Jahrbuch Sexualitäten 2018.

Hg. im Auftrag der Initiative Queer Nations v. Janin Afken [u. a.],
Göttingen: Wallstein Verlag 2018, 329 S., € 34,90
 

sorry, no cover

 

Rezension von Manfred Herzer, Berlin

Erschienen in Invertito 20 (2018)

Neben journalistischen Beiträgen (Homoehe, BVerfG–Entscheidung zu einer dritten Geschlechtsoption, Plan eines Elberskirchen–Hirschfeld–Hauses in Kreuzberg, Interview mit Martin Dannecker zum 75. Geburtstag u. Ä.) und Feuilletonistischem (Glosse zur Dokumentation Mein wunderbares Westberlin usw.) enthält der dritte Band des Jahrbuchs Sexualitäten auch wieder einige Beiträge zur Schwulen– und Lesbengeschichte, die hier gewürdigt werden sollen.

Die Literaturwissenschaftlerin Jenny Bauer legt eine biografische Skizze über die lesbische Dichterin Toni Schwabe vor, die 1902 mit einem "early lesbian Bildungsroman" an die literarische Öffentlichkeit trat. Statt den Roman "lesbisch" zu nennen, könnte man nach Bauers Ansicht "ihn auch als ‘queer’ bezeichnen" (S. 31), was jedenfalls dem Namen des herausgebenden Vereins entgegenkommt. Für Bauer ist Schwabe dennoch eine "lesbische Autorin" (S. 32), die gemeinsam mit ihrer lebenslangen Geliebten und Freundin, der gleichfalls dichtenden Sophie Hoechstetter, während vieler Jahre mit Magnus Hirschfeld im Wissenschaftlich–humanitären Komitee zusammen­arbeitete (S. 44). Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Zusammenarbeit aus unbekannten Gründen beendet und es kam zu Annäherungen an die NSDAP, ohne dass Schwabe und Hoechstetter Parteimitglieder geworden wären. Ihre antisemitische Einstellung ist indes in mehreren ihrer Werke und Briefe zu belegen. Ob bei der Abwendung der beiden Frauen von Hirschfeld ihre judenfeindliche und faschistoide Einstellung maßgeblich war, konnte bisher nicht ermittelt werden.

Mit ikonografischen Verfahren versucht der Medizinhistoriker Rainer Herrn eine Annäherung an die Fotografien in der Zeitschrift Das 3. Geschlecht, die am Anfang der 1930er Jahre in nur fünf Heften in Berlin erschien. Die Analyse ergibt unter anderem, dass die Personen jedweden Geschlechts aus dem Umfeld der Zeitschrift aus kleinbürgerlichem Milieu stammten (S. 73, 85) und dass die Fotografierten in einigen Fällen mit negativen Bildunterschriften ("männliche Transvestiten, wie sie sich eigentlich nicht kleiden sollten") "der Lächerlichkeit preisgegeben" und in ihrem Streben nach "Selbstermächtigung" mehr behindert als gefördert wurden (S. 72).

Die Historikerin Anna Hájková will anhand von homosexuellen jüdischen Häftlingen, Männer wie Frauen, deren Fallgeschichten sie in der Forschungsliteratur fand, "den Holocaust queer erzählen" (S. 86). Sie hält es für "reduzierend und ahistorisch", wenn sie die Personen aus ihrer Beispielsammlung "als Schwule, Lesben oder Homosexuelle" bezeichnen würde, denn "diejenigen, die im Lager die intime Nähe von Personen des gleichen Geschlechts suchten", hätten sich selbst davor oder danach auch nicht so bezeichnet. In diesen Fällen "von queeren Menschen" zu reden, hält sie jedoch für historisch angemessen (S. 88). Die Erforschung der Sexualität im Holocaust sollte sich ihrer Ansicht nach vom Konzept Identität "verabschieden und stattdessen von Subjektivität" sprechen (S. 88). Die Differenz zwischen beiden Konzepten wird leider nicht diskutiert. Problematisch erscheint es, wenn Hájková auf einer Karikatur von 1947, die des Holocaust–Überlebenden Harry Heymanns "tuntiges Auftreten" zeigen soll, "eine homophobe Färbung" erkennt (S. 98). Beim Anschauen der Karikatur (S. 97) scheint mir die Homophobie im Auge der Betrachterin zu liegen.

Der Hamburger Doktorand Moritz Liebeknecht darf als erster Forscher überhaupt den Nachlass von Hans Giese, dem maßgeblichen Sexologen in der BRD der Nachkriegszeit untersuchen. Im Aufsatz "Sexual–wissen–schaft als Lebenswerk", der wohl als Literaturstudie zur Vorbereitung seiner Dissertation gemeint ist, gibt Liebeknecht eigentlich gar nichts von dem preis, was er im Nachlass gefunden hat. Über den Forschungsstand von Barbara Zehs Studien von 1988/89 geht sein Aufsatz nicht hinaus, so dass der Leser auf seine kommende Dissertation vertröstet werden muss.

Aus einem Nachruf des Göttinger Historikers Arnold Heeren auf seinen berühmten Kollegen Johannes von Müller von 1809 liest der Historiker Falko Schnicke heraus, Heeren habe geglaubt, Müller "war der geniale Historiker, weil er homosexuell war" (S. 248). Die Stelle im Nachruf, auf die Schnicke seine These stützt, ist sehr verklausuliert, rechtfertigt aber die Annahme einer Kausalität ("weil") keineswegs. Wenn überhaupt irgendein Zusammenhang von Homosexualität und Genie im Nachruf behauptet wird, dann läuft das auf eine frühe reaktionäre Sublimierungsthese hinaus: Nur weil es Müller aufgrund seiner gut entwickelten Männlichkeit gelungen sei, seine Leidenschaften zu unterdrücken, stets "‘ganz rein’" zu bleiben und "‘Herrschaft über sich selbst’ auszuüben" (S. 247), sei er in der Lage gewesen, sein enormes geschichtswissenschaftliches Œuvre zu vollenden. Auch Schnickes andere, von Paul Derks übernommene These, dass Gedankenspiele über die günstige Wirkung von Homosexualität auf wissenschaftliche Produktivität wegen "der zunehmenden Ablehnung und Pathologisierung von Homosexualität" im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr möglich gewesen seien (S. 250), ist unhaltbar. Denn Müllers Homosexualität wurde öffentlich nie als grobsinnliche Ausschweifung wahrgenommen; es handelte sich für die Zeitgenossen stets um tugendhafteste und keuscheste Freundesliebe.

Der Politologe Timo Lehmann erzählt interessante Einzelheiten aus dem Leben des afroamerikanischen schwulen Romanciers und Publizisten James Baldwin, der vor 30 Jahren in Südfrankreich gestorben ist. Er sieht sehr richtig, dass es Baldwin bei seiner Teilnahme am Kampf für umfassende Gleichberechtigung nicht um irgendwelche "Identitätspolitik" (S. 256) ging, vielmehr habe er gefordert: "Gerechtigkeit müsse hergestellt werden, Ignoranz, gepaart mit Macht, verhindere das." (S. 257) Das galt auch für Baldwins Schwulenpolitik, die weitgehend von der US–Homophilenbewegung der 1950er und 1960er Jahre geprägt war, was den damals fast Fünfzigjährigen nicht daran hinderte, mit der Hippie–Schwulenbewegung zu sympathisieren, die nach der New Yorker Stonewall–Inn–Rebellion entstand. Bei der Darstellung dieser letzten Phase in Baldwins Leben unterläuft Lehmann ein lustiger Irrtum, als er von einem Interview berichtet, das 1984 in der US–Alternativszenenzeitschrift Village Voice erschien. Baldwin soll den Interviewer gefragt haben, "was ein ‘Clown’ sei" (S. 260). Eine Fußnote klärt auf: "/lsquo;Clown’ bezeichnete in der Schwulenszene der 1980er Jahre in den USA Männer, die eine maskuline Identität zur Schau trugen" (S. 260). Lehmann, Jahrgang 1991, sollte sich von Älteren erzählen lassen, dass es unter Anwendung von Schlagworten aus der damals heftig diskutierten Gen–Technologie um eine Kritik der uniformen, einen individuellen Ausdruck verhindernden Männermode in den Homobars ging (Kurzhaarfrisur, Schnurrbart, Holzfällerhemd, Bluejeans, Cowboystiefel optional). Diese Typen wurden abfällig als clone bezeichnet. Als später das Klonschaf Dolly die Gemüter erregte, war die Klon–Mode bei den Schwulen längst passé und Baldwin schon seit sieben Jahren tot.

Der Beitrag des Historikers Vojin Saša Vukadinović trägt die programmatische Überschrift Geistreich, elegant, vorbildlich und ist eine hymnische Liebeserklärung an die 2017 verstorbene Literaturwissenschaftlerin und Romanautorin Silvia Bovenschen, die zudem als "eine der letzten […] Vertreterinnen der Revolte von 1968" geehrt wird (S. 262). Ehrbar erscheint sie, weil sie "das Erbe der ‘Studentenbewegung’" verwaltete, welches sie aber nicht in einer "Auflehnung gegen das Bestehende" erblickte, sondern "in der Aufgabe beständiger Kritik" — weniger am Bestehenden als an vermeintlich kulturellen Missständen wie "Bewegungsfeminismus" (S. 264), "sexuell enthemmte[n] Spießer[n]" und "islamische[n] Sittenkomplexe[n]" (S. 267). In einem Interview mit der Zeitschrift Emma wehrte sie sich deshalb gegen den Vorwurf einer Nähe zur AfD (S. 268). Ihr gut ausgeprägter Konservatismus kommt nicht nur in ihrer Ablehnung mancher Strömungen in der Gegenwartskunst ("Trash", S. 267) und in dem Vorwurf gegen die linksliberale Philosophin Judith Butler ("Lustfeindschaft und Gedankenarmut", S. 267) zum Ausdruck. Noch deutlicher wird dies an ihrer illusionären Vorstellung, sie habe "stets nur für sich selbst" gesprochen und so ihre intellektuelle Integrität gewahrt. Und was die Alltagsmoral betrifft, propagierte sie völlig ironiefrei mehr Diskretion: "Zurückhaltung und Takt galten ihr als unverrückbare, nicht verhandelbare Tugenden." (S. 267)

Übrigens freut sich Verfasser dieses Textes ganz außerordentlich über die äußerst günstige Besprechung seines Buches Magnus Hirschfeld und seine Zeit im Rezensionsteil des Jahrbuchs Sexualitäten. Diese Freude soll aber auf die Tendenz des Vorliegenden keinerlei Einfluss haben!