Marti M. Lybeck:
Desiring Emancipation.

New Women and Homosexuality in Germany, 1890–1933,
Albany: State University of New York,
Press, 2014, 300 S.,$ 29,95  

sorry, no cover

 

Rezension von Andrea Rottmann, University of Michigan

Erschienen in Invertito 18 (2016)

Marti M. Lybeck untersucht in der hier besprochenen Publikation, wie sich in Deutschland eine Identität homosexueller Frauen entwickelte. Dieser Prozess, so zeigt sie, verlief im Spannungsfeld von Frauenbewegung, Sexualwissenschaft, homosexueller Emanzipationsbewegung und den sich radikal verändernden soziopolitischen Lebensbedingungen für Frauen. Lybeck erforscht das Selbstverständnis von Frauen, die nicht der zeitgenössischen Norm von Geschlecht und Sexualität entsprachen. Ihr Erkenntnisinteresse gilt der Frage, wie die gewaltigen Veränderungen, die sich in den Bereichen Geschlecht und Sexualität in der Hochphase der Moderne abspielten, "auf der Ebene des einzelnen Menschen" [1] (S. 13) vonstattengingen. Der Titel ihres Buches – Desiring Emancipation, nicht Emancipating Desire – deutet bereits ihre These an: Für die von ihr betrachteten Frauen wog der Wunsch nach persönlicher Autonomie schwerer als der nach sexueller Befreiung. Lybecks Vorhaben ist vielversprechend. Zwar sind in den letzten zwei Jahrzehnten wichtige Monographien zur Geschichte der Subjektivität und Repräsentation intimer Frauenbeziehungen, weiblicher Homosexualität und nichtnormativen Geschlechts im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik erschienen: Kirsten Plötz' Einsame Freundinnen? (1999), Margit Götterts Macht und Eros (2000), Heike Schaders Virile, Vamps und wilde Veilchen (2004), Christiane Leidingers Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elberskirchen (1864–1943) (2008) und Katie Suttons The Masculine Woman in Weimar Germany (2011). Die vorliegende Untersuchung zeichnet sich aber insbesondere dadurch aus, dass sie den langen Zeitraum vom späten Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik betrachtet sowie Fallstudien mit Diskursanalyse verbindet. Ihren konzeptionellen Rahmen formuliert Lybeck als "Tripelhelix" aus den Analysebegriffen "Emanzipation, Homosexualität und Subjektivität über einen historischen Zeitraum, in dem die drei Stränge sich ineinander verwoben und eine wachsende Bedeutsamkeit für die Definition individueller Leben erlangten" (S. 4). Die sich in ihrem Betrachtungszeitraum "entwickelnde Problematik weiblicher sexueller Subjektivität" sei, so die Autorin, bis in aktuelle Kontroversen um Geschlecht und Sexualität wirksam (ebd.).

Der Begriff der Emanzipation verweist auf zwei soziale Bewegungen, in deren Umfeld sich einige der Protagonistinnen Lybecks verorteten: die Frauenbewegung der Vorkriegszeit und die homosexuelle Emanzipationsbewegung. Den Ausdruck versteht sie aber vor allem im Sinne einer inneren Emanzipation, welche die politische und juristische notwendig begleitet habe: Sie interessiert sich für den Prozess, wie "das Selbst zum autonomen und selbstbestimmten Subjekt umgearbeitet" wurde (S. 5). Lybeck schreibt keine Bewegungsgeschichte; ihre Subjektivitätsgeschichte untersucht, wie sich das Politische im Privaten vollzog. Ihren zweiten Analysebegriff "Homosexualität" entnimmt Lybeck dem sexualwissenschaftlichen Diskurs der Zeit. Ihre Entscheidung, den Begriff "lesbisch" nicht zu benutzen, begründet sie zum einen damit, dass einige ihrer historischen Protagonistinnen – Frauen im Berlin der Zwischenkriegszeit – das Wort ablehnten. Darüber hinaus erscheint ihr "lesbisch" aber "immer noch zu eng mit der Macht der Identifikation verbunden", zu sehr in "Definitions- und Besitzkämpfe" verstrickt (S. 12). Folglich geht es Lybeck nicht darum, lesbische Vorfahrinnen zu finden. Vielmehr möchte sie die Phänomene der "Neuen Frau" und der weiblichen Homosexuellen voneinander getrennt betrachten, um zu verstehen, wie Frauen in dieser Zeit diese Phänomene wahrnahmen und sich in ihnen – oder gegen sie – verorteten. Dafür befragt sie eine breite und vielfältige Quellenbasis: Archivdokumente, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, wissenschaftliche Veröffentlichungen und Populärliteratur.

Im ersten Kapitel widmet sich Lybeck dem Milieu von Züricher Studentinnen um die Jahrhundertwende. Als zentraler Text dient ihr hier der 1901 erschienene Roman Sind es Frauen? Roman über das Dritte Geschlecht von Aimée Duc (Pseudonym von Minna Wettstein-Adelt). Darüber hinaus betrachtet sie weitere Erzähltexte, Memoiren und andere Selbstzeugnisse von Akademikerinnen und Frauenrechtlerinnen wie Käthe Schirmacher, Ella Mensch oder Frieda Duensing, von denen viele in Frauenbeziehungen lebten. Anhand dieser Quellen untersucht sie das Frauenstudium als Experimentierfeld für neue Theorien und Praktiken von Geschlecht und Sexualität. Dabei stellt sie fest, dass diese Frauen die Position des klassischen liberalen Subjekts nur dann einnehmen konnten, wenn sie ihr Begehren, ob hetero- oder homosexuell, dem Dienst an einem höheren Ziel unterordneten.

München ist Schauplatz von Lybecks zweitem Kapitel. In ihrer Analyse der "Experimente in weiblicher Maskulinität" (Kapiteltitel) von Sophia Goudstikker, die dort 1888 mit ihrer Partnerin Anita Augspurg ein Fotostudio eröffnete, verbindet Lybeck wiederum fiktionale und nichtfiktionale Quellen. Goudstikker, von der USamerikanischen Forschung als "selbstbewusste Lesbe" reklamiert, war die Basis für maskuline, cross-dressende Frauenfiguren in Romanen von Lou Andreas-Salomé, Frieda von Bülow und Ernst von Wolzogen. Von ihr sind aber interessanterweise keine Belege für Crossdressing oder andere Elemente weiblicher Maskulinität erhalten. Genauso wenig weisen die Quellen nach, dass Augspurg und Goudstikker ihre Beziehung als in ihrer sexuellen Identität verwurzelt begriffen. Diese nahm, so die Autorin, zu diesem Zeitpunkt erst in der sexualwissenschaftlichen Literatur, aber noch kaum darüber hinaus Form an. In den fiktionalen Texten, die von Goudstikker inspiriert waren, findet Lybeck allerdings diverse queere Lese- und Identifikationsmöglichkeiten. Die "maskuline Mimikry" der Goudstikker-Figur wirkt sowohl auf Männer als auch auf Frauen erotisch anziehend. Trotzdem finden die Geschichten allesamt ein heterosexuelles Ende. "Viele, wahrscheinlich die meisten Frauen konnten sich das Erotische oder Sexuelle nur schwer als identitätskonstituierenden Faktor vorstellen", so Lybeck (S. 81), und gleichgeschlechtliche Partnerschaften waren noch nicht als Alternativen zur heterosexuellen Ehe vorstellbar.

In den Jahren zwischen 1900 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, dem Betrachtungszeitraum ihres dritten Kapitels, sieht Lybeck eine grundlegende Veränderung in ihren Problemfeldern Frauenemanzipation, Homosexualität und sexuelle Subjektivität. Was um die Jahrhundertwende noch als Merkmal der nach Emanzipation strebenden "Neuen Frau" verstanden wurde, wird jetzt zunehmend als Zeichen von weiblicher Homosexualität gelesen. Sexualwissenschaftliche Diskurse über homosexuelle Frauen kommen nun über die Aufklärungsschriften des Wissenschaftlich-humanitären Komitees oder die zwischen Wissenschaft und Sensationalismus verortbare Serie der Großstadt-Dokumente, in denen neben Magnus Hirschfeld auch der Gefängnisarzt Wilhelm Hammer und die Schriftstellerin Ella Mensch über weibliche Homosexualität berichten, in der Öffentlichkeit an. Daneben untersucht die Autorin die Debatte um die Reform des Kriminalstrafrechts im Jahr 1911, als um die Abschaffung oder Reform des §175 gestritten und erwogen wurde, auch homosexuelle Handlungen von Frauen unter Strafe zu stellen. Wenn das nicht geschah, dann unter anderem, weil sich die Juristen schwertaten, Sex zwischen Frauen explizit zu besprechen und das Äquivalent zur strafbaren Handlung des §175 – der Penetration – zu bestimmen. Besonders interessant ist Lybecks Analyse einer Serie von Zeitungsartikeln, die im Fahrwasser der Harden-Eulenburg-Affäre weibliche Homosexualität in der Hauptstadt geißelten. Der Skandal um homosexuelle Beziehungen zwischen Vertrauten des Kaisers Wilhelm II. erschütterte 1907 bis 1909 das Kaiserreich. Zwischen 1908 und 1911 veröffentlichte der Publizist Felix Wolff im Wochenblatt Große Glocke eine Reihe sensationslüsterner Artikel. Diese zeigen, dass sich als homosexuell verstehende Frauen schon vor dem Ersten Weltkrieg begannen, sich zu organisieren, und auch im Stadtbild sichtbar wurden. Die Subkultur und Öffentlichkeit homosexueller Frauen der Weimarer Republik hatten also ihre Wurzeln in der Vorkriegszeit. Die Reaktionen der involvierten Frauen auf die Skandalartikel – sie bestritten die Vorkommnisse und strengten in einem Fall sogar einen Prozess wegen Rufschädigung an – demonstrieren, dass sie die Diskurse um weibliche Homosexualität aktiv mitgestalteten. Im vierten Kapitel, Verlangen verleugnen, untersucht Lybeck drei Fälle aus den 1920er Jahren, in denen berufstätige Frauen der Homosexualität bezichtigt wurden: die Lehrerin Anna Philipps in Geestemünde bei Bremerhaven (bekannt aus Kirsten Plötz' Einsame Freundinnen?), die Frankfurter Krankenschwester Hedwig Atteln und die Hamburger Kriminalkommissarin Josefine Erkens. Ihre Analyse zeigt, dass sexologisches Wissen zu diesem Zeitpunkt unter berufstätigen Frauen so weit verbreitet war, dass es als Waffe gegen Kolleginnen eingesetzt werden konnte. Dagegen zeigte der Arbeitgeber in diesen Fällen wenig Interesse an der Sexualität seiner Angestellten. Gleichzeitig erscheint in den Fallstudien "homosexuell" nicht als Identitätsbezeichnung. Vielmehr benutzen diese Frauen die Bezeichnung lediglich zur Beschreibung von "Handlungen, Beziehungen, vielleicht Tendenzen" (S.150). Das Stereotyp der männlichen Lesbe hatte in den Disziplinarverfahren keine Bedeutung. Im Verständnis von weiblicher Homosexualität, mit dem die Frauen selbst operierten, war vielmehr die sexuelle Natur homosexueller Frauenbeziehungen zentral. Hier zeigt sich also eine Verschiebung des Problemfelds weiblicher Homosexualität seit der Zeit um die Jahrhundertwende: weg von der Überschreitung normativer Vorstellungen von Geschlecht, hin zum explizit sexuellen Charakter von Frauenbeziehungen.

Im letzten Kapitel untersucht Lybeck schließlich anhand der Zeitschriften Die Freundin und Frauenliebe das Erscheinen der homosexuellen Bürgerin in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik. Deren Situation zwischen Berliner Subkultur und respektabler Staatsbürgerin, zwischen der vom Kampf gegen den §175 dominierten homosexuellen Emanzipationsbewegung und der von Fragen der Mutterschaft bestimmten Frauenbewegung der Zeit war angespannt. Lybeck formuliert das Anliegen homosexueller Frauen in der Weimarer Republik als "Kampf für einen Ort, von dem man sprechen kann und wo man ernst genommen wird" (S. 154). Um dorthin zu gelangen, war es für die Autorinnen beider Zeitschriften zentral, Wohlanständigkeit zu verkörpern, wofür wiederum die Kontrolle der eigenen Lust Voraussetzung war. Ausgeschlossen wurden Prostituierte und bisexuelle Frauen, unter anderem mit Hilfe der sexualwissenschaftlichen Thesen von angeborener und erworbener Homosexualität: Viele Autorinnen plädierten dafür, nur mit ausschließlich homosexuellen Frauen Kontakt zu haben. Den Respekt, den sich diese Frauen zu verschaffen suchten, forderten sie unter anderem mit dem Hinweis auf die Leistungen homosexueller Frauen für die deutsche Nation ein. Andere verlangten "die Anerkennung des ästhetischen und ethischen Wertes erotischer Liebe" zwischen Frauen, ganz wie die Maskulinisten der Männerbund-Theoretiker für die männliche Homosexualität (S. 175). Lybeck sieht die in den Zeitschriften vertretenen politischen Forderungen und Ideen insgesamt im Kontext einer elitären, sich gegen die Massen positionierenden Politik. Ihr Fazit: "Die Durchsetzung sexueller Subjektivität bedeutete paradoxerweise, auf das Recht auf Verlangen zu verzichten" (S. 180). In dieser Hinsicht erging es den homosexuellen Freundinnen der Weimarer Republik also nicht anders als den Studentinnen der Jahrhundertwende.

Lybeck grenzt ihre drei Analysebegriffe nicht immer scharf voneinander ab. Den Prozess der inneren Emanzipation beschreibt sie etwa schlüssig als "Formierung von Subjektivität" (S. 4), wobei unklar ist, inwiefern sich innere Emanzipation und Subjektivität unterscheiden. Die Vielfalt ihrer Quellen und die diversen Überschneidungen ihrer Analysefelder erschweren es manchmal, ihrer Untersuchung zu folgen. Die messiness, die Prozesse von Emanzipation und Subjektivität und Kategorien von Homosexualität auszeichnet, spiegelt sich eben auch in ihrem eigenen Text wider. Gleichzeitig ist die Vielfalt auch die große Stärke von Lybecks Untersuchung. Ihre Analyse der Skandalpresse um weibliche Homosexualität im Nachklang der Harden-Eulenburg-Affäre und ihre Betrachtung der drei Disziplinarfälle aus den 1920er Jahren fördern zum Teil unbekanntes Material zu Tage. Ihre Lektüre von Sind es Frauen? sowie der Freundin und der Frauenliebe eröffnet neue Perspektiven auf bekannte Quellen und stellt bisherige Annahmen in Frage: zum Beispiel über das Selbstverständnis der in Frauenbeziehungen lebenden Frauen oder den Zusammenhang von Rollenverständnis und Klassenzugehörigkeit in der Subkultur der 1920er Jahre. Durch den langen Betrachtungszeitraum ihrer Studie gelingt Lybeck ein differenziertes Verständnis der sich verändernden Bedeutung weiblicher Männlichkeit und weiblicher Homosexualität und der Möglichkeiten der sexuellen Subjektivität von Frauen. Desiring Emancipation stellt damit einen wichtigen Beitrag zur queeren deutschen Geschichte, zu einer kritisch-reflektierten Lesbengeschichte und zur Geschichte der Homosexualitäten dar.

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[1] Diese und folgende Übersetzungen stammen von der Rezensentin.