Walter Franz / Stephan Klecha / Alexander Hensel (Hg.):
Die Grünen und die Pädosexualität

Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2015, 304 S., 8,00 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Klaus Sator, Berlin

Erschienen in Invertito 17 (2015)

Bei der hier vorgestellten Studie handelt es sich um die Forschungsergebnisse einer Auftragsarbeit des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Auftraggeber war der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen. Die Partei war im Vorfeld der Bundestagswahlen 2013 wegen der Haltung zur Pädosexualität in ihrer Entstehungszeit massiv kritisiert worden, insbesondere aus den Unionsparteien sowie der sich gerade formierenden Alternative für Deutschland (AfD). In den 1980er Jahren war in den Reihen der Westgrünen die Forderung nach einer Legalisierung sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen debattiert und verschiedentlich auch beschlossen worden. Das wurde führenden Repräsentanten von Bündnis 90/Die Grünen im Wahlkampf angelastet. Die Kritik hatte auch innerhalb der Partei für Verunsicherung gesorgt, insbesondere unter den jüngeren, mit der Geschichte der Grünen weniger vertrauten Mitgliedern. Mit der Vergabe eines Forschungsauftrags an eine externe Forschungseinrichtung wollte die Partei Klarheit über die Entwicklung der eigenen Haltung zur Pädosexualität und gegenüber Pädophilen erlangen. Für das Verfassen der Studie hatte das Göttinger Institut für Demokratieforschung ein gutes Jahr Zeit. Wie sein Direktor Franz Walter bei der Präsentation der Forschungsergebnisse im November 2014 erklärte, hätten er und seine Mitarbeiter frei von einer Einflussnahme durch den Auftrag- und Geldgeber zum Thema forschen können.

Der veröffentlichte Sammelband präsentiert die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe aus elf WissenschaftlerInnen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten des Themas beschäftigt haben. Alle neun Beiträge sind gut recherchiert und mit umfangreichen Quellennachweisen versehen. In der von Stephan Klecha und Alexander Hensel verfassten Einleitung "Irrungen oder Zeitgeist? Die Pädophilie-Debatte und die Grünen" (S. 7-22) werden Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse näher erläutert sowie die verwendeten Materialien vorgestellt und problematisiert. Herangezogen wurden neben vorrangig deutschsprachiger Fachliteratur und archivalischen Quellen auch Zeitzeugeninterviews, die im Rahmen des Forschungsprojekts durchgeführt wurden. Zentrale Begriffe der Debatte werden problematisiert und ihr Bedeutungswandel thematisiert.

Danny Michelsens Beitrag zum Thema "Pädosexualität im Spiegel der Ideengeschichte" (S. 23-59) liefert einen historischen Überblick zur Verbreitung von und zum Umgang mit Pädosexualität. Seine Ausführungen machen deutlich, dass sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern kein modernes Phänomen sind. Solche Beziehungen waren auch in ihrem jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext, vor dessen Hintergrund sie gesehen werden müssen, nicht unumstritten. Michelsen präsentiert zahlreiche interessante Informationen zur Sittengeschichte. Seine Ausführungen etwa zur Geschichte der christlichen Sexualdoktrin machen deutlich, dass für die Kirche heterosexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen nur dann ein Problem darstellten, wenn sie außerhalb der kirchlich sanktionierten Ehe stattfanden. Ansonsten wurde der Sexualverkehr von erwachsenen Männern mit minderjährigen geschlechtsreifen Mädchen lange Zeit nicht in Frage gestellt. Intergenerationeller Geschlechtsverkehr galt, so Michelsen, in früheren Zeiten nicht immer als Tabubruch.

Die vier folgenden Beiträge untersuchen den gesellschaftspolitischen Kontext der Zunahme der Beschäftigung mit dem Thema Sexualität in der Bundesrepublik im Vorfeld der Debatte über Pädosexualität bei den Grünen. In ihrem Beitrag "Sexualität und Herrschaft. Zur Politisierung des Orgasmus" (S. 60-84) beschäftigen sich Tobias Neef und Daniel Albrecht mit dem gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit Sexualität im Nachkriegsdeutschland, ihrer Politisierung sowie der damit einhergehenden Etablierung der Sexualwissenschaften an bundesdeutschen Hochschulen und deren Beschäftigung mit dem Thema Pädosexualität und ihren unterschiedlichen Auffassungen zur Pädophilie. Katharina Trittel und Jöran Klatt untersuchen in ihrem Beitrag "Stück für Stück holen wir uns unsere Kindheit zurück! Antipädagogik und Paradoxien des Erziehungsdiskurses" (S. 85-107) die Veränderung der gesellschaftlichen Sicht auf Kinder und der Konzepte von Kindheit. Dabei thematisieren sie auch die Frage nach einer eigenständigen kindlichen Sexualität, wie sie in den Debatten um die Befreiung der Kinder von gesellschaftlichen Zwängen vertreten wurde. Die Entwicklung des deutschen Sexualstrafrechts im gesellschaftlichen Wandel untersucht Franz Walter in seinem Beitrag "In dubio pro libertate" (S. 108-135). Er konstatiert dabei einen Wandel weg von naturrechtlichen Moralkategorien hin zu Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Geschichte der westdeutschen Pädophilenbewegung dokumentieren Alexander Hensel, Tobias Neef und Robert Pausch in ihrem Beitrag "Von Knabenliebhabern und Power-Pädos" (S. 136-159). Sie benennen deren ideologische und kulturelle Vorläufer und untersuchen ihr politisches Wirken innerhalb der westdeutschen Schwulenbewegung.

Auf welche Weise sich die in vorangegangenen Beiträgen beschriebenen Entwicklungen auf die sich Ende der 1970er Jahre formierende Partei ausgewirkt und ihre Programmdiskussion beeinflusst haben, analysiert Stefan Klecha in seinem Beitrag "Niemand sollte ausgegrenzt werden. Die Kontroverse um die Pädosexualität bei den frühen Grünen" (S. 160-227). Johanna Klatt, Alexander Hensel und Oliver D’Antonio gehen in ihrem Beitrag "Andere Perspektiven, neue Fronten" den gesellschaftlichen Entwicklungen nach, die schließlich in den 1980er Jahren die Pädophiliedebatte verdrängt haben (S. 228-251). Sie verweisen auf die zentrale Rolle der neuen Frauenbewegung, die den gesellschaftlich tabuisierten sexuellen Missbrauch zu einem zentralen Thema machte und die Öffentlichkeit für unterschiedliche Formen sexueller Gewalt sensibilisierte. Eine zusammenfassende kritische Bewertung der in den einzelnen Beiträgen präsentierten Erkenntnisse enthält das von Franz Walter verfasste Fazit "Die Grünen und die Last des Libertären" (S. 252-272).

Obwohl der Sammelband keinen eigenständigen Beitrag zum Thema Homosexuelle und Pädosexualität enthält, wird die zentrale Rolle deutlich, die einzelnen homosexuellen Aktivisten und der Schwulenbewegung bei der Propagierung und Entkriminalisierung der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern zukommt. Es wird dargelegt, dass und warum die Legalisierung von einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern zu ihren politischen Zielen zählte und lange Zeit gegenüber kritischen Stimmen aus den Reihen der Frauen- und Lesbenbewegung verteidigt wurde. Die unterschiedlichen Positionen und deren Begründungen werden herausgearbeitet.

Die Studie macht deutlich, dass die Haltung zu Pädosexualität historischen Wandlungen unterlag. Sie zeigt auf, dass sowohl die heute unter dem besonderen Schutz der Gesellschaft stehende Kindheit wie auch der Strafbestand des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen gesellschaftliche Konventionen jüngeren Datums sind.

Bereits mit dem Untertitel des Sammelbandes "Eine bundesdeutsche Geschichte" wird die zentrale Erkenntnis der Forschungsergebnisse dieser Auftragsarbeit auf den Punkt gebracht: Die Auseinandersetzungen der westdeutschen Grünen mit der Pädosexualität werden als Teil der in den sechziger Jahren beginnenden gesellschaftlichen Diskussion über Sexualität und ihrer damit einhergehenden Politisierung gesehen. Als politische Ziele der von Angehörigen sexueller Minderheiten mit initiierten Debatten werden die gesellschaftliche Anerkennung nichtheteronormativer Formen von Sexualität angeführt, Bemühungen zur Reform des Sexualstrafrechts, die Abkehr von traditionellen Beziehungsmodellen sowie die Anerkennung einer eigenen kindlichen Sexualität.

Durch die Berücksichtigung des zeithistorischen Kontexts können die Autoren nachweisen, dass es sich bei der bundesdeutschen Debatte um Pädosexualität und Pädophilie weder um einen genuin grünen noch um einen gänzlich abseitigen Diskurs gehandelt hat. Sie zeigen, dass die damalige Diskussion recht breit geführt wurde und lange vor Gründung der Grünen sich andere Parteien, Organisationen und Gruppierungen wie die Jungdemokraten als einstige Jugendorganisation der FDP, die Humanistische Union, der Deutsche Kinderschutzbund oder Pro Familia sowie einige Medien in ähnlicher Weise wie später die Grünen zum Thema positioniert haben. Hierzu verweist Franz Walter auf eine Anhörung im Deutschen Bundestag im November 1970, in der die dort vortragenden Pädagogen, Sexualwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Kriminologen nahezu übereinstimmend die Auffassung vertraten, dass Kinder durch einvernehmlichen Sex mit Erwachsenen keine Schäden erleiden würden. Es werden zwei zentrale Gruppierungen benannt, die das Thema Pädosexualität in die grüne Partei hineingetragen haben, zum einen die innerhalb der Schwulenbewegung wirkenden Pädophilen und zum anderen die aus der Kinderladenbewegung kommenden, sich auf die Reformpädagogik berufenden Verfechter der Kinderrechte.

Die Studie macht deutlich, dass sich zwischenzeitlich das gesellschaftliche Klima geändert und ein grundlegender Paradigmenwechsel zu den Themen Pädosexualität und Pädophilie in der öffentlichen Meinung, in der Wissenschaft und auch innerhalb der Schwulenbewegung stattgefunden hat. Für die Gegenwart wird eine größere Sensibilität zum Thema konstatiert und die Möglichkeit einvernehmlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern problematisiert und in Frage gestellt.

Insgesamt haben die AutorInnen eine informative und detailreiche Studie zum Thema vorgelegt, die Anregungen zu weiteren und vertiefenden Forschungen enthält, z. B. zur Geschichte der homosexuellen Pädosexualität oder zur Instrumentalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Begegnungen zwischen Männern und Jungen durch Männer, die Knaben lieben und begehren. Ein Namensregister hätte den Wert der Veröffentlichung als Nachschlagewerk erhöht.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 17