QWIEN/WASt (Hg.):
Zu spät?

Dimensionen des Gedenkens an homosexuelle und transgender Opfer des Nationalsozialismus. Dokumentation der Tagung "Gedenken neu gedacht – Wien gedenkt vergessener Opfer". Zeithistorische, gesellschaftliche, queere und künstlerische Positionen,
Wien: Zaglossus 2015, 354 S., 22,95 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln †

Erschienen in Invertito 18 (2016)

Herausgeber des vorliegenden Bandes sind Andreas Brunner und Hannes Sulzenbacher von QWIEN (Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte) und Wolfgang Wilhelm von der WASt (Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen). Dokumentiert sind im vorliegenden Band die Referate, die im November 2014 auf der im Buchtitel benannten Tagung gehalten wurden; außerdem werden auf über 80 Seiten Auszüge der Diskussionsbeiträge einer Podiumsdiskussion und von vier Workshops publiziert. Die Podiumsdiskussion und die Workshops griffen Fragestellungen auf, wie sie in den Referaten der Tagung angesprochen wurden. In den redigierten Protokollen werden in erster Linie Beiträge aus dem Publikum ausführlich berücksichtigt – eine sinnvolle, teilweise kritische, vor allem aber auch inhaltliche Ergänzung der Standpunkte der ReferentInnen.

Anlass der Fachkonferenz war das Bestreben der Stadt Wien, neue Impulse des Erinnerns an die Verfolgung von Lesben, Schwulen und Transgender-Personen während der NS-Zeit zu setzen. Ein erster Versuch, ein Denkmal für diese Opfergruppen in Wien zu realisieren, scheiterte 2009 (nicht nur) an technischen Problemen.

Der erste Beitrag von Corinna Tomberger gibt einleitend einen Überblick über die bis 2014 in Wien errichteten Denkmale für NS-Opfer. Bis in die 1960er Jahre wurde mit ihnen an Kämpfer für Österreichs Freiheit erinnert, erst danach auch an einzelne Opfergruppen, wie die österreichischen Juden oder die Opfer der Militärjustiz. Die in diesem Text behandelten Mahnmale sind fotografisch dokumentiert, ebenso wie weitere realisierte oder projektierte Erinnerungsstätten und Mahnmale im In- und Ausland. In Bezug auf Gedenkstätten für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus liefert der Band meines Wissens den umfassendsten bildlichen Überblick. Anschließend schildert Tomberger den Diskussions- und Entscheidungsprozess um ein Mahnmal zum Gedenken an die homosexuellen und transgender Opfer des Nationalsozialismus in Österreich und die ihrer Ansicht nach nicht gelösten Probleme, wie u. a. die Frage nach dem Denkmalzweck, nach Opfergruppen und TäterInnen, nach der Verquickung von Vergangenheits- und Gegenwartsbezug sowie nach der Einbindung der lesbisch-schwulen und transgender Community und der Fachwissenschaften (von der Geschichtswissenschaft bis zur Stadtplanung). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die Initiative zu einem derartigen Mahnmal in Wien von städtischer bzw. politischer Seite und nicht von der Zivilgesellschaft bzw. der "Szene" ausging. Die Einbeziehung der transgender Opfer hat zu Beginn der Diskussion kaum jemand gefordert, heute ist sie fast selbstverständlich. An dieser Stelle sei im Vorgriff auf Eva Blimlingers Beitrag, den vorletzten Aufsatz in diesem Sammelband, hingewiesen: Sie fordert die freie künstlerische Interpretation der Idee eines Erinnerungszeichens. Mit Recht betont sie, dass dessen gesellschaftliche Relevanz und dessen Wahrnehmung durch die Gesellschaft von der künstlerischen Umsetzung abhängig ist.

Über das Denkmalprojekt hinaus weist die von QWIEN initiierte namentliche Erfassung der homosexuellen und transgender Opfer des Nationalsozialismus in Wien. Wichtigste Quelle des Projekts sind erhalten gebliebene Akten von Wiener Strafgerichten; die Akten des Wiener Jugendgerichts wurden bei dessen Auflösung noch nach 2003 vernichtet; die Bestände der SS- und Polizeigerichte gelten als verloren. Vorläufige Befunde bestätigen bisherige Forschungsergebnisse, zum Beispiel, dass weniger als 10% der erfassten Personen Frauen waren; nur ein Fall betrifft eine intersexuelle Person, bei wenigen anderen ist die Geschlechtszuschreibung fraglich. Eva Fels von TransX berichtete bei der Podiumsdiskussion ergänzend, dass ihr 26 Biografien von Trans-Personen aus der NS-Zeit vorliegen. Aussagen über die soziale Herkunft der im Namens-Projekt von QWIEN erfassten Personen und über den Strafvollzug werden möglich sein, wenn das Projekt abgeschlossen ist. Belastbare Ergebnisse können eine wichtige Grundlage für Zielsetzung und Gestaltung des Wiener Mahnmals bilden. TransX zieht aus seinen Erkenntnissen über Transgender-Personen die vorläufige Konsequenz, bei der Beschriftung eines Mahnmals auf den Begriff "transgender" zu verzichten.

Andreas Pretzel betont in seinem Text Ein Mahnmal als Anstoß, dass Gedenken sich nicht auf die Errichtung eines Mahnmals beschränken darf; durch Initiativen wie die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld könnte und sollte ein Kommunikationsprozess angestoßen werden, der im Idealfall gesellschaftliche Veränderungen initiieren kann. Ähnlich argumentiert Stefanie Endlich, wenn sie die Wiener Diskussion in internationale Debatten und Gestaltungsüberlegungen einbettet. Sie beschränkt sich bei den von ihr vorgestellten Beispielen nicht auf Denkmale für NS-Opfer, sondern bezieht Installationen ein, die allgemein an Diskriminierung und Verfolgung homosexueller Menschen und an deren Kampf für Gleichberechtigung erinnern, zum Beispiel das Gay Liberation Monument in New York oder das Homomonument in Amsterdam. Diese Ausweitung der Perspektive ist von Bedeutung, weil die AkteurInnen in Initiativgruppen heute in den seltensten Fällen noch selbst Opfer des NS-Terrors sind, wohl aber in vielen Fällen Ungerechtigkeit und Diskriminierung am eigenen Leib erfahren mussten. Solche Projekte bewerten den Gegenwarts- und Zukunftsbezug als gleichberechtigt gegenüber der Totenehrung oder räumen diesen Aspekten sogar eine größere Bedeutung ein.

Mit der Frage der Opfergruppen, an die erinnert werden soll, setzt sich Michael Schwartz auseinander. Homosexuelle wurden in den drei Nachfolgestaaten des "Großdeutschen Reiches" erst spät überhaupt als Opfer des NS-Rassismus anerkannt. Diese Anerkennung bezog sich anfangs fast ausschließlich auf homosexuelle Männer, da deren Verfolgung durch Strafverfahren und KZ-Einweisung am augenfälligsten war. Zuerst Lesben, dann auch Trans- und Interpersonen kritisierten diese Akzentuierung mit Recht. Wie eine Umschreibung und Abgrenzung der Opfergruppen aussehen kann, die gleichzeitig das gemeinsame Schicksal der Diskriminierung und die Unterschiede in der Intensität der Verfolgung und im Leben berücksichtigt, ist vorläufig nicht zu klären. Erschwert wird eine überzeugende Definition bzw. Abgrenzung der Opfergruppen auch dadurch, dass es schwule Täter und lesbische Täterinnen gab, DenunziantInnen, Männer, die Minderjährige missbraucht haben, schwule Profiteure des NS-Regimes und "ganz normale" Lesben und Schwule, die in Nischen des Systems oder durch Anpassung relativ unbehelligt die Schrecken der NS-Zeit überstanden haben.

Mit der Frage der zeitlichen Abgrenzung setzt sich Albert Knoll auseinander: Ist es legitim, das Gedenken auf die Verfolgung während der NS-Zeit zu fokussieren? Er erinnert daran, dass auch nach 1945 in Österreich und Deutschland Menschen wegen ihrer sexuellen Identität (oder weil sie Wehrmachtsdeserteure waren oder Sinti bzw. Roma sind) ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt wurden. Dieser Aspekt sollte bei der Diskussion über ein Mahnmal nicht ausgeklammert werden.

Insgesamt liefert der Dokumentationsband einen Überblick über die Inhalte der Erinnerungsdiskussion, nicht nur in Österreich. Defizite der bisherigen Diskussion werden nicht übergangen, neue Überlegungsansätze aufgezeigt. Eine Lösung, wie ein Mahnmal den gewachsenen Anforderungen angesichts beschränkter Realisierungsmöglichkeiten gerecht werden kann, ist aber leider nicht in Sicht.

Die Aufsätze werden jeweils ergänzt durch Literaturverzeichnisse, die in der Summe einen guten Überblick über die Publikationen zur Mahnmals- und Erinnerungsdiskussion geben; eine Zusammenführung zu einem einheitlichen Literaturverzeichnis wäre vielleicht hilfreich gewesen.

Die hier vorgelegte Rezension sollte eigentlich bereits im Invertito-Band 2015 erscheinen. Aus gesundheitlichen Gründen war es mir leider nicht möglich, sie vor Redaktionsschluss fertig zu stellen. Am Diskussionsstand hat sich meines Wissens bis heute wenig geändert, was nicht bedeutet, dass die homosexuellen, trans-, bi- usw. Opfer des Nationalsozialismus in Wien vergessen sind. Es gab mehrfach temporäre Installationen, zuletzt 2016 die Installation "Raising the bar" am Naschmarkt von Simone Zaugg. Angesichts der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Anforderungen an ein Mahnmal scheint mir eine Lösung mit temporären, an verschiedenen Standorten errichteten und inhaltlich unterschiedliche Schwerpunkte setzenden Erinnerungsstätten nicht die schlechteste Variante. Vor der Errichtung des Berliner Mahnmals für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus gab es u. a. den Vorschlag, auf ein zentrales Mahnmal zu verzichten. Eine dezentrale Lösung wurde aber schnell verworfen und die Diskussion auf die unterschiedlichen Arten der Verfolgung von Schwulen und Lesben verengt. Den umfassenden Ansprüchen, denen das Wiener Mahnmal genügen soll, genügt das Berliner offensichtlich nicht. Die Diskussion um die Opfer des Nationalsozialismus und das Gedenken an ihr Schicksal ist, wie der vorliegende Band belegt, seit der Errichtung des Frankfurter Engels, des Kölner oder Berliner Mahnmals nicht stehen geblieben und wird auch nicht beendet sein, wenn in Wien eines Tages ein zentrales Monument eingeweiht werden sollte.

"Zu spät?" fragt der Titel der Schrift. Er zitiert die Pflanzeninstallation von Carola Dertnig und Julia Rode von 2011/12 auf dem Morzinplatz, der 1938–1945 Adresse der Wiener Gestapo-Zentrale war. Dertnig und Rode kritisierten mit "ZU SPÄT" (ohne Fragezeichen) das Versäumnis der zeitgerechten Anerkennung von homosexuellen und transgender Opfern des Nationalsozialismus in Österreich. Für Gedenken und Erinnerung ist es allerdings nie zu spät. Ob ein zentrales Monument dafür notwendig ist, bleibt auch nach dieser Konferenz offen.