Norman Domeier / Rainer Nicolaysen / Maria Borowski / Martin Lücke / Michael Schwartz
Gewinner und Verlierer.

Beiträge zur Geschichte der Homosexualität in Deutschland im 20. Jahrhundert (= Hirschfeld–Lectures, hg. von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Bd. 7),
Göttingen: Wallstein Verlag 2015, 109 S., € 9,90 
 

sorry, no cover

 

Rezension von Enno Krüger, Heidelberg

Erschienen in Invertito 20 (2018)

Schwule und Lesben als "Gewinner und Verlierer" der Moderne: Lässt sich unter dieser Gegenüberstellung die Geschichte der Homosexualitäten in Deutschland erzählen? Fünf Essays gehen dieser Frage unter ganz unterschiedlichen Aspekten nach.

Norman Domeier verortet die bekannten Eulenburg–Prozesse (1906 – 1909) in der jüngeren Homosexualitätsgeschichte. Der Autor kann an einer Reihe von einschlägigen Pressezitaten belegen, dass der Skandal um einen Freund des deutschen Kaisers seine historische Bedeutung weniger durch die personelle Konstellation als durch das von ihm hervorgerufene Medienecho erhielt. Homosexualität, ein bis dahin tabuisiertes Gesprächsthema, sei nun grundsätzlich ansprechbar geworden. Gerade dieser Umstand aber, so argumentiert Domeier, habe keineswegs zu einer Liberalisierung der öffentlichen Meinung, sondern zu einer Verfestigung homophober Stereotype geführt. Dies ist nicht zuletzt an der Kehrtwende in einschlägigen Stellungnahmen der Sozialdemokratie ablesbar. In dieser Perspektive können Homosexuelle (wie der Autor sie nennt) als Verlierer erscheinen, was umso erstaunlicher ist, als sich etwa 1897 mit der Gründung des Wissenschaftlich–humanitären Komitees in Charlottenburg ein zaghafter Wandel abgezeichnet hatte.

Damit stellt sich die Frage, wie sich die Lage der Homosexuellen in Deutschland nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs weiterentwickelt hat. Martin Lücke geht ihr in seinem Beitrag über "(m)ännliche Homosexualitäten in der Weimarer Republik" nach. Diese Epoche gilt allgemein als eine für die Homosexuellen günstige Phase zwischen den Repressionen des Kaiserreiches und dem Terror des Nationalsozialismus. Es zeichnet sich in der neueren Fachliteratur immer deutlicher ab, dass dieses Bild weitgehend modifiziert werden muss. Lücke nähert sich dem Thema auf drei verschiedenen Wegen. Sein Beitrag analysiert zunächst Richard Oswalds Stummfilm Anders als die Anderen als einen frühen Versuch, Homosexualität öffentlich zu thematisieren. Der Film wurde im Oktober 1920 verboten. Dann wendet sich der Autor den Homosexuellenzeitschriften der 1920er Jahre zu (ich halte mich weiterhin an die Terminologie des Autors). Das in diesen Publikationen vermittelte Rollenbild interpretiert Lücke als heteronormative "Repräsentation von Männlichkeit", dem er keine emanzipatorische Wirkung zubilligen möchte. Schließlich beleuchtet er kurz die Diskussion über die damals gescheiterte Abschaffung des § 175 im Strafrechtsausschuss des Deutschen Reichstages. "Scheinerfolge und Emanzipationsstillstand" lautet das abschließende Fazit. Mit diesem Beitrag liegt ein anregend formulierter Text vor, dessen konstruktive Ansätze zu weiterführenden Untersuchungen herausfordern.

Rainer Nicolaysen beschäftigt sich mit der Aberkennung von Doktortiteln im NS–Staat — ein Thema, das erst spät seinen Weg in die Fachliteratur gefunden hat. Seine akribisch an den Quellen durchgeführten Fallstudien beschränken sich auf die Verhältnisse an der Hamburger Universität, lassen sich aber auf andere Hochschulen übertragen, für die es zum Teil entsprechende Forschungsergebnisse gibt. Zur Depromovierung reichte eine Verurteilung nach dem § 175 aus. Die Praxis der akademischen Ausgrenzung, in deren Lauf sich deutsche Universitäten als Vollzugsorgane des Nationalsozialismus profilierten, und ihre Nachwirkungen nach 1945 werden eindrucksvoll dargestellt.

Nach dieser sachlich notwendigen Beschränkung auf ein Spezialthema öffnet sich der Blick wieder auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge. Die frühe Entwicklung in der DDR erhellt Maria Borowski (vgl. Berndl, Klaus / Kruber, Vera: Zur Statistik der Strafverfolgung homosexueller Männer in der SBZ und DDR bis 1959, in: Invertito 12 (2010), S. 58 — 124). Ihr Beitrag bezieht als einziger dieses Bandes die Situation der Lesben mit ein. Borowskis Basis sind Interviews mit acht Männern und fünf Frauen, die in der DDR aufgewachsen sind. Für die emanzipatorische Gesamtsituation in der DDR der 1950er und 1960er Jahre zieht Borowski insgesamt eine ernüchternde Bilanz, macht aber die Wirkung auf die betroffenen Frauen und Männer von ihrer individuellen Einstellung abhängig. Das mache es schwer, generell von Gewinnern oder Verlierern zu sprechen. Die Autorin äußert deshalb Zweifel, ob das dichotome Gegensatzpaar Gewinner/Verlierer als Kategorie (post–)moderner Geschichtsschreibung tauge.

Als "Gewinner" erscheinen Schwule in medialen Reaktionen auf die Reform des § 175 in den Jahren 1969 und 1973, die Michael Schwartz gesammelt hat. In seinem zeitgeschichtlich angelegten Beitrag mischen sich politische, gesellschaftliche und pressegeschichtliche Beobachtungen. Der mediale Mainstream der siebziger Jahre begrüßte die rechtliche (Teil–)Emanzipation der Schwulen. Das war offenbar nur möglich, weil die Reformen Ausdruck eines allgemeinen Wandels der Sexualmoral waren. Aber auch auf diesem Gebiet vollzog sich die Entwicklung nicht linear. Rückzugsgefechte fanden in Publikationen des rechtskonservativen Spektrums statt. Einen frühen Verbündeten fand die rechtliche Schwulenemanzipation beispielsweise im Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Es war der Spiegel, der bereits 1973 das Wort "schwul" ohne Anführungszeichen druckte, worin ihm die Frankfurter Allgemeine Zeitung erst 1990 folgte. Die damit zusammenhängende Begriffsgeschichte verdiente eine eigene Untersuchung. Nach Schwartz verschwand der Begriff "homophil" nach der zweiten Strafrechtsreform von 1973 weitgehend aus der medialen Diskussion. In der Auswahl seiner Quellen beschränkt sich Schwartz auf die damals noch einflussreicheren Printmedien. Im Magazin Stern war 1972 von sich häufenden Hörfunk– und Fernsehbeiträgen zum Thema die Rede, die, soweit ich sehe, noch der Aufarbeitung harren. Für die Geschichte der Homosexualitäten in Deutschland wäre es lohnend, präziser herauszuarbeiten, wann westdeutsche Massenmedien begannen, sich emanzipatorisch mit dem Thema Homosexualität auseinanderzusetzen, und in welcher Wechselwirkung ihre Berichterstattung zur Strafrechtsreform stand.

Bei diesen fünf Beiträgen handelte es sich ursprünglich um Vorträge, die am 24. September 2014 auf dem 50. Deutschen Historikertag in Göttingen gehalten worden sind. Sie alle sind dem übergeordneten Thema methodisch und inhaltlich gerecht geworden, das hier noch einmal genannt sei: "Von Verlierern der Moderne zu Gewinnern der Post–Moderne? Die Geschichte der Homosexualität in Deutschland im 20. Jahrhundert". Damit repräsentieren diese Beiträge — was zum ersten Mal auf dem Historikertag möglich war! — das hohe Niveau der deutschen schwullesbischen Geschichtsforschung. Mit welchen Auswirkungen auf den Wissenschaftsbetrieb jenseits der Community, wird sich zeigen. Die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld hat diese Texte mit angehängten Fußnoten als Band 7 ihrer Hirschfeld–Lectures herausgegeben. Den augenfreundlichen Druck in einem angenehm handlichen Format besorgte der Göttinger Wallstein Verlag.