Stefan Müller: Ach, nur ’n bisschen Liebe

Männliche Homosexualität in den Romanen deutschsprachiger Autoren in der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939, Würzburg: Königshausen und Neumann 2011, 543 S., € 68

sorry, no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 15 (2013)

Es gibt keine glücklichen homosexuellen [1] Männer, ihre Suche nach Liebe und Erfüllung ist in der Regel vergeblich, sie scheitern an sich oder/und der Umwelt; ein Leben als homosexuelles Paar ist unmöglich; als Homosexueller, allein oder mit einem Partner, in Würde zu altern, ist genauso illusorisch. Dieses Bild homosexuellen Lebens in der Zwischenkriegszeit ergibt sich, wenn man die deutschsprachigen Romane der Jahre 1919 bis 1939 in dieser Hinsicht untersucht. Ob sich das reale Leben Männer begehrender Männer in dieser Zeit von diesem wenig erfreulichen Resultat unterschied, muss mangels wissenschaftlich fundierter Untersuchungen offen bleiben.

Verglichen mit der gesamten literarischen Produktion der untersuchten Jahre sind es nur wenige Texte, die sich mit Leben und Schicksal Männer begehrender und liebender Männer beschäftigen. Stefan Müller hat sich der Mühe unterzogen, etwa 70 Romane deutschsprachiger Autoren zu analysieren, darunter Werke heute noch bekannter Autoren, wie Klaus und Thomas Mann, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Lion Feuchtwanger, um nur einige zu nennen, überwiegend aber solche, die allenfalls Fachleuten und SpezialistInnen noch ein Begriff sind, beispielsweise Hans Francks: Tor der Freundschaft (1929), Walter Harichs: Primaner (1931) oder Ulrich Sanders: Axel Horn (1938). Diese Werke sind oft nur in kleiner Auflage erschienen und auch in größeren Bibliotheken nicht ohne weiteres greifbar. Es gibt wenig bzw. keine Vorarbeiten, die einen Überblick über dieses literarische Spezialgebiet bieten; wenige Fachleute mögen Müllers Auswahl ergänzen können, die infolgedessen mehr als nur einen oberflächlichen Zugriff auf das Thema liefert.

Es geht in Müllers Untersuchung nicht um Romane von Homosexuellen für Homosexuelle, die noch rarer und schwerer greifbar sind, außer, sie sind in der verdienstvollen Bibliothek rosa Winkel neu gedruckt worden, sondern um Texte mit homosexuellen Figuren (nicht unbedingt titelgebende bzw. zentrale Personen, oft solche, die nur am Rande oder in einzelnen Kapiteln vorkommen), die außerhalb der homosexuellen Subkultur und nicht in erster Linie für diese entstanden sind. Fragen, die Müller an die ausgewählten Texte stellt, sind etwa: Welche Funktion hat Homosexualität, haben homosexuelle Männer in der Handlung? Wie werden homosexuelle Charaktere eingesetzt? Spiegeln sich zeitgenössische medizinische oder juristische Diskurse über Homosexualität in den Texten wider?

Die erzählte Zeit liegt zum Teil noch in der Endphase des Kaiserreichs, die meisten Texte behandeln ihre Entstehungszeit, das heißt, sie spielen in den 1920er und 1930er Jahren. Der Beginn der NS–Diktatur stellt keinen vollständigen Bruch dar, auch wenn sich seitdem die Zahl der Veröffentlichungen mit den von Müller untersuchten Motiven deutlich verringerte; nur einzelne dieser Texte konnten nach 1933 in Deutschland erscheinen, die meisten wurden im Ausland gedruckt.

Müller beschränkt die Textauswahl auf deutschsprachige Romane, weil die Einbeziehung anderer Textsorten (oder gar Medien wie Film) oder fremdsprachiger Texte den Umfang der Untersuchung gesprengt hätte. Zur Homosexualität im Drama liegt bereits die Dissertation von Wolf Borchers vor (Männliche Homosexualität in der Dramatik der Weimarer Republik, Köln 2001), männliche Homosexualität in der Lyrik wäre ein spannendes Thema für eine weitere.

Schwierigkeiten ergeben und ergaben sich mitunter in der Zuordnung der ausgewählten Texte zum Untersuchungsthema und in den Begrifflichkeiten: Nicht immer lassen sich die Roman–Charaktere eindeutig als Männer begehrend, Männer liebend oder homosexuell kennzeichnen. Homosexualität war in aufgeklärten Kreisen der Weimarer Gesellschaft, insbesondere unter Intellektuellen und Kulturschaffenden, beinahe salonfähig geworden. Geoutet zu werden gefährdete aber immer noch die soziale Stellung und die Karriere – Beleg dafür sind Berichte über Erpressungen und das Schicksal von Erpressungsopfern, wie sie sich in den Polizeiberichten der Tagespresse und in einer Reihe der behandelten Romane finden. Weder Stefan George noch Thomas Mann haben sich selbst – aus unterschiedlichen Gründen – als homosexuell verstanden oder gar "geoutet". Wie vermutlich in der Realität "leben" deshalb viele Figuren der Romane nicht offen homosexuell, verstecken ihre Neigungen und lassen sie höchstens im privaten Rahmen erkennen.

Die sieben Analysegruppen (Homosexualität in der Kindheit, in der Jugend, im Erwachsenenalter, Homosexualität und Militär, und Recht, und Gewalt, und Nationalsozialismus) können hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden; genannt werden sollen aber zumindest die vier Romane, denen Müller Einzelinterpretationen widmet: Joseph Breitbach: Die Wandlung der Susanne Dasseldorf (1932, Neudruck 2004); Friedo Lampe: Am Rande der Nacht (1933, Neudruck 2003); Otto Zarek: Begierde (1930); Hans Henny Jahnn: Perrudja (1929, zuletzt 1998).

Im Vordergrund stehen die Texte selbst, im Sinne der Methode des "Close Reading": Müller versteht darunter den "unideologischen, nicht vereinnahmenden, genauen Zugriff" (S. 24) auf die literarischen Texte; wobei in einem zweiten Schritt die Einordnung in soziale und kulturelle Zusammenhänge erfolgt: "Wide Reading" (S. 25f.). Dieser doppelte Zugriff erfasst sowohl die sprachliche Qualität und Aussagekraft der Texte als auch – für den Nicht–Germanisten von besonderer Bedeutung – die Beziehungen zur nicht–literarischen politischen, sozialen und kulturellen Realität. Durch die Vielzahl der vorgestellten Texte schafft es Müller, ein lebendiges Bild homosexueller Lebensmöglichkeiten in der Zwischenkriegszeit zu zeichnen: Die Themen reichen vom kleinen, den Umständen abgerungenen Glück bis zur Tragödie als Folge von Neid und Vorurteilen; vom Leben und Leiden der Strichjungen und vom Offizier, der nicht schwul sein darf, bis hin zum homosexuellen Großin­dustriellen, dessen Schicksal an Friedrich Alfred Krupp (1854–1902) erinnert.

Es ist Müllers Verdienst, an einen Teil der literarischen Produktion zu erinnern, der von der akademischen Literaturgeschichtsschreibung in der Regel ausgeblendet wird. Positiv zu werten ist überdies, dass er auch bei Interpretationen bekannter Texte wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) oder Hermann Brochs Die Schlafwandler (1928–1932) Perspektiven aufzeigt, die die etablierte Literaturwissenschaft gern übersieht. Insofern ist Müllers Arbeit bahnbrechend und wird für die Beschäftigung mit diesem Thema in der nächsten Zeit grundlegend sein. Es lohnt sich, seinen Analysen als Lesetipps zu folgen. Wer das tut, wird manche überraschende Entdeckung machen und es nur selten bereuen.

 

[1] Da sich der vorliegende Band, wie der Titel ausweist, nur mit männlicher Homosexualität befasst, verzichte ich aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung in der Regel darauf, das besonders zu betonen: Benennungen wie "homosexuell" oder "Homosexualität" beziehen sich in dieser Rezension deshalb ausdrücklich und ausschließlich auf männliche Homosexualität




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