Peter-Paul Bänziger / Magdalena Beljan / Franz X. Eder / Pascal Eitler (Hg.):
Sexuelle Revolution?

Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren,
Bielefeld: transcript 2015, 376 S., Print: 29,99 € , E-Book: € 26,99 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Stefan Micheler, Hamburg

Erschienen in Invertito 17 (2015)

Die Zahl der Veröffentlichungen zur Geschichte der Sexualität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist in den letzten zehn Jahren gestiegen. Sexualitätsgeschichte ist aber nach wie vor ein Nischenthema der Geschichtswissenschaft, wenn auch etablierte HistorikerInnen und Forschungsinstitute dem Thema mehr Beachtung schenken. Der 2015 erschienene Band Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren versammelt neben der Einleitung und zwei Überblicksartikeln 12 Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten des Wandels des Sexualitätsdiskurses seit den 1950er Jahren unter dem Einfluss der "Sexuellen Revolution" der 1960er und 1970er Jahre. Sie beschäftigen sich mit Aufklärungsliteratur, Pornographie, sexuellen Hilfsmitteln, Körperbildern, Beziehungsgesprächen, Positionen der katholischen Kirche zur Verhütung, der Betrachtung kindlicher Sexualität und der älterer Menschen sowie mit dem Verhältnis von Frauenbewegung und "Sexueller Revolution", Normalisierungsstrategien homosexueller Männer und der öffentlichen Auseinandersetzung mit HIV/Aids. Einigen der Aufsätze liegen Beiträge zu einer medienwissenschaftlichen Tagung an der Universität Luxemburg im Jahr 2007 zugrunde.

Die vier HerausgeberInnen nennen in ihrer knappen ambitionierten Einleitung zwei Ziele der Veröffentlichung: erstens die "Sexuelle Revolution und ihre Nachgeschichte im Licht der aktuellen Forschung" zu betrachten und zweitens "aktuellen Mythologisierungen und anbiedernden Diffamierungen von ‚1968‘" entgegenzuwirken (S. 8). Theoretisch gehen sie, wie zahlreiche AutorInnen, dabei in Anlehnung an das Konzept der Gouvernementalität im Spätwerk des französischen Philosophen Michel Foucault "davon aus, dass Sexualität auch und vor allem ein Modus der Herstellung von Körpern und Subjekten ist, der nicht allein der Fortpflanzung dient, sondern darüber hinaus und insbesondere auch ein Arrangement der Selbst- und Fremdführung darstellt" (S. 9). Die unterschiedlichen Beiträge könnten miteinander in einen "produktiven Dialog" (S. 10) gebracht werden, weil diese "nach jenen Prozessen" fragten, "die in den vergangenen gut fünfzig Jahren Körper und Subjekte nicht nur als sexuelle repräsentierten, sondern auch produzierten und die dabei zunehmend alle Personen anriefen" (S. 11). Gemeinsamer Gegenstand vieler Beiträge sind die Medialisierung der Sexualität, die Politisierung der Sexualität durch die "68er", u. a. in deren Folge auch die "Identitätspolitiken" der Homosexuellenbewegungen, und als gegenläufige Tendenz zur Politisierung die Sexualität "als ein wichtiger Ort der Arbeit an sich selbst – der Selbstsorge" (S. 11), etwa hinsichtlich der Frage nach einer erfüllten Sexualität, hinsichtlich der Körperbilder oder des Sexualverhaltens im Zuge von Aids. Die AutorInnen konstatieren in der Geschichte der Sexualität des (späten?) 20. Jahrhunderts – der zeitgenössischen Sexualwissenschaft folgend – neben dem Konsumcharakter der Sexualität eine "Emotionalisierung der Sexualität", eine zunehmende "Ausrichtung auf Partnerschaftlichkeit und eine Ethik des Aushandels", aus der Kinder herausfielen (S. 15). Ferner hätten die Identitätspolitiken der homosexuellen Bewegungen, die AutorInnen sprechen hier irreführend von "queere[n] Identitätspolitiken" (S. 14), zu einer Verfestigung von Identitätspositionen geführt. Heterosexualität stelle (in westlichen Ländern?) "heute nicht mehr die einzige Norm, sondern eine Position unter anderen" dar, die "explizit artikuliert und inszeniert werden" müsse (S. 14). Nicht nur an dieser Stelle der notgedrungen stark zusammenfassenden Einleitung wären vorsichtigere Formulierungen und klarere zeitliche und räumliche Eingrenzungen der globalen Schlüsse bzw. Urteile wünschenswert gewesen.

Neben der Einleitung und den beiden Überblicksaufsätzen Franz X. Eders und Dagmar Herzogs wird Homosexualität breiter in vier Beiträgen betrachtet: in Benno Gammerls Beitrag über "männliche Homosexualität" als zentrales Thema sowie in den Beiträgen von Imke Schmincke über die Frauenbewegung, von Jens Elberfeld über den Wandel der Betrachtung kindlicher Sexualität als ein wichtiger Aspekt und von Magdalena Beljan über die mediale Inszenierung von HIV/Aids in deutschen Massenmedien. Nur diese sieben Texte sollen an dieser Stelle näher vorgestellt werden, obwohl auch viele der anderen Beiträge lesenswert sind. In ihnen spielt Homosexualität themengeschuldet, explizit ausgeklammert oder unreflektiert kaum eine oder keine Rolle.

Franz X. Eder versucht mit Die lange Geschichte der "Sexuellen Revolution" in Westdeutschland (1950er bis 1980er Jahre) einen umfassenden Überblick zu geben. In seinem facetten- und informationsreichen Beitrag geht er bis in die späten 1940er Jahre zurück und hebt mit Recht die Bedeutung der Fachgeschäfte für Ehehygiene Beate Uhses, die Rezeption des Kinsey-Reports in den 1950er Jahren und die Einführung der Antibaby-Pille in den frühen 1960er Jahren hervor, die erheblich zum Wandel der Sexualmoral beigetragen hätten. Auf der anderen Seite kommen die hegemonialen öffentlichen Diskurse und Maßnahmen von Staat, Kirchen und Erziehungsinstitutionen, die auf eine Kontrolle der Sexualität abzielten, etwa die Familienpolitik der deutschen Bundesregierung oder die Sorge um den "Jugendschutz", die große Zahl von Frühehen und unehelichen Geburten, die letztlich das Scheitern der repressiven und Sexualität fernhaltenden Ansätze und den erforderlichen Reformdruck unterstreichen, zu kurz.

Die Sexualisierung der Printmedien, des Kinos und des Fernsehens, den Wandel der Aufklärungsliteratur in den 1960er und 1970er Jahren sowie die Haltung der beiden großen Kirchen zur Sexualität zeichnet Eder nach. Er referiert zeitgenössische Umfragen zum Sexualverhalten und über Einstellungen zur Sexualität, die zeigen, dass sich die Einstellungen gegenüber "Masturbation", "Doppelmoral" und "Homosexualität" von den 1960er Jahren bis Anfang der 1980er Jahre deutlich gewandelt haben. In einer längeren Passage gibt Eder einen Überblick über die Geschichte der Schwulenbewegung in der BRD einschließlich der Veröffentlichungen zur Entkriminalisierung mannmännlichen Sexes Ende der 1960er Jahre und der Bedeutung des Rosa-von-Praunheim-Films Nicht der Homosexuelle ist pervers … von 1971. Dabei geht er in Anlehnung an Martin Dannecker auf die "Normalisierung und Maskulinisierung der hegemonialen schwulen Kultur" (S. 46) ein.

Die Politik der Studierendenbewegung in Bezug auf Sexualität zeigt Eder in ihren Ambivalenzen auf: Die proklamierte sexuelle Befreiung war primär die des heterosexuellen Mannes, mit Eifersuchtsverbot, Orgasmuszwang und dem Ideal häufigen Sexes wurden neue Normen geschaffen, Homosexualität galt in Anlehnung an Wilhelm Reichs Schriften zum Teil als Ausdruck eines autoritätsfixierten Charakters und angesichts der persönlichen Verhältnisse übte die Frauenbewegung massive Kritik nicht nur an der "Medialisierung und Kommerzialisierung des weiblichen Körpers", sondern auch am Objektstatus von Frauen und der patriarchalen Haltung innerhalb der Studentenbewegung (S. 49). Eder skizziert die Auseinandersetzung mit Sexualität und Lust, darunter Autosexualität und lesbische Sexualität, Prostitution und Pornographie sowie die Debatten um Gleichberechtigung und Abtreibung. Resümierend sieht Eder als Ergebnis der "Sexuellen Revolution" – auch dies analog zu gängigen sexualwissenschaftlichen Positionen – einerseits einen Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten, insbesondere für Frauen und eine Normalisierung etwa der Homosexualität, andererseits eine neue Normierung und eine Kommerzialisierung des Sexes.

Der Überblickscharakter nötigt Eder offensichtlich dazu, globale Aussagen zu treffen, die aufgrund der Diversität des Gegenstandes und des geringen Forschungsstandes so nicht möglich sind. Ein Beispiel für problematische Pauschalisierungen sind seine Ausführungen zur Bedeutung der Entwicklung für Frauen: Der Wandel brachte "einen deutlichen Zuwachs an Handlungsmöglichkeiten", "[z]uallererst für Frauen, die sich nun als sexuelle Subjekte verstanden und über ihre Körper und Reproduktionsfähigkeit genauso verfügen konnten wie über die Realisierung ihres sexuellen Begehrens" (S. 51). Es hat sicherlich auch vor der "Sexuellen Revolution" Frauen gegeben, die sich als sexuelle Subjekte verstanden und selbstbestimmt lebten.

Dagmar Herzog setzt sich in Die "Sexuelle Revolution" in Westeuropa und ihre Ambivalenzen vornehmlich mit dem politischen Anspruch der Studentenbewegung auf gesellschaftlich-politische und persönliche Befreiung des Individuums durch Sex auseinander. Ihren mit Quellen aus unterschiedlichen Ländern reichen Beitrag beginnt sie mit einem bekannten Slogan der Studentenrevolte in Frankreich: "Je mehr ich Liebe mache, desto mehr mache ich Revolution" (S. 347). Sie zeigt die programmatische Verflechtung von Sex und Politik in der radikalen Linken mittels der "Wiederentdeckung der zugleich antikapitalistischen und sex-radikalen Tradition" (S. 353), insbesondere der Texte Wilhelm Reichs, in unterschiedlichen Ländern auf sowie den naiven Glauben, durch die befreite Sexualität tatsächlich zu einer besseren Welt beitragen zu können. Die Hoffnungen, durch "mehr ‚Liebemachen‘" eine politische Revolution herbeizuführen, seien schnell enttäuscht worden. Unter Verweis auf Herbert Marcuses Theorie der "repressiven Entsublimierung" (und quasi in Umkehrung Reichs) habe man erkannt, dass "Anstiftung zur sexuellen Aktivität geradezu ein Weg" sein könne, "um die unterdrückten politischen Klassen politisch still zu halten" (S. 349). "Kurzum: Vielleicht war Sex gar nicht der Königsweg zur politischen Revolution, sondern eher ein betäubendes Gegenmittel" (S. 349).

Herzog stellt fest, dass die Kommerzialisierung der Sexualität als Teil des Konsumkapitalismus mit einer Sexualisierung der Mainstream-Medien und der Werbeindustrie wie auch ein Wandel der Sexualmoral schon in den Jahren 1964 bis 1968, auch unter Einfluss der Antibaby-Pille, eingesetzt habe. Den Wandel der Sexualmoral zeigt sie unter anderem am Beispiel Italiens, wo schon 1964 einer Umfrage zufolge ein erheblicher Teil der jungen Frauen nicht mehr bereit war, sich der Doppelmoral zu beugen, nach der Frauen jungfräulich in die Ehe gehen sollten, während fast drei Viertel der Männer Sex mit Prostituierten hatten. Der Wunsch vieler Menschen nach pornographischen Bildern und liberaleren Gesetzen habe in vielen Ländern die gerade erst verschärfte Gesetzgebung überrollt. Zur rechtlichen Liberalisierung hätten die Wut von AktivistInnen, der Mut von ExpertInnen, der Protest der Straße, die Ausnutzung politischer Skandale, der Appell an den Pragmatismus von PolitikerInnen und eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Bezug auf Einstellungen zu sexualpolitischen Themen beigetragen.

Viele Radikale hätten den Konservativen durchaus auch eine sexuelle Befreiung gewünscht, so deutet Herzog aufgrund entsprechender Sprechblasen französische Karikaturen, auf denen politische Gegner sowohl hetero- als auch homosexuell penetriert werden. (Mir bekannte deutsche Quellen aus der gleichen Zeit inszenieren die Analpenetration politischer Gegner nicht als deren Lustgewinn, sondern als Unterwerfungsgeste). In den Kontext der Bezüge von Sex und Politik der Studentenbewegung habe auch die Vorstellung gehört, dass Sex an sich revolutionär sei. Herzog zitiert dazu den Slogan einiger homosexueller Aktivisten "Unsere Arschlöscher sind revolutionär" (S. 355), allerdings ohne zu hinterfragen, ob die Aktivisten damit bestimmte Formen des Sex oder Homosexualität als politisch im Gegensatz zum Mainstream ansahen. Manche Linke hätten jedoch in der sexuellen Programmatik hauptsächlich eine "gute Gelegenheit zum Sex" gesehen. Die Frauenbewegung habe die bestehenden Probleme zwischen vielen Männern und Frauen und die Kritik an der patriarchalen Gesellschaft artikuliert, unter anderem da die Männer der Studentenbewegung der "maskulinistischen Logik der alten Kultur" weiter angehangen hätten und viele Frauen den Anspruch der Männer kritisiert hätten, Frauen sollten ständig für Sex zur Verfügung stehen. Es sei umstritten, ob die Sexuelle Revolution mehr Freiheiten gebracht habe, denn mit ihr seien auch neue Normen entstanden. Auch hätte die Sexualwissenschaft Mitte der 1990er Jahre einen Rückgang der Libido konstatiert. Mit Blick auf die jüngere repressive Gesetzgebung und gesellschaftliche Diskriminierung, etwa von Homosexuellen in Osteuropa, sei es aber wichtig, die Errungenschaften der Sexuellen Revolution zu verteidigen.

Homosexualität spielt in Herzogs Text immer wieder eine Rolle, zumeist im Kontext des Gesamtthemas, wenn etwa Positionen als heteronormativ gekennzeichnet und Slogans zitiert werden oder die Prostitutionsdebatte referiert wird. Eigene Absätze widmen sich den "schwulen und lesbischen Befreiungsbewegungen" innerhalb der radikalen Linken, insbesondere deren Vorstellung, Homosexualität sei revolutionär bzw. solle revolutionär genutzt werden. Hierbei klassifiziert Herzog das Verhältnis der homosexuellen Befreiungsbewegungen zur breiteren Sexuellen Revolution als "komplex und paradox", da "homosexuelle Männer und lesbische Frauen" in einer Zeit des Aufweichens der Grenzen zwischen Hetero- und Homosexualität, etwa durch den Wandel des Praktizierens von Sexualität und das Aufweichen starrer Beziehungsstrukturen wie der Ehe, begonnen hätten, "ihre unverwechselbare ‚sexuelle Identität‘ zu behaupten und ihr ‚Recht auf Differenz‘ einzulösen" (S. 360). Da nicht nur Herzog diese Position vertritt, sei kurz darauf verwiesen, dass dies Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre nur eine Position der Bewegungen war und dass die Gründe für die Etablierung einer Identitätspolitik im Laufe der 1970er und insbesondere der 1980er Jahre, also im Zuge einer persönlichen Verbürgerlichung von Teilen der Studentenbewegung, sicherlich vielfältig und noch nicht ausreichend erforscht sind. Nicht zuletzt spielt hier neben dem Wunsch der Integration in die bestehende Gesellschaft auch die auf Karl Heinrich Ulrichs und Magnus Hirschfeld zurückreichende Tradition der Vorstellung, "anders als die anderen" zu sein, eine Rolle.

Benno Gammerl sucht in seinem Beitrag Ist frei sein normal? Männliche Homosexualitäten seit den 1960er Jahren zwischen Emanzipation und Normalisierung ein Instrumentarium, eine Geschichte gleichgeschlechtlichen Lebens jenseits der Dichotomie von Befreiung und Repression zu schreiben. In Anlehnung an Jürgen Link orientiert er sich an der Unterscheidung von Normierung, also einer Setzung von außen wie Kriminalisierung und Stigmatisierung, und Normalisierung (Link spricht von "Normalismus"), hier als Strategie, Homosexualität "als eine unter mehreren Möglichkeiten sexuellen Handelns in ein Spektrum der Normalität" einzubinden (S. 225). Dies ist für Gammerl innovativ, weil man Prozesse der Selbstnormalisierung betrachten könne, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine breite gesellschaftliche Wirksamkeit entfaltet hätten. Die Selbstnormalisierung operiere "im Inneren der Subjekte, die sich in paradoxer Weise konform verhalten, gerade weil sie ihre je eigene Individualität frei entfalten wollen" (S. 226). Die "permanente Konkurrenz fördert und fordert allseitige Bemühungen um berufliche, sexuelle, lebensstilistische und anderweitige Selbstverwirklichung, welche die Erreichung bestimmter Normen zum selbst gesteckten Ziel werden lassen" (S. 227). Auch soziale Gruppen wie die "schwule Subkultur" könnten diesen Selbstnormalisierungsprozessen unterliegen, wie die Durchsetzung von Safer Sex in den 1980er Jahren zeige.

Um die Effekte von Normalisierungsprozessen zu zeigen, wertet Gammerl – allerdings ohne die Auswahlkriterien zu nennen – die Zeitschriften Der Kreis, Du und Ich, Don und Rosa Flieder sowie selbstgeführte Interviews mit schwulen Männern aus. Am Beispiel mehrerer Beiträge aus dem Kreis der 1960er Jahre konstatiert Gammerl eine "Ambivalenz zwischen normativer Verwerfung und normalisierender Einbindung der Homosexualität" (S. 230). Es habe in den 1960er Jahren im Kreis ein starkes Bedürfnis nach Abgrenzung von Hetero- und Homosexualität bestanden, während sich der Übergang "zwischen gleich- und gegengeschlechtlicher sexueller Orientierung" in den Zeitschriften der 1970er Jahre zunehmend verflüssigt habe (S. 230), allerdings ohne gänzlich zu verschwinden. Die "Etablierung schwuler Zu- und Zusammengehörigkeit" (S. 231) sei für den Prozess der Normalisierung zentral gewesen, diese "normalisierend wirkende[.] schwule[.] Identität" habe in den 1970er und 1980er Jahren auf zwei Pfeilern geruht: "erstens auf dem Ausschluss von Effeminiertheit, Prostitution und Pädophilie aus dem Bereich der ‚normalen‘ Homosexualität sowie zweitens auf der Praxis des Coming-out und der fortwährenden Auseinandersetzung mit homophoben Bedrohungen" (S. 232). Gammerl beschreibt hier sicher treffend die hegemoniale Position der 1990er Jahre, blendet aber alternative Positionen, wie etwa den "Tuntenstreit" in den 1970er und 80er Jahren aus. Auch wäre ein Hinweis darauf wünschenswert gewesen, dass das Coming-out, wie es heute und im Text verstanden wird, erst ein über eigene Coming-out-Literatur vermitteltes Produkt der Schwulenbewegung ist, das frühestens ab Mitte der 1980er Jahre gesellschaftlich wirksam wurde. Nebenbei sei bemerkt, dass die Frage der Selbstakzeptanz und des offenen Auftretens wie auch die der "homosexuellen Identität" und der Ausschluss von Effeminiertheit, Prostitution sowie Pädo- bzw. Ephebophilie schon breit in den Zeitschriften der 1920er Jahre und in Ansätzen schon während des Kaiserreichs diskutiert bzw. gefordert wurde und also keinen neuen Diskurs, sondern bestenfalls einen wieder laut werdenden Diskurs markiert.

In Bezug auf Partnerschaftsmodelle konstatiert Gammerl, dass das "polare Doppelmuster von Promiskuität und Monogamie" "als Motor von Selbstnormalisierungsprozessen in der schwulen Community zwei akzeptable beziehungsbiografische Positionen" produziert habe (S. 237), während in den Zeitschriften der 1970er und 1980er Jahre hierzu unterschiedliche Positionen vertreten worden seien, so unter anderem die Forderung nach Monogamie im Sinne der gesellschaftlichen Integration und die Promiskuität als Negativfolie. Gammerl ist der Ansicht, es habe in den 1970er und 1980er Jahren "stetig steigende[.] Anforderungen an die sexuelle Leistungs- und Genussfähigkeit" gegeben (S. 239). Abschließend stellt er fest, dass "die normalisierende Einbindung der Homosexualität selbst neue Normen und Normierungen produzierte", die "wiederum unter bestimmten Umständen emanzipatorisch unterlaufen werden konnten" (S. 240). Daher "sollte einer Geschichte der Homosexualitäten eher daran gelegen sein, Befreiungsnarrativ und Normalisierungserzählung auf intelligente Art miteinander zu verknüpfen, anstatt einfach erstere durch letztere zu ersetzen" (S. 240).

Imke Schmincke stellt in Sexualität als "Angelpunkt der Frauenfrage"? Zum Verhältnis von sexueller Revolution und Frauenbewegung fest, dass gerade die Sexualität zu einem zentralen Thema der Neuen Frauenbewegung werden konnte, weil sie als Kristallisationspunkt der patriarchalen Machtverhältnisse verstanden wurde. Schmincke zeichnet die Sexualitätsdebatte der ersten Frauenbewegung nach und betrachtet das Thema Sexualität im politischen Alltag der Studentenbewegung sowie die Programmatik der Frauenbewegung hierzu. Von zentraler Bedeutung sei Alice Schwarzers Buch Der "kleine Unterschied" und seine großen Folgen von 1975 gewesen, in dem Schwarzer die Ansicht vertritt, "Sexwelle und Pille hätten die Situation von Frauen nur verschlimmert, weil sie jetzt ständig zur Verfügung [zu] stehen und Orgasmen vorzutäuschen hätten" (S. 207/208), die "herrschende (Hetero-)Sexualpraktik" diene "der Aufrechterhaltung der männlichen Herrschaft" (S. 208). "Deshalb", so referiert Schmincke Schwarzer weiter, "müsse die Norm der Heterosexualität in Frage gestellt werden", ohne eine "neue Norm (z. B. der Homosexualität)" aufzustellen (S. 208).

Schwarzer unterscheide "eine gute, emotionale Sexualität, die Frauen nicht unterdrückt und ohnmächtig macht, und eine schlechte, gewaltförmige Variante" (S. 209). Schmincke betrachtet die Arbeit der Selbsterfahrungsgruppen und setzt sich mit der Kritik an der mit deren Tätigkeit verbundenen Identitätspolitik auseinander. Zum einen werden hierin etwa von Andrea Bührmann in Anlehnung an Foucault Geständnisrituale gesehen, zum anderen Identitätspolitiken, die "entweder die Geschlechtszugehörigkeit oder die sexuelle Orientierung in den Mittelpunkt des politischen Handels stellten", wie etwa der Ausspruch "Feminismus ist die Theorie, Lesbischsein die Praxis" zeigt (S. 213). Schmincke beschreibt die Bedeutung der Sexualität für die feministische Wissenschaft bis hin zu den Queer Studies und setzt sich abschließend mit der Ambivalenz der Parole "Mein Bauch gehört mir" ausein­ander, wobei sie den erheblichen Beitrag der Frauenbewegung zur Sexuellen Revolution hervorhebt. Die sexuelle Revolution sei für die Frauenbewegung sowohl ein positiver als auch ein negativer Bezugspunkt gewesen: ein positiver wegen des "Versprechen[s] auf Veränderung und Befreiung", ein negativer, weil die Benachteiligung der Frauen deutlich geworden sei (S. 216). Der Kampf um die Abtreibung sei als Ausdruck der Selbstbestimmung über den eigenen Körper massenmobilisierend gewesen. Dieser habe aber nicht nur Selbstbestimmung, sondern auch neue Normen gebracht, "eine zunehmende Orientierung an Formen der Selbstregulierung" bis hin zur "Verschiebung biopolitischer Imperative [etwa Pränataldiagnostik] in die Eigenverantwortung der Frau" oder eine Unterscheidung in "positive und destruktive Sexualität". Weiblichkeit sei naturalisiert worden, Sexualität sei zum Vehikel für neue Identitätspolitiken wie Neue Weiblichkeit, Neue Mütterlichkeit oder lesbische Identität geworden (S. 217).

Jens Elberfeld unterscheidet in Von der Sünde zur Selbstbestimmung. Zum Diskurs "kindlicher Sexualität" (Bundesrepublik Deutschland 1960-1990) mehrere Phasen der Betrachtung kindlicher Sexualität: Bis in die 1960er Jahre habe die "Norm des asexuellen Kindes, vermittelt über Erziehungsratgeber, Kirchen und Bildungswesen, den Diskurs" bestimmt (S. 273). Ziel sei die Verhinderung von Sexualität gewesen. In der Ratgeberliteratur der Nachkriegszeit sei "Homosexualität" neben "Onanie" und "vorehelichem Geschlechtsverkehr" als eine der "drei großen Gefahren" erschienen. Die Diskussion über schulische Sexualaufklärung habe Ende der 1950er Jahre begonnen und schließlich, auch unter dem Einfluss der Sex-Welle, 1968 zu den Richtlinien der Kultusministerkonferenz zur Sexualerziehung geführt. Im Verlaufe der 1960er Jahre sei die kindliche (bzw. jugendliche) Sexualität normalisiert, aber auch weiterhin normiert worden, wie der Umgang mit den drei "großen Gefahren" zeige: Ergebnisse der empirischen Sexualwissenschaft hätten gezeigt, dass Jugendliche Erfahrungen mit allen "drei Gefahren" hatten. Gelegentliche Masturbation erschien in der Ratgeberliteratur nun nicht mehr als schädlich, vorehelicher Geschlechtsverkehr als üblich. Homosexualität wurde angesichts der zahlreichen gleichgeschlechtlichen Erfahrungen Jugendlicher nicht mehr per se moralisch verurteilt, gelegentliche homosexuelle Handlungen seien kein Problem, bei der Erziehung sei aber darauf zu achten, dass sich keine dauerhaften homosexuellen Neigungen ausbildeten, wie etwa die Zeitschrift Eltern 1967 und 1968 riet. Um 1968 habe die Neue Linke sich gegen "die Beschränkung des Aufklärungsunterrichts auf die Vermittlung naturwissenschaftlichen Wissens" gewendet und die Beschäftigung mit der "Lust" "als konstitutivem Bestandteil einer ‚befreiten‘ Sexualität" eingefordert (S. 273). Kinder und Jugendliche sollten über ihre eigene Sexualität bestimmen und diese entdecken können. Durch die feministische Kritik an sexueller Gewalt seit den 1970er Jahren sei auch sexuelle Gewalt gegen Kinder zum gesellschaftlichen Thema geworden. Dabei sei deutlich geworden, dass die herrschende Konsensmoral zwei gleichberechtigte PartnerInnen voraussetze, was bei sexuellen Kontakten von Erwachsenen mit Kindern nicht der Fall sei. Sex mit Kindern gelte seitdem [?] als nicht mit der herrschenden Konsensmoral vereinbar. Die kleine, aber aktive Pädophilenbewegung habe in den 1970er Jahren mit Unterstützung von Wissenschaftlern, Teilen der Linken, Teilen der Schwulenbewegung und des linksliberalen Spektrums der Gesellschaft ihre Forderungen nach Entkriminalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen artikulieren können, es habe aber auch deutliche Kritik von Seiten der Linken an diesen Forderungen gegeben, wie durch Alice Schwarzer und den Sexualwissenschaftler Günther Amendt, den Verfasser des ersten nicht repressiven Aufklärungswerkes der BRD.

Magdalena Beljan beschäftigt sich in "Unlust bei der Lust"? Aids, HIV & Sexualität in der BRD mit der medialen Inszenierung von HIV/Aids in deutschen Massenmedien, der Aufklärungsarbeit in der BRD und letztlich auch mit dem Sexualverhalten der Bevölkerung. Das Aufkommen von HIV/Aids Anfang der 1980er Jahre gelte, so Beljan, mit Recht als Einschnitt in der Sexualitätsgeschichte, markiere aber auch ihre Kontinuität. Die deutschen Medien hätten Aids von Anfang an als Geschlechtskrankheit inszeniert, anfangs sogar als "Schwulenseuche". Die Präventionsarbeit habe sich ebenfalls auf die Übertragung beim Geschlechtsverkehr konzentriert, obwohl es auch andere Ansteckungswege gebe. Durch die Aufklärungskampagnen ab Ende der 1980er Jahre habe sich schnell ein Wandel der Fokussierung von "Risikogruppen" (Prostituierte, Fixer, Homosexuelle) hin zu "Risikopraktiken" ergeben. Dadurch sei die gesamte Bevölkerung zum "richtigen Sex", also Safer Sex, angehalten worden, worin ein wichtiges Element der Selbstregulierung und damit eine Kontinuität des Sexualitätsdiskurses der Sexuellen Revolution liege, denn "jeder sexuell aktive Mensch müsse sich selbst und andere schützen" (S. 329), womit eine neue Normalität geschaffen worden sei. Die Konstruktion einer "Lustseuche" durch einige Medien Anfang der 1980er Jahre sei als Stellvertreterdiskurs zu charakterisieren, "der die Verknüpfung von Homosexualität, Krankheit und Schuld medial" reaktivierte (S. 326). Zum Teil seien absurde Zahlen zur Infektionsrate homosexueller Männer veröffentlicht worden. Gerade in den ersten Jahren sei schwuler Sex, auch von schwulen Medien selbst, als von heterosexuellem abweichend und grundlegend gefährlich eingestuft worden. Neben der Normierung des Sexes sei ein "verstärkter Treue-Diskurs, der auf Monogamie, feste Partnerschaften und letztendlich auf die Stärkung der Familie zielte" (S. 336), zu verzeichnen. Die feste Partnerschaft, die auf Treue basierte, sei in Abgrenzung zur konstruierten (schwulen) promisken Welt gesetzt worden. "Treue wurde hierbei irrigerweise als Garant dafür bestimmt, sich nicht zu infizieren" (S. 336). Aids habe heute in Westeuropa seine Brisanz verloren. Seit längerer Zeit konzentriere sich die Berichterstattung auf Aids in Afrika, oft mit rassistischem Tenor.

Der Sammelband deckt ein breites Spektrum interessanter Themen ab. Nicht zuletzt, weil manche Artikel weder eine Zusammenfassung noch ein Fazit enthalten, wäre der Abdruck eines Abstracts wünschenswert gewesen. Ein Schlagwortverzeichnis und ein Personenverzeichnis, die Vergleiche erleichterten, sind nicht vorhanden.




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