Jeffrey Weeks: Sexuelle Gleichberechtigung.

Gender, Sexualität und homosexuelle Emanzipation in Europa.
Aus dem Englischen übersetzt von Karin Wördemann (= Hirschfeld-Lectures, Bd. 4, hg. v. der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld)
Göttingen: Wallstein 2014, 59 S., 9,90 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Stefan Micheler, Hamburg

Erschienen in Invertito 16 (2014)

Der historisch arbeitende britische Soziologe Jeffrey Weeks (Jg. 1945) ist für die Veränderungen der Sexualitätsgeschichtsschreibung seit den 1980er Jahren ähnlich bedeutend wie der französische Philosoph Michel Foucault: Beide gingen früh von der Erkenntnis aus, dass Sexualität und sexuelle Identitäten bzw. deren Zuschreibung Konstrukte des 19. Jahrhunderts sind. Was Foucault 1976 in La volonté de savoir (Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, 1977) als großen theoretischen Wurf formulierte, hat Weeks 1977 in seinem grundlegenden Werk Coming Out: Homosexual Politics in Britain from the Nineteenth Century to the Present empirisch auf breiter Quellenbasis gezeigt.

Im deutschen Sprachraum ist Weeks wie andere VertreterInnen der Theorie der sozialen Konstruktion der Sexualität über lange Zeit kaum beachtet worden, so ist etwa Coming Out von 1977 nicht ins Deutsche übersetzt worden. Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich, dass Weeks den öffentlichen Hauptvortrag auf dem ersten Wissenschaftskongress der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im November 2013 halten konnte, immerhin eine späte Anerkennung seines Werkes. Der Vortrag wurde nun als 4. Band der Hirschfeld-Lectures in deutscher Übersetzung veröffentlicht.

Jeffrey Weeks, selbst jahrzehntelang Aktivist der Homosexuellenbewegung in Großbritannien, wie Norman Domeier in seiner Einleitung hervorhebt, schlägt in seinem Text, ausgehend von der Frage "Was ist sexuelle Gleichberechtigung?", einen Bogen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum beginnenden 21. Jahrhundert. Er betrachtet die sexuelle Gleichberechtigung von den Anfängen gleichgeschlechtlicher Emanzipation, verbunden mit dem Namen Magnus Hirschfeld (die frühen Pioniere Karl Heinrich Ulrichs und Heinrich Hössli berücksichtigt er nicht), über die Emanzipationsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre in westlichen Ländern bis zu den Bewegungen der Gegenwart mit ihrem Anspruch auf globale Menschenrechte.

Einer der roten Fäden von Weeks Argumentation ist dabei die von Hirschfeld und anderen vertretene Auffassung, "dass wissenschaftliches Wissen der Schlüssel zur sexuellen Gleichberechtigung sei" (S. 15), deren Ambivalenz Weeks deutlich macht. Wissenschaftlicher Fortschritt, so Weeks, sei keinesfalls immer gleichbedeutend mit Liberalisierung bzw. (sexueller) Emanzipation gewesen. Vielmehr habe die Sexologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zum einen "neue Formen der Reglementierung" der Sexualität (S. 21) etabliert und zum anderen mit ihren Typologisierungen, ungewollt und zum Teil mithilfe der "Betroffenen", auch die Kategorien geschaffen, nach denen Menschen diskriminiert und ausgegrenzt wurden. Dies sei mehrheitlich binär entlang der Achse "das Perverse und das Harmlose" (S. 23) erfolgt. Weeks erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass der US-amerikanische Sexologe Alfred Kinsey 1948 viele dieser vermeintlich neuen Kategorisierungen als identisch mit theologischen Klassifikationen im englischen Common Law des 15. Jahrhunderts identifiziert habe. Insbesondere für das 20. Jahrhundert stellt Weeks fest: "Die Kategorien [der modernen Sexualwissenschaft] wurden akzeptiert, zurückgewiesen, ignoriert, angefochten, spielerisch verwendet." (S. 26) Die seit dem 19. Jahrhundert entwickelten Kategorien seien die Grundlage für die sexuellen Identitäten gewesen, die seit den 1950er Jahren zunehmend sichtbar geworden seien. Hier wäre für Deutschland zu ergänzen, dass dieser Prozess spätestens seit den 1920er Jahren viele gleichgeschlechtlich begehrende Menschen erfasst hat.

Die "Neuen Formen der Sexualpolitik der 1960er und 1970er Jahre" hätten zu einer "Kluft zwischen der Erforschung von Sexualität und unserem Verständnis sexueller Gleichberechtigung beigetragen" (S. 27), die bis heute fortbestehe. So sei die Sexualwissenschaft teilweise immer noch mit solchen Kategorisierungen beschäftigt und es gebe auch eine Strömung, die nach wie vor essenzielle Grundlagen für das Phänomen der Homosexualität suche, etwa das "Schwulen-Gen". Die Vorstellung einer biologischen Differenz zwischen Hetero- und Homosexualität wurde und werde allerdings auch von LGBT-Communitys gerade in Nordamerika forciert. Andererseits stellten "viele in den neuen schwulen und feministischen Bewegungen [seit den 1960er und 1970er Jahren] die Thesen der Sexualwissenschaft [einer biologischen Essenz der "Homosexualität"] im Namen alternativen Wissens" in Frage (S. 27). Damit meint Weeks zum einen die positive Annahme einer Identität (als "anders als die anderen" bzw. "anders als die Heteros") im Sinne eines neuen kollektiven Selbstbewusstseins im Zuge der Gay Liberation und die Zurückweisung der Fremdpathologisierung durch die sich ausbreitenden Bewegungen sowie die spätere Differenzierung der Bewegungen. Zum anderen meint Weeks die Ende der 1970er Jahre beginnende wissenschaftliche Entwicklung, den Konstruktionscharakter von Sexualität einschließlich der Verbindung von Begehren und Sexualität und weiterer Kategorien zu benennen und zu beleuchten. Darüber hinaus habe sich seit Ende der 1960er Jahre einerseits gezeigt, dass als abweichend betrachtete Sexualität nicht zwingend in "Opposition zur Macht" stehe, sondern sich auch gut in den Konsumkapitalismus integrieren lasse. Andererseits sei aber durch die sich insbesondere seit Ende der 1980er Jahre vollziehende "rasante Entfaltung von Lebensexperimenten" (S. 32), wie gleichgeschlechtlicher Elternschaft, gleichgeschlechtlicher Ehe, gleichgeschlechtlicher Wahlfamilien, aber auch durch die Bedrohung durch HIV/AIDS, der viele Regierungen keine Abhilfe schaffen wollten, deutlich geworden, dass die bestehenden Bürgerrechte nicht ausreichten. Daher habe sich die Bewegung auf Bürgerrechte konzentriert und dabei viele Erfolge erzielen können. Aufgabe für heute sei es, die Idee der sexuellen Menschenrechte unter Berücksichtigung aller kulturspezifischen Besonderheiten zu realisieren.

Jeffrey Weeks’ Vortrag bzw. Aufsatz muss notgedrungen viele Aspekte unberücksichtigt lassen und kann selbstverständlich keine neuen Forschungsergebnisse liefern, sondern fasst andernorts publizierte Überlegungen zusammen. Offensichtlich politisch motiviert, versucht er dabei, das Bild einer Bewegung mit gemeinsamer Geschichte zu entwerfen, also in den Gegensätzen unterschiedlicher heutiger Gruppen das Gemeinsame zu suchen. Dass dies zum Teil nur ein sehr kleiner gemeinsamer Nenner ist, thematisiert er dementsprechend nicht. Durch den großen Bogen, den Weeks schlägt, ermuntert er dazu, sowohl historische als auch aktuelle Fragen in einem größeren zeitlichen Zusammenhang zu betrachten, eigene Fragestellungen zu erweitern und Hypothesen zu überprüfen.




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