezogen werden, da mit solchem "zirkulären Begründungszusammenhang" der manifesten Gestalt der Texte, um deren "Materialität" es ja vor allem gehe, überhaupt nicht gerecht zu werden sei (S. 39).

Unverzichtbar ist auch für Wolf das berühmte Zitat aus Foucaults Sexualität und Wahrheit, Band 1, in der brillanten Übersetzung von Raulff und Seitter: "Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies" (S. 16). Wie üblich wird die Datierung dieser welthistorischen Wende im Abendland korrigiert; die unaufhaltsame Karriere des Homosexuellen, den Foucault mit gekonnter nietzschescher Ironie biologisiert, indem er ihn eine Spezies nennt, will Wolf schon ein paar Jahrzehnte früher als Foucault beginnen lassen. Während letzterer den Berliner Psychiater Carl Westphal für den Erfinder jener Spezies hält, erklärt Wolf den Forensiker Johann Ludwig Casper und den Emanzipationskämpfer Karl Heinrich Ulrichs zu Erfindern des modernen Homosexuellen. Zugleich vollführt Wolf an Foucaults heiligem Text eine überraschende, sozusagen metonymische Operation: Auf der gleichen Seite, auf der er Foucault zitiert, ersetzt Wolf stillschweigend dessen "Spezies" zweimal durch "sexuelle" resp. "genuin moderne Identität". Wolfs irrtümliche Annahme, die Homo–Theoretiker des 19. Jahrhunderts hätten, anders als die späteren, allesamt an eine biologische Genese der Homosexualität geglaubt, scheint der Hintergrund für die Korrektur des Foucault'schen Textes gewesen zu sein. Tatsächlich konkurrierten beide Erklärungsmodelle — Homosexualität ist postnatal erworben vs. pränatal codiert — in Europa von Anfang an und bis heute miteinander, ohne dass eine Erklärung die andere völlig verdrängen konnte. Dieses Tauschmanöver — Spezies gegen Identität — bringt den Literaturwissenschaftler aber sogleich in Bedrängnis, wenn ihm auffällt, dass seine Vorstellung einer festgefügten Identität eine vielfältige "fundamentale Inkonsistenz" oder, mit den Worten seiner Kollegin Eve Kosofsky Sedgwick, eine "radikale, irreduzible Inkohärenz" aufweist (S. 23).

Solche Inkohärenzen machen Wolf besonders zu schaffen, wenn er psychoanalytische Theoreme zur Analerotik der Männer erörtert. Eine krassere Fehlinterpretation sei hier korrigiert: Wolf erkennt zwar, dass Freud 1905 allen Menschen auf frühkindlicher Entwicklungsstufe einen Primat der Analerotik zugesteht, er übersieht aber Freuds eindeutige Klassifizierung erwachsener Homosexueller als krank, als zwanghaft und neurotisch unreif auf jene frühe Stufe fixiert. Wenn Freuds Aussagen mit denen seines Schülers Sandor Ferenczi verglichen und Letzterer als Pathologisierer der Homosexuellen kritisiert wird, dann beruht dieser Irrtum auf der Nicht–Unterscheidung der medizinischen Begriffe Pathologie und der bloß statistisch–beschreibenden Anomalie (S. 33). Wird Homosexualität wie bei Freud und nahezu allen seinen Schülern als therapiebedürftig und pathologisch diagnostiziert, so schlägt dagegen Ferenczi eine Unterscheidung von zwangsneurotischen Objekt–Homoërotikern und davon grundverschiedenen Subjekt–Homoërotikern vor; Letztere seien "wahre ‘Sexuelle Zwischenstufen’ (im Sinne von Magnus Hirschfeld und seiner Anhänger)" und von ihren zwangsneurotischen Brüdern "wesensverschieden". Das war damals ein gescheiterter Versuch, wenigstens letztere Gruppe der psychoanalytischen Pathologisierungswut zu entziehen.

Wolf stellt die Auslegung von Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt ins Zentrum seiner Arbeit. Das durchaus heikle Unternehmen, das Vorhandensein penetrierter Männlichkeit in Kafkas Text nachzuweisen, bewältigt er so elegant wie problematisch. Der Ansatzpunkt ist die tödliche Wunde, die der Landarzt an der rechten Seite seines jungen Patienten entdeckt. Diese handtellergroße Wunde wird aber, Wolf zufolge, missverstanden, wenn man glaubt, mit ihr "sei ‘eigentlich’ der Anus gemeint" (S. 274, ähnlich S. 298). Nicht etwa, weil die Öffnung des Enddarms normalerweise weder in der Größe noch im Bluten der Kafka'schen Wunde ähnelt, sei diese Sicht falsch. Vielmehr seien im Textkörper Spuren von "psychischen Intensitäten" zu entdecken, "die sich mit dem penetrierten Anus verbinden" und durch "metonymische Verschiebungsarbeit" auf die offene Wunde übertragen würden (S. 274). Das aus der antiken Rhetoriklehre entlehnte Konstrukt Metonymie — eine Namensvertauschung, wie etwa ‘jung und alt’, das für ‘alle’ steht — sei eine "Form uneigentlichen Sprechens", die es mittels psychischer Intensitäten ermögliche, einen Anus mit einer Wunde zu vertauschen und nicht, wie bei vielen heteronormativen Germanisten üblich, als weibliches Geschlechtsorgan zu deuten. Die Beweisführung für den textimmanenten Austausch (Anus ˜ Wunde, sowie Einführen eines Phallus in den männlichen Anus ˜ rosige Würmer mit vielen Beinchen in der Todeswunde) läuft über den Nachweis einer "Doppelstrategie syntagmatischer und paradigmatischer Relationen" (S. 299) des Textes als handelndem Subjekt. Mit dieser spekulativen, nichtsdestoweniger äußerst poetischen Verfahrensweise immunisiert Wolf zudem seine Textdeutung gegen jede Detailkritik, die seine Methodik nicht in ihrem Fundament infrage stellt.

Noch schwieriger nachzuvollziehen ist Wolfs Unterfangen, aus Kafkas kleiner Erzählung sowohl "Scheitern", "Ausweglosigkeit" und "Verzweiflung" (S. 304) als auch Spuren einer "messianischen Erlösung" (S. 306) herauszulesen — als ob hier die Rückkehr zu einem einst hochaktuellen existenzialisch–theologischen Verständnis Kafka'scher Dichtung beabsichtigt ist. Heute ist es schon fast ein Gemeinplatz, dass es in Kafkas Prosa nach dem Ende aller Hoffnung auf einen mehr oder weniger lieben Gott um "das Lachen, das Tränen–Lachen aus höheren Gründen" geht, das uns Hoffnungslosen als einziger Trost übrigbleibe. Ferner gilt die Deutung, die in Kafkas Werk à la Max Brod eine Art poetischer Theologie finden will, in der heutigen Kafka–Forschung fast durchweg als unhaltbar. Wolf hingegen scheint mithilfe eines poststrukturalistischen und irgendwie grammatologischen Verfahrens einer Unterscheidung von Text und Schrift Kafkas Dichtung vor seinen agnostischen Interpreten retten zu wollen: Im Text der Landarzt–Erzählung sei die tödliche Wunde des jungen Patienten als "Ort des Scheiterns der Heilserwartungen" zu lesen; der "Schriftkörper" aber zeige "einen Ausweg" und zaubere über den "Katalysator" penetrierte Männlichkeit das Ende des irdischen Jammertals und den "Sprung" in die messianische Zeit (S. 306) herbei. Dies laufe über die weiße Farbe des Papiers, die überall im Buch anwesend sei und nach Ende der Erzählung weiß wie Schnee "die reale messianische Überschreitung der kontinuierlichen Katastrophe", der Heteronormativität, tatsächlich "erreicht" (S. 307).

Ein ähnlich unorthodoxes Verfahren der Re–Theologisierung wie bei Kafkas Landarzt wendet Wolf auch auf Walter Benjamins letzte Arbeit vor dem Selbstmord 1940 Über den Begriff der Geschichte an. Benjamins Kritik am sozialdemokratischen Geschichtskonzept, Zeitbegriff und der passiven Erwartung des kampflos erreichbaren sozialistischen Paradieses wird von Wolf zur Kritik an der "Fortschrittsperspektive linken Denkens" schlechthin umgedeutet (S. 302): Tatsächlich geht es Benjamin 1940 um den "Tigersprung unter dem freien Himmel der Geschichte […], als den Marx die Revolution begriffen hat" (These XIV). Und: "Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich" (These XV). Von irgendwelchen Messiassen, die uns vom Faschismus oder anderen irdischen Katastrophen erlösen, kann beim späten Benjamin, dem bewundernden Freund des Kommunisten Bertolt Brecht, beim besten Willen nicht die Rede sein. Als Brecht vom Freitod des Freundes erfuhr und von Günther Stern eine Kopie des Begriffs der Geschichte erhielt, kommentierte er sie in seinem Arbeitsjournal im August 1941 unter anderem: "die kleine abhandlung behandelt die geschichtsforschung […], wendet sich gegen die vorstellung von der geschichte als eines ablaufs, vom fortschritt als einer kraftvollen unternehmung ausgeruhter köpfe. […] kurz, die kleine arbeit ist klar und entwirrend (trotz aller metaphorik und judaismen), und man denkt mit schrecken daran, wie klein die anzahl derer ist, die bereit sind, so was wenigstens mißzuverstehen."

Während Ein Landarzt wegen maximaler Heteronormativitätskritik und Messianismus einen Ehrenplatz in Wolfs Privat–Kanon erhält, ist mein Liebling Prinz Kuckuck chancenlos. Wie die Diskursanalyse ergab, hat er bloß affirmativ die heteronormative Mehrheitsposition "konsolidiert" (S. 406).

Wolfs glänzend geschriebene und, was das Verwischen der Grenze zwischen Poesie und Theorie betrifft: richtungweisende Arbeit enthält zudem die hochinteressante Ankündigung, dass er an der kommentierten Neuausgabe der Gedichtsammlung Die braune Blume arbeite. Bei diesem 1929 in Berlin erschienenen anonymen Privatdruck handelt es sich um den einzigen ihm bekannten "deutschsprachigen pornographischen Text" zur penetrierten Männlichkeit (S. 50, auch S. 414). Wenn man von der distanzlosen Verwendung des Pornografie–Begriffs absehen will, könnte man hier noch die einschlägigen Erzählungen Die Päderasten. Männer unter einander auf Schiff (anonym, vor 1900) und Ernest, von dem Berliner Sammler Werner von Bleichröder ohne Namensnennung privat um 1910 herausgegeben, erwähnen. Als die Päderasten und die Braune Blume 1988 resp. 1996 in Capri neu erschienen, blieben sie vollkommen unbeachtet. Daher ist eine weitere Ausgabe, Jahrzehnte später, nur zu begrüßen.