Thierry Pastorello: Sodome à Paris

Fin XVIIIe – milieu XIXe siècle: L’homosexualité en construction. Préface d’André Gueslin, Grâne: Créaphis 2011, 304 S., 20 € 

sorry, no cover

 

Rezension von Kevin Dubout, Berlin

Erschienen in Invertito 15 (2013)

Der Historiker und Bibliothekar Thierry Pastorello untersucht in der vorliegenden Monografie, die auf seiner 2009 an der Universität Paris VII Diderot eingereichten Dissertation [1] basiert, am Beispiel der Stadt Paris den für die Geschichte der Homosexualitäten entscheidenden, gleichwohl vergleichsweise wenig erforschten Zeitraum zwischen 1750 und 1850. Er nimmt jene Übergangsphase in den Blick, in der die theologische Figur des Sodomiten bereits der Vergangenheit angehörte, der moderne Homosexuelle jedoch noch nicht "geboren" war. Vor dem Hintergrund grundlegender politischer Umwälzungen sowie tiefgreifender soziokultureller Entwicklungen, aus denen eine neue bürgerliche Ordnung entstand, setzte ein langfristiger Wandel sowohl in der Wahrnehmung mannmännlicher Sexualität als auch im Alltag gleichgeschlechtlich begehrender Männer ein. Gegliedert ist die Untersuchung in zwei chronologische Hauptteile, in denen diese Aspekte jeweils diskutiert werden: Die Kapitel 1 bis 3 widmen sich dem Zeitraum von 1750 bis 1789, während in den Kapiteln 4 bis 8 auf die Französische Revolution und das frühe 19. Jahrhundert eingegangen wird. In seiner Suche nach Brüchen und Kontinuitäten untersucht der Autor nicht nur die "Diskurse", die am Entwurf einer noch nicht klar umrissenen Figur des Homosexuellen arbeiteten, sondern geht ergänzend der Frage nach, inwiefern sich eine homosexuelle Subkultur in Paris bereits im ausgehenden Ancien Régime herausgebildet hatte und durch welche Identitätskonzepte und Kontaktformen sie strukturiert war.

Zu diesem ambitionierten Zweck hat der Autor – sich auf Paris und mannmännliche Sexualität beschränkend – ein gewaltiges Quellenkorpus herangezogen, das Polizei– und Justiz– (Bastille–Gefängnis, Pariser Polizeipräfektur), Fürsorge­ämter– und Krankenhausakten wie auch vielfältige gedruckte Quellen (Memoiren, medizinische Abhandlungen, literarische und philosophische Werke, Schmäh– und Kampfschriften usw.) umfasst. Eines der großen Verdienste seiner Arbeit liegt in der Fülle an detailreichen Materialien, die Pastorello ans Licht bringt und mit wenig Theorieaufwand erschließt. In der knappen Einleitung bekennt sich der Autor zu den Zielen der gender studies – ein in der französischsprachigen Geschichtsforschung seltener Schritt – und schließt sich methodisch den Ansätzen und Begrifflichkeiten der Chicagoer Soziologieschule (in erster Linie Howard S. Beckers) an, die sich für die Untersuchung von Marginalisierungs– und Selbstbehauptungsprozessen bewährt haben.

Im Kapitel 1 ("L’évolution des perceptions de l’homosexualité masculine au cours du XVIIIe siècle") werden die sich verändernden Wahrnehmungen der männlichen Homosexualität im 18. Jahrhundert nachgezeichnet, in denen sich der Rückgang theologischer Deutungsmuster sowie Ansätze einer Spezifizierung abzeichnen – etwa durch die Figur des "Päderasten" in Polizeiberichten. Mit seiner gründlichen Analyse der vielfältigen, unterschiedlich konnotierten Alltagsbezeichnungen ("vice aristocratique", "infâmes", "antiphysiques", "amours socratiques" usw.) sowie der philosophischen Konzeptualisierungen in den Schriften der Aufklärung (insbesondere in der freigeistigen und erotischen Literatur) widerlegt der Autor die Idee einer einheitlichen Konstruktion mannmännlicher Sexualität. Deutlich erkennbar ist dagegen die Herausbildung einer strukturierten, als solche auch identifizierten "sodomitischen" Subkultur im Paris der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Kapitel 2), die durch eine große soziale Heterogenität, eigene Treffpunkte (Gärten, Seine–Ufer), Geselligkeitsorte (Wirtschaften) und Verhaltensweisen (Nachahmung aristokratischer und weiblicher Bräuche) gekennzeichnet war. Vielleicht etwas vorschnell will der Autor aus den Fremdzuschreibungen der Polizeiakten auf das Vorhandensein einer von (selbst–)bewussten "Sodomiten" getragenen Subkultur im 18. Jahrhundert schließen. Das Wechselspiel zwischen dieser sich behauptenden Subkultur und den Verfolgungsformen arbeitet Pastorello im Kapitel 3 heraus: Während die traditionelle Rechtsgrundlage bestehen blieb, fand die Todesstrafe für "Sodomie", sofern sie nicht mit weiteren schweren Vergehen wie Raub oder Mord verknüpft war, praktisch kaum noch Anwendung – zum letzten Mal 1750. Dafür rückten gleichgeschlechtliche Handlungen immer mehr in den Zuständigkeitsbereich einer modern organisierten Sittenpolizei, deren "patrouilles de pédérastie" (S. 90) kein Verbrechen gegen die göttliche Ordnung mehr verfolgten, sondern mit einem breiten Spektrum von Strafmaßnahmen die Störung der Öffentlichkeit und eine "soziale Plage" bekämpften.

Im Zuge der revolutionären Umwälzungen (Kapitel 4) beschleunigte sich dieser Prozess. Gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Männern wurden gehäuft in Schmäh– und Spottschriften als Diskreditierungsstrategie gegen politische Feinde eingesetzt; mit dem Aufstieg des Bürgertums setzte sich parallel ein Ideal moralischer Regeneration auf der Basis des patriotischen revolutionären Mannes, später des produktiven, respektablen, bürgerlichen Mannes durch. Als ein Unordnung stiftendes Produkt der städtischen Modernität wurde die "Päderastie" – wie das Phänomen nun vorwiegend bezeichnet wurde – mit Prostitution, Verbrechen und Landstreicherei in einem Atemzug genannt.

Die Verwandlungen des medizinischen Blickes (Kapitel 5) und der polizeilichen Verfolgungsformen (Kapitel 6) bringt der Autor anschließend mit diesem gesellschaftlichen Wahrnehmungswandel in Zusammenhang. Rekonstruiert wird die langsame und partielle Autonomisierung des medizinischen Diskurses, der im untersuchten Zeitraum überwiegend von der an körperlichen Merkmalen interessierten Gerichtsmedizin dominiert war, jedoch keinen klar erkennbaren "homosexuellen Typus" herausarbeitete. Gleichzeitig änderte sich die Rechtsgrundlage. Die Verfasser des Code pénal von 1791 nahmen die alte Strafbestimmung gegen die "Sodomie" ins neue Strafgesetzbuch nicht auf. Nicht etwa aus Sympathie für die Sodomiten, sondern aus der Überlegung heraus, diese Bestimmung – genauso wie die gegen Magie, Sakrileg und Gotteslästerei – sei Ausdruck überholter religiöser Vorstellungen und außerdem würden Verfolgungen Skandale und öffentliche Aufmerksamkeit nach sich ziehen, die es zu vermeiden gelte. Dementsprechend wurden schon während der Revolution Bestimmungen formuliert und später im napoleonischen Code civil verankert, die jegliche Sichtbarkeit des Phänomens verhindern sollten und von denen breiter Gebrauch gemacht wurde: gegen die "Erregung öffentlichen Ärgernisses", die "Verleitung Minderjähriger zur Unzucht" und den "Verstoß gegen die öffentliche Moral". Damit war eine Verfolgung weiter möglich. Diese wurde tatsächlich im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts immer schärfer (Kapitel 7), was wiederum einen großen Einfluss auf die Soziabilitätsformen und die soziale Zusammensetzung der Pariser Subkultur hatte (Kapitel 8).

Der Autor hat für die vorliegende Publikation seine Dissertation offensichtlich stark verkürzen müssen, was teilweise zu Ungenauigkeiten (etwa bei den Zitaten) führt und die Lesbarkeit stellenweise beeinträchtigt. Ferner ist die bedenkliche Anwendung des Oberbegriffs "homosexualité" bzw. "homosexuel" auf historische Handlungen und Wahrnehmungen zu bemängeln, für die im Quellenmaterial ganz andere Bezeichnungen und Sinngehalte vorliegen. Zwar ist sich Pastorello des Problems bewusst, seine Begründung, eine einheitliche Bezeichnung sei praktischer (S. 12), greift jedoch etwas zu kurz. Mit dem Gebrauch unpassender, weil später formulierter Konzepte konterkariert er seinen Versuch, zeitgenössische Wahrnehmungsmuster in ihrem Kontext zu rekonstruieren. Dies führt mitunter zu Anachronismen und fragwürdigen Fremdzuschreibungen. So werden Lebensläufe von bestimmten Männern daraufhin befragt, ob sie "homosexuels assumés" (bekennende bzw. sich akzeptierende Homosexuelle) gewesen seien, ein "Doppelleben" geführt hätten (S. 77), "zur Fremdbezeichnung stehen oder sich verstecken" (S. 78) oder zur "sozialen Akzeptanz der Homosexualität" beigetragen hätten (S. 252). Damit werden sie entsprechend ihrem Grad an Konformität mit einer Kategorie gemessen, die es noch nicht gab.

Von diesen Einschränkungen abgesehen ist es Pastorello gelungen, eine gründliche, überzeugende und überaus informationsreiche Analyse zum komplexen Übergangsprozess vorzulegen, in dem erst begonnen wurde, die moderne männliche Homosexualität, so der Untertitel, zu "konstruieren". Zweifelsohne liegt die Stärke seiner Analyse darin, dass die Entwicklungen auf der Ebene der Konzeptualisierung – als "Indikator für eine neue politische Ordnung" (S. 16) gedacht – stets auf ihre historische Vielschichtigkeit hin befragt und mit übergreifenden Faktoren (politischer Ordnung und sozialer Struktur) in Beziehung gesetzt werden. Seine Studie stellt unter Beweis, wie fruchtbringend eine interdisziplinär angelegte historische Erforschung der Homosexualitäten sein kann, die sich an den Schnittstellen von Politik–, Rechts–, Medizin– und Alltagsgeschichte verortet.

 

[1] Die originale Doktorarbeit ist mit einem leicht abweichenden Titel (Protohistoire de l’homosexualité masculine) hier abrufbar:
http://tel.archives-ouvertes.fr/docs/00/39/22/41/PDF/theserstruc_-_sommaire.pdf
letzter Zugriff: 16.06.2015.




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