Clayton Whisnant:
Queer Identities and Politics in Germany

A History, 1880–1945
Harrington Park Press 2016, 348 S., $ 40 / $ 95
 

sorry, no cover

 

Rezension von Samuel Clowes Huneke, Stanford University

Erschienen in Invertito 20 (2018)

In der letzten Zeit zeigt sich in der englischsprachigen Welt ein zunehmendes Interesse für die Geschichte der Homosexualität zwischen der Reichsgründung und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Robert Beachys Gay Berlin (2014), Laurie Marhoefers Sex and the Weimar Republic (2015) und Marti Lybecks Desiring Emancipation (2014) sind nur drei der jüngeren Werke, die dieser Begeisterung entstammen. Zu ihnen zählt auch Clayton Whisnants neuestes Werk Queer Identities and Politics in Germany, welches die Geschichte der Homosexualität zwischen den frühen Bestrebungen Karl Heinrich Ulrichs' und der NS–Zeit umfasst. In seinem Buch fasst Whisnant, Professor für Europäische Geschichte am Wofford College in South–Carolina und Autor eines Werkes zur Geschichte der männlichen Homosexualität in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1969, die zuvor geleistete Forschung zusammen.

Zweifellos ist das Werk sehr umfangreich. Beinahe die gesamte relevante Forschung wird zitiert: Fast alle Historiker*innen, die sich mit der deutschen Homosexualität befasst haben, können sich freuen, ihre Werke hier erwähnt zu sehen. Es dürfte die Absicht von Whisnants enzyklopädischem Werk sein, möglichst viel der existierenden Forschung zusammenzubringen. Das heißt aber auch, dass dem Buch eine einheitliche argumentative Linie fehlt. Whisnants Absicht war es wohl, das Werk eher als eine Art Lehrbuch zu gestalten. Dementsprechend formuliert er keine Argumentation, sondern stellt lediglich Leitfragen, darunter: Wie sah die Suche deutscher Schwuler und Lesben nach Liebe und Beziehungen aus? Warum entstand die erste Bewegung für die Rechte von Homosexuellen der Welt in Deutschland? Warum haben die Nazis Homosexuelle und Menschen, die wir heute als transgender Männer und Frauen identifizieren würden, in Konzentrationslagern interniert?

Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Das erste Kapitel befasst sich mit der "Geburt der homosexuellen Politik". Es ist kaum überraschend, dass sich dieser Teil der frühen sexualwissenschaftlichen Forschung in Deutschland und Österreich widmet. Magnus Hirschfeld, Karl Heinrich Ulrichs und Richard von Krafft–Ebing sind Protagonisten dieses Kapitels, welches seine Leser davon überzeugen will, dass Hirschfelds wissenschaftlich–humanitäre Bestrebungen typisch für die von Carl Schorske so genannte "Politik der neuen Tonart" seien. Wichtig für Whisnants Schilderung dieser Politik sind ferner die Bemühungen der sogenannten Maskulinisten, deren Vertreter, allen voran Benedict Friedlaender und Adolf Brand, die von Hirschfeld formulierte Idee der biologisch festgestellten sexuellen Identitäten heftig bestritten haben.

Das zweite Kapitel konzentriert sich auf den Einfluss verschiedener Skandale auf die Entwicklung der queeren Politik in Deutschland. Der Argumentation der Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedgwick folgend, wonach die Jahrhundertwende eine Zeit der "homosexuellen Panik" gewesen ist, zeigt Whisnant, wie diese Skandale und Affären die Betrachtung der Homosexualität in Deutschland verändert haben. Ein wenig bekanntes Beispiel, das Whisnant beschreibt, ist der Rechenberg–Skandal in Deutsch–Ostafrika im Jahr 1907. Die beiden anderen Beispiele, mit denen Whisnant sich beschäftigt, sind dagegen wohlbekannt: Krupps Selbstmord und die Eulenburg–Affäre. Das Kapitel beschreibt zudem, wie die freudsche Psychoanalyse die biologische Festigkeit der Sexualität in Frage stellte, und diskutiert das Gewicht der Homoerotik in der deutschen Jugendbewegung. Der rote Faden des Kapitels ist die Voreingenommenheit, mit welcher Homosexuelle als Sicherheitsrisiko eingestuft wurden. Whisnant zufolge hinterließ insbesondere die Eulenburg–Affäre einen dauerhaften Eindruck im Publikum, dass Homosexuelle ein sehr ernsthaftes Problem für die nationale Stärke und Staatssicherheit seien.

Auf dem "Wachstum der städtischen schwulen Szenen" liegt der Fokus des dritten Kapitels. Obwohl Londons schwule Szene älter ist als diejenige Berlins, die sogenannten molly houses existierten dort seit dem frühen 18. Jahrhundert, gab es laut Whisnant "Spuren informeller Kreise homosexueller Adliger und anderer sogenannter Warmer seit dem späten 18. Jahrhundert". Als Berlin im frühen 20. Jahrhundert schnell wuchs, wurde auch die dortige schwule Szene immer größer. Wie viele Leser*innen bereits wissen, gab es in Berlin den bekannten "schwulen Weg" im Tiergarten, viele Lokale um den Nollendorfplatz und die berühmten Transvestitenklubs. In der Weimarer Zeit entstanden neue schwule und homoerotische Publikationen, wie z. B. die Zeitschrift Die Freundschaft, die zehntausende Leser erreichte. Wie schon Laurie Marhoefer und Marti Lybeck betont aber auch Whisnant: "Das gesamte Bild schwulen Lebens in Weimar ist vielleicht nicht so rosig, wie wir es heute gerne glauben."

Das vierte Kapitel konzentriert sich auf "Repräsentationen und Identitäten", d. h. darauf, wie Lesben und Schwule ihre eigenen Identitäten kulturell schufen. Wie vor ihm bereits Marita Keilson–Lauritz konstatiert Whisnant, dass im späten 19. Jahrhundert die Erfindung eines schwulen literarischen Kanons begann. Er zeigt, wie sich lesbische Autorinnen in der Weimarer Zeit bemühten, lesbische Liebe literarisch zu schildern. Wie Robert Beachy argumentiert auch Whisnant, dass es eine homosexuelle Identität bereits im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts gab.

Das fünfte Kapitel beschreibt die homosexuelle Politik während der 1920er Jahre. Hier betrachtet Whisnant bekannte Figuren wie Magnus Hirschfeld sowie weniger berühmte Personen wie Kurt Hiller. Er beschreibt, wie homosexuelle Aktivisten versuchten, den § 175 StGB aufheben zu lassen, und erläutert, wie schwierig es war, die verschiedenen Zweige der Bewegung zu einigen. Als ein Ausschuss des Reichstages entschieden hatte, § 175 durch einen neuen § 297 zu ersetzen, welcher Prostitution und die sogenannte Verführung Jugendlicher kriminalisieren sollte, folgte ein Konflikt im WhK. Hirschfeld hielt den Kompromiss für fortschrittlich; Hiller und Linsert befanden, der neue Paragraph sei eine Schande.

Die Nazi–Ära bildet die Thematik des letzten Kapitels. Diese Reihenfolge ist das eigentlich Originelle an Whisnants Buch: In den meisten Arbeiten ist 1933 eine feste Grenze in der Geschichtsschreibung. Ernst Röhm und die öffentlichen Skandale um dessen Homosexualität — die Prozesse in den frühen 1930er Jahren sowie die "Nacht der langen Messer" im Jahr 1934 — sind Gegenstand des Kapitels. Whisnant beschreibt, wie Heinrich Himmler versuchte, Homosexualität innerhalb der SS auszurotten, und wie die Nazi–Regierung den § 175 verschärfte. Die Erfahrungen schwuler Männer in den Konzentrationslagern bilden einen weiteren wichtigen Teil des Kapitels.

Whisnant gelingt es in seinem Werk hervorragend, manche bis dato unbeachtete, aber dennoch wichtige historische Momente hervorzuheben. So bezieht er z. B. lesbische Geschichte als wichtigen Teil der homosexuellen Geschichte in seine Ausführungen mit ein. Während viele Historiker sich darauf beschränken, ausschließlich über die männliche Homosexualität zu sprechen, beschreibt Whisnant auch lesbische Lokale, lesbische Kultur und geht der Frage nach, ob und wie Lesben in der Nazi–Zeit verfolgt wurden. Er widmet den Frauen dabei kein eigenes Kapitel, sondern versucht zu zeigen, dass Gender, Frauenemanzipation und weibliche Homosexualität wichtige Komponenten der homosexuellen Geschichte sind.

Die verschiedenen Theorien der Homosexualität von Ulrichs und Krafft–Ebing bis Freud und Hans Bürger–Prinz beschreibt er ebenfalls sehr umfassend. Dabei widersteht Whisnant der Tendenz, in der Geschichte der deutschen Homosexualität Magnus Hirschfeld eine übergroße Rolle zuzuschreiben. Er unterstreicht zwar die Bedeutung Hirschfelds, will aber auch zeigen, wie viele Kontroversen es um Definitionen und Ursprung der Sexualität gab und welche Folgen die verschiedenen Konzeptionen hatten. Zentral war laut Whisnant zudem die Rolle der Homoerotik, des Männerbundes und der Maskulinisten. Insbesondere beschreibt er, wie Theorien, die im Eigenen geprägt und genährt wurden, Skandale wie den um Fürst Eulenburg sowie Phänomene wie den George–Kreis beeinflussten. Das Interessante daran ist, wie auch Claudia Bruns argumentiert, dass Maskulinität und Geschlechtsrollen genauso wichtig dafür waren, schwule Identitäten und Politik zu definieren, wie die Sexualität an sich.

Historiker*innen wird an dem Werk vielleicht enttäuschen, dass Whisnant darauf verzichtet, in der Betrachtung der Geschichte einer eigenen Argumentation zu folgen, ihr also seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Er selbst schreibt am Ende des Werks: "Dieses Buch fing mit einer Menge Fragen statt einer These an. [...] Ich möchte sie jetzt nicht für Sie beantworten." Gleichwohl wird Queer Identities and Politics in Germany für Fakultäten, die einen Text für die Lehre gebrauchen möchten, sehr hilfreich sein. Das Buch stellt sicher die bis dato gründlichste englischsprachige Bearbeitung der Geschichte der Homosexualität in Deutschland zwischen Reichsgründung und Ende des Zweiten Weltkriegs dar. Interessant geschrieben und gründlich recherchiert, ergänzt Whisnant unser Verständnis der schwulen und lesbischen Geschichte mit vielen weniger bekannten Einzelheiten und Erzählungen.