Gottfried Lorenz, Ulf Bollmann: Liberales Hamburg?

Homosexuellenverfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945
Hamburg: lambda 2013, 92 S., 9,80 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Mirko Nottscheid, Hamburg

Erschienen in Invertito 16 (2014)

Der vorliegende Katalog ist bereits die dritte größere Publikation, mit welcher Gottfried Lorenz und Ulf Bollmann ihre Forschungen zur Geschichte der Homosexualität in Hamburg dokumentieren, die in Zusammenhang mit der Initiative "Gegen das Vergessen – Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer" betrieben werden. [1]. Daraus erklärt sich der enge Konnex zwischen historiographischer Erschließung und gedenkpolitischer Praxis, der für diese Arbeiten kennzeichnend ist. Die Forschungsergebnisse wurden zugleich in Form viel beachteter Ausstellungen aufbereitet. Der Band Hamburg auf anderen Wegen (2007) von Bernhard Rosenkranz (1959–2010) [2] und Gottfried Lorenz bietet eine erste monographisch angelegte Übersicht zur Geschichte des schwulen Lebens in der Hansestadt (Untertitel) – jedoch mit deutlichem Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert –, deren Stärken sich besonders in der abwechslungsreichen Mischung aus historischen Abrissen, Zeitzeugeninterviews und unbekanntem, oft schwer erreichbarem Bildmaterial entfalten. Der Folgeband Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg 1919–1969 (2009), von Lorenz und Rosenkranz gemeinsam mit Ulf Bollmann erarbeitet, legt den Focus stärker auf die konkrete Verfolgungsgeschichte schwuler Männer vor und nach 1945, bezieht aber auch die Situation lesbischer Frauen mit ein und enthält eine umfangreiche Dokumentation der Lebensspuren homosexueller NS-Opfer, für die in Hamburg seit 2004 Stolpersteine verlegt werden.

Hier knüpft die neue Publikation mit vertiefenden Nachforschungen zur Situation schwuler Männer in Hamburg zwischen Kriegsende und den frühen 1980er Jahren an. Während die beiden früheren Bände ihr Material weitgehend in Form einer durchgehenden Darstellung boten, reproduziert der neue Katalog die 27 Ausstellungstafeln selbst in verkleinerter, aber gut lesbarer Form (S. 61-89) und stellt dieser Dokumentation fünf thematisch gegliederte Textabschnitte (S. 1-58) voran, die gewissermaßen einen vertiefenden Kommentar zu den in der Ausstellung konzise aufbereiteten Materialien darstellen, ergänzt durch weiteres, gut dokumentiertes Bildmaterial sowie ausführliche Quellennachweise. Einige der hier, ausgehend vom Mythos eines vermeintlich "liberalen" Hamburg in der Nachkriegszeit, entwickelten Grundlinien einer sehr weitgehenden Kontinuität in der Haltung von Polizei, Justiz und Staat zu Homosexualität und Homosexuellen vor und nach 1945 sind in der Forschung zwar schon früher herausgearbeitet worden. [3]. Die Kenntnisse über diese Vorgänge werden von Bollmann und Lorenz aber durch zahlreiche bisher unbekannte Quellen und durch die Einbeziehung neuer Aspekte angereichert.

Von besonderem Wert für die Forschung sind zunächst die einleitenden quellenkritischen Anmerkungen zu den ausgewerteten Aktenbeständen, die im Folgenden stets auch im Hinblick auf ihre durch etwaige Überlieferungslücken begrenzte Aussagekraft analysiert werden, sowie die Hinweise auf bestehende Forschungsdesiderate. Nicht minder bedeutend sind die daran anschließenden eingehenden Detailrecherchen zu den jeweiligen Verantwortlichen und den Praktiken der behördlichen Verfolgung jeglicher gleichgeschlechtlicher Kontakte, der systematischen Beobachtung der schwulen Subkultur (Stichworte: "Einwegspiegel" in öffentlichen Toiletten und die bis in die 1980er Jahre hinein belegte Erfassung in sog. "Rosa Listen") sowie der rigorosen Bekämpfung der von Verbänden oder Freundschaftszeitschriften ausgehenden emanzipativen Ansätze. Zwar fielen die von den Gerichten verhängten Strafen nach 1945 milder aus, aber das sog. "3-Mark-Urteil", bei dem 1951 zwei in gerichtlicher Vorinstanz nach § 175 StGB zu je acht Monaten Gefängnis verurteilte Männer in zweiter Instanz mit der "Mindeststrafe" von 3 Mark, ersatzweise einem Tag Haft, davonkamen (siehe Dokumentation des Urteils auf S. 59), blieb eine singuläre Ausnahme. Wie stark im Hamburger Behördenapparat, aber auch bei den politischen Entscheidungsträgern im Senat der Nachkriegszeit die tradierten homophoben Affekte lebendig geblieben waren, zeigt insbesondere ihr Umgang mit homosexuellen NS-Opfern, die nach 1945 versuchten, das durch Zuchthaus, Terrorlager oder "freiwillige Entmannung" erlittene Unrecht juristisch aufzuarbeiten und dabei in aller Regel auf gut eingespielte Abwehrmechanismen stießen, wie die Autoren an mehreren eindrücklichen Fallbeispielen zeigen können. Zwar wurde von Seiten der Polizei in Fällen von Morden an Homosexuellen weitgehend sachlich ermittelt, aber die gerichtliche Würdigung dieser Delikte und ihre Rezeption in der Öffentlichkeit, die hier für Hamburg erstmals umfassend aufgearbeitet wurden, blieben bis in die 1960er Jahre hinein oft von einer mit den Tätern sympathisierenden Grundhaltung geprägt, die sich wiederholt in besonders milden Urteilen niederschlug.

Es gehört zu den besonders erschütternden Befunden der vorliegenden Publikation, dass sich derartige Haltungen im Hamburg der Nachkriegszeit quer durch alle politischen Lager und Weltanschauungen zogen. So wurden in der nach 1945 jahrzehntelang sozialdemokratisch dominierten Hansestadt die Maßnahmen gegen gleichgeschlechtlich begehrende Menschen auch von Beamten und Politikern durchgeführt oder verantwortet, die unter der Diktatur selbst Opfer staatlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Exklusion geworden waren. Dagegen befanden sich in der kleinen Gruppe liberaler Juristen, die von Hamburg aus frühzeitig für eine Reform des Sexualstrafrechts eintraten, auch solche, die ihre Laufbahnen unter dem Nationalsozialismus begonnen hatten oder eher einem konservativen bzw. christlichen Weltbild verpflichtet waren. Die Rückbindung der Verfolgungskontinuitäten an NS-Gedankengut und die nach 1933 verschärften Strafrechtsbestimmungen allein greift daher, wie die Autoren zeigen, zu kurz, sobald es um die Analyse älterer homophober Strukturen geht, die über das Jahr 1945 hinaus in weiten Teilen der Gesellschaft fortdauerten.

Auf die wechselseitige Erhellung der beiden Katalogteile, die vielfach ähnliches, aber nicht in jedem Fall identisches Material bieten, hätte vielleicht in einem kurzen Vorwort hingewiesen werden können. So werden etwa die rechtlichen Grundlagen der Homosexuellenverfolgung, deren Kenntnis der Textteil stillschweigend voraussetzt, auf einer der Ausstellungstafeln (S. 63) bündig erläutert. Die didaktisch gut aufbereiteten Tafeln eignen sich auch als Grundlage für eine Vermittlung des Themas im Rahmen der Erwachsenenbildung oder des Schulunterrichts. Sie thematisieren u.a. die soziale Ausgrenzung lesbischer Frauen im Nachkriegshamburg (S. 80-82), die in den für den Textteil ausgewerteten Justiz- und Polizeiakten aufgrund der Nichtstrafbarkeit weiblicher Homosexualität nur am Rande aufscheint.

 

[1] Zeitnah hat Lorenz auch einen weiteren Band mit Artikeln und Vorträgen vorgelegt, die in Zusammenhang mit den Ausstellungen und flankierenden Gedenkveranstaltungen entstanden sind. Lorenz, Gottfried: Töv, di schiet ik an – Beiträge zur Hamburger Schwulengeschichte (Gender-Diskussion, Bd. 20), Münster: Lit-Verlag 2013.

[2]Zu Leben und Werk vgl. jetzt Bollmann, Ulf (Art.): Rosenkranz, Bernhard, in: Kopitzsch, Franklin / Brietzke, Dirk (Hg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon, Bd. 6, Göttingen: Wallstein Verlag 2012, S. 271-273.

[3]Vgl. zuletzt die Beiträge des Sammelbandes: Pretzel, Andreas / Weiß, Volker (Hg.): Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik (Edition Waldschlösschen, Bd. 9 / Geschichte der Homosexuellen nach 1945, Bd. 1), Hamburg: Männerschwarm Verlag 2010; darin auch die frühere Fassung eines der Katalogtexte von Gottfried Lorenz. Vgl. auch die Auswahlbibliographie zum vorliegenden Band (S. 90). Zu den von Lorenz / Bollmann dokumentierten Disziplinarverfahren der Universität Hamburg gegen Studierende, die zuvor nach § 175 verurteilt worden waren (S. 13 und Tafel S. 88), vgl. noch Michelsen, Jakob: Streiflichter zum Thema: 75 Jahre Schwule an der Uni, in: Miche­ler, Stefan / Michelsen, Jakob (Hg.): Der Forschung? Der Lehre? Der Bildung? Wissen ist Macht! 75 Jahre Hamburger Universität. Studentische Gegenfestschrift zum Universitätsjubiläum 1994, Hamburg: AStA der Universität Hamburg 1994, S. 286-303, S. 286-288.




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