Justin Spring
Secret Historian
The Life and Times of Samuel Steward, Professor, Tattoo Artist, and Sexual Renegade

Farrar, Straus and Giroux, New York, 2010, XV, 478 S., $ 32,50 / Taschenbuchausgabe (2011) $ 18

sorry, no cover

 

Rezension von Mirko Nottscheid, Hamburg

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Der US-amerikanische Schriftsteller und Tattoo-Artist Samuel M(orris) Steward (1909–1993) ist in der Geschichte der (männlichen) Homosexualität kein ganz Unbekannter:[1] Während er unter seinem richtigen Namen eine Reihe schillernder Gesellschaftsromane, Kriminalgeschichten, kulturhistorische Sachbücher und Erinnerungen veröffentlichte, als Professor englische Literatur an verschiedenen Colleges und Universitäten unterrichtete und freundschaftliche Kontakte zu prominenten Persönlichkeiten des literarischen Lebens wie Gertrude Stein und Alice B. Toklas, Alfred Lord Douglas, Julien Green, André Gide oder Thornton Wilder unterhielt, betrieb er unter dem Alias "Phil Sparrow" seit Anfang der 1950er Jahre Tattoo-Shops in Chicago und Oakland. Als "Phil Andros" schrieb er zahlreiche Kurzgeschichten sowie eine Reihe von Romanen – beispielsweise $tud (1966), When in Rome, Do ... (1971) und Renegade Hustler (1972) – mit Bezug zur S/M- und Lederszene sowie zu mann-männlicher Prostitution, die sich durch raffiniert ausgearbeitete Plots von der Masse schwuler Pornographie der Zeit abheben. Unter verschiedenen weiteren Pseudonymen (u. a. "Ward Stames", "Donald Bishop") war Steward auch langjähriger Mitarbeiter des englischsprachigen Teils der Schweizer Homosexuellenzeitschrift Der Kreis, die neben Kurzgeschichten und Essays auch erotische Zeichnungen von ihm veröffentlichte.

Die Biografie des Kunsthistorikers Justin Spring stützt sich auf den wiederaufgefundenen Nachlass Stewards, der lebenslang sowohl seine beruflichen und literarischen als auch seine vielfältigen Aktivitäten und zahlreichen sexuellen Begegnungen in den homosexuellen Subkulturen der USA und Europas dokumentierte und diese Aufzeichnungen – bar jeder äußeren Vorsicht in Zeiten staatlicher Repression gegen jede Form homosexuellen Kontaktes – aufbewahrte. Stewards penible statistische Selbstdokumentation seiner Sexualvita – sein sogenanntes "$tud File" – erregte früh das Interesse des empirischen Sexualwissenschaftlers Alfred Kinsey, dessen Institute for Sexual Research einen Teil von Stewards Sammlungen übernahm. Auf Anregung Kinseys, den Steward etwa 1949 kennen lernte und der für ihn zu einer Art Mentor und "Vaterfigur" wurde, begann er mit tagebuchartigen Dokumentationen seiner sexuellen Erlebnisse und Beobachtungen in der homosexuellen Subkultur sowie seiner eng damit verwobenen Arbeit im Tattoo-Business, damals ein fragiles, von Mythen umranktes Milieu am Rande der Gesellschaft, in dem er viele seiner Sexualpartner fand.[2] Stewards ebenso intelligente wie spannend geschriebene Schilderungen und Analysen seines abwechslungsreichen und zuweilen recht gefährlichen gay lifestyle bilden – neben unveröffentlichten Briefen und Interviews – die wichtigste Quelle für Springs biografische Erzählung: Spring liest diese Aufzeichnungen, mit denen Steward an die Tradition der diaristischen Konfessionen seiner Vorbilder Gide und Green anknüpfte (und sie zugleich an Offenheit zu übertreffen suchte), als eine "geheime Geschichte", in der Steward nicht nur Zeugnis über sich selbst ablegte, sondern durch die er zum Chronisten, zum "secret historian", einer ganzen Generation homosexueller Männer wurde, die ihre sexuellen Phantasien und Aktivitäten vor der Öffentlichkeit sorgsam verbergen mussten.

Indem Spring diese Bekenntnisse vor dem Hintergrund rasanter sozialgeschichtlicher Wandlungsprozesse lesbar macht, bietet sein Buch vielschichtige Einblicke in die Lebensbedingungen und -stile homosexueller Männer und die Entwicklung gleichgeschlechtlicher Subkulturen im 20. Jahrhundert. Das klandestine, aber gleichwohl libertäre Milieu der akademischen und literarischen Boheme, dem sich Steward in den 1930er und 1940er Jahren zugehörig fühlte, die McCarthy-Ära, die mit besonders starker Repression auf die – nicht zuletzt infolge der beiden Kinsey-Reports – beginnende "Sichtbarkeit" von Schwulen und Lesben reagierte, die beginnende Herausbildung und Diversifizierung verschiedener homosexueller Lebensstile und "Szenen" in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sowie die Anfänge der gay liberation seit den 1960er Jahren sind nur einige besonders interessante Stationen, die Spring vor dem Hintergrund von Stewards Biografie abschreitet.

Springs Charakterisierung Stewards als "sexual renegade" fällt dabei ambivalent aus. Während es ihm einerseits vergleichsweise gut gelang, sich der gesellschaftlichen Kontrolle und Verfolgung seiner sexuellen Aktivitäten zu entziehen und innerhalb gewisser Grenzen als "selbstbewusster" und beinahe lebenslang "aktiver" homosexueller Mann zu agieren, musste er in seiner beruflichen wie persönlichen Lebensführung starke Einschränkungen hinnehmen: Die "bürgerliche" Existenz als angesehener Hochschullehrer vertauschte er mit der gesellschaftlich "randständigen" des Tattoo-Artists, die massenhaften sexuellen Kontakte in den Subkulturen ließen sich nicht mit dauerhaften Liebesbeziehungen verbinden (die Steward für sich selbst ablehnte), und seine ursprünglich hochgesteckten literarischen Ambitionen – die auf den "authentischen" homosexuellen Gesellschaftsroman zielten – blieben weitgehend auf die Nische als pseudonymer Autor schwuler Erotika beschränkt. Augenfällig wird in Springs biografischer Erzählung, wie sehr Stewards Scheitern als Schriftsteller auf tragische Weise zeitbedingt war: Seine literarischen Versuche, homosexuelles Leben authentisch und lustvoll zu schildern, kollidierten immer wieder mit den Vorbehalten von Lektoren, Redakteuren und Verlegern, die seine Manuskripte ablehnten oder ihm nahelegten, sie den moralischen Normvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Etliche literarische Projekte kamen unter diesem Druck nicht zum Abschluss. Das Manuskript zu dem Roman Chicago (1938), in dem Steward – nach Springs Rekonstruktionen aus seiner damaligen Korrespondenz – den Versuch unternahm, ein realistisches Bild von Chicagos gay scene kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zu zeichnen, ist verloren. Auch für seine englische Übersetzung von Jean Genets Roman Querelle de Brest (1953), die er zeitnah zum Erscheinen des skandalumwitterten französischen Originals anfertigte, konnte Steward keinen Verleger finden – Querelle wurde in den USA erst 1974 veröffentlicht. Zwar konnte Steward 1981 einen schmalen Band mit Memoiren unter dem Titel Chapters from an Autobiography veröffentlichen, musste aber erleben, dass der Wahrheitsgehalt seiner stark gekürzten Erinnerungen von Kritikern angezweifelt wurde.

Die Ablehnung, die Steward im offiziellen Literaturbetrieb erfuhr, und seine mangelnde Bereitschaft, sich dessen Marktgesetzen unterzuordnen, trieben ihn schließlich in den literarischen "Untergrund" der gay pulp novels, dem einzigen Medium dieser Epoche, in dem unverstellte Schilderungen schwuler Sexualität möglich, ja gefordert waren. Die kleine Renaissance, die seine Phil-Andros-Romane in den 1980er Jahren erfuhren, fiel ausgerechnet in eine Zeit, in der das in ihnen propagierte Bild des hedonistischen schwulen Sex, das für die gay liberation der vorigen Dekade prägend geworden war, infolge der AIDS-Pandemie brüchig wurde. Die Neuauflagen und Übersetzungen dieser Zeit enthielten dementsprechend Warnungen vor ungeschütztem Geschlechtsverkehr.

Bei aller Bewunderung für Stewards kämpferische Haltung und seine unbändige Kreativität werden in dieser Biografie die Schattenseiten seiner Existenz keineswegs verschwiegen, etwa sein langjähriger Kampf gegen Alkoholismus und Medikamentenabhängigkeit, seine Vorliebe für rough trade – flüchtigen käuflichen Sex mit vornehmlich heterosexuellen Strichern – und die zunehmend riskanteren sexuellen Konstellationen, die er aufgrund seiner immer stärker hervortretenden masochistischen Grundneigung aufsuchte. All dies schildert Spring ebenso taktvoll und ausführlich wie Stewards Großzügigkeit und Anhänglichkeit gegenüber engen Freunden, etwa dem Modefotografen George Platt Lynes (1907–1955), einem Pionier des male nude, dem exzentrischen schwulen Maler Sir Francis Rose (1909–1979), dessen von Skandalen begleitete Vita er in seinem letzten Roman Parisian Lives (1984) leicht verschlüsselt verarbeitete, oder dem lesbischen Künstlerinnenpaar Stein/Toklas, denen er mit der Herausgabe ihrer Briefe an ihn in seinem Buch Dear Sammy (1977) ein liebevolles Denkmal setzte. Erstmals eingehend dokumentiert wird hier auch Stewards mehrjährige Affäre mit dem prominenten Schriftsteller Thornton Wilder, dessen Homosexualität in der Wilder-Biografik lange unterdrückt wurde.

Springs Buch enthält neben sorgfältigen Quellennachweisen und einer umfangreichen bibliographischen Dokumentation – die neben Stewards Büchern erstmals seine zahlreichen kleineren Arbeiten verzeichnet, die er seit 1929 vielfach pseudonym für literarische, literaturwissenschaftliche und homosexuelle Zeitschriften und Anthologien verfasste – auch ein Personenregister und einen gut ausgewählten Bildteil, der die verschiedenen Milieus, in denen Steward sich bewegte, kontrastreich illustriert. Die Fotos zeigen Steward sowohl in seiner "offiziellen" Identität als Professor und literarischer Bohemien als auch in seinen klandestinen Existenzen als Tätowierer, privater sex researcher und Pornograph. Das wohl skurrilste Objekt, das Spring aus Stewards abwechslungsreicher Sexual-Vita abbildet, dürfte ein Reliquiar "Ex corporis [!] Valentino" mit einem Schamhaar des Schauspielers Rudolfo Valentino (1895–1926) sein, die Trophäe einer flüchtigen sexuellen Begegnung, die Steward 1925 als 16-Jähriger mit dem berühmten Stummfilmstar hatte.

Secret Historian ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Homosexualität im 20. Jahrhundert, eine exemplarische Biografie, die nicht nur einen beinahe vergessenen Literaten und Protagonisten der Pre-Stonewall-Ära in Erinnerung ruft, sondern mit der Erschließung seines Nachlasses auch einen ersten unverstellten Blick in ein kulturgeschichtliches Archiv verdrängten Begehrens wirft, das in seiner Form wohl einmalig sein dürfte.[3]

[1] Vgl. u.a. Kennedy, Hubert: (Art.) Steward, Samuel (Morris), in: Aldrich, Robert / Wotherspoon, Garry (Hg.): Who’s Who in Gay and Lesbian History. Vol. II: From World War II to the Present Day, London: Routledge 2001, S. 388-389. Kennedy, Hubert: Der Kreis – Le Cercle – The Circle. Eine Zeitschrift und ihr Programm (= Bibliothek rosa Winkel, Bd. 19), Berlin: rosa Winkel 1999; vgl. dazu die Rezension von Stephan F. Miescher in: Invertito 4 (2002), S. 204-208.

[2] Vgl. hierzu auch die noch immer lesenswerten Erinnerungen Stewards an seine frühen Jahre als Tätowierer. Steward, Samuel M.: Bad Boys and Tough Tattoos. A Social History of the Tattoo with Gangs, Sailors, and Street-Corner Punks, 1950–1965 (= Haworth Series in Gay & Lesbian Studies, vol. 3), New York: Haworth Press 1990.

[3] Spring hat einen weiteren Band herausgegeben, der den Steward-Nachlass anhand von Einblicken in sein zeichnerisches, fotografisches und bildhauerisches Werk sowie seiner Erotika-Sammlungen weiter erschließt, allerdings aufgrund seines relativ hohen Preises nur für wenige erschwinglich sein dürfte (An Obscene Diary. The Visual World of Sam Steward. Introduction by Justin Spring. [Hanover, NH/USA]: Elysium Press / Asphodel Editions 2010, 320 S, $ 150).




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 14