Insa Eschebach (Hg.)
Homophobie und Devianz

Reihe Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburger Gedenkstätten

Metropol-Verlag, Berlin, 2012, 207 S., € 19

sorry, no cover

 

Rezension von Andreas Brunner, Wien

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Seit der Eröffnung des Denkmals für die verfolgten Homosexuellen im Nationalsozialismus in Berlin gab es Streit, vor allem unter Lesben und Schwulen. Einerseits weil sich Erstere durch das Mahnmal, das ein Video mit einem küssenden Männerpaar zeigte, nicht repräsentiert fühlten, andererseits zwischen jenen Schwulen und Lesben, die für eine Adaptierung des Denkmals eintraten, und einer Gruppe von HistorikerInnen, die sich gegen "eine Instrumentalisierung der Geschichte für "gegenwärtige oder künftige Interessen" (S. 18) wandte. Der von Insa Eschebach, der Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, herausgegebene Tagungsband geht von den kontroversen Diskussionen aus und kehrt am Ende wieder zu diesen zurück.

Die Grundlagen der Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit legt Susanne zur Nieden in ihrem Aufsatz "Der homosexuelle Staats- und Volksfeind" dar, wobei sie sich auf die geistesgeschichtlichen Grundlagen konzentriert, die vom Wilhelminischen Kaiserreich über die Weimarer Republik in den Nationalsozialismus führen. Mit Claudia Schoppmanns Beitrag über die Verfolgung lesbischer Frauen sind wir bereits im Zentrum des Denkmalstreits angelangt, denn das NS-Regime machte deutliche Unterschiede in der Repression homosexueller Männer einerseits und Frauen andererseits. Eine strafrechtliche Verfolgung von Lesben war ausschließlich im Bereich des "angeschlossenen" Österreich möglich, da der österreichische §129Ib im Gegensatz zum deutschen §175, der nur sexuelle Kontakte zwischen Männern pönalisierte, geschlechtsneutral formuliert war und auch "Unzucht wider die Natur" zwischen Frauen unter Strafe stellte. Schoppmann zeigt aber, dass auch im sogenannten "Altreich" lesbische Frauen verfolgt, inhaftiert und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Wie sie in einem zweiten Beitrag anhand von vier Biografien belegt, wurden lesbische Frauen im KZ Ravensbrück als politische Häftlinge geführt, zusätzlich aber auch in den Lagerkarteien als "lesbisch" gekennzeichnet.

Jens Dobler regt in seinem Aufsatz eine grundsätzliche Diskussion über den Begriff "Verfolgung" an, da die Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus nicht auf die reine strafrechtliche Dimension reduziert werden dürfe. Weder in der Geschichtswissenschaft noch in der Soziologie sei dieser ausreichend definiert. Es zeigt sich aber anhand der erhaltenen Quellen, dass die Nationalsozialisten Lesben sehr wohl verfolgten, wenn auch nicht unter dem Titel des Männern vorbehaltenen §175, sondern unter anderen Tatbeständen wie Kuppelei oder einem schwammig definierten Unzuchts- bzw. Sittlichkeitsbegriff. Dobler schlägt vor, dass "der Begriff Verfolgung nicht an der Quantität und Qualität der Verfolgungshandlung festgemacht werden darf", weil es so zu einer nicht sinnvollen Aufrechnung von Opfern käme, vielmehr sieht er diesen "sinnvoller und zielgerichteter am Zweck" festzumachen, im Falle des §175 betont er dessen "generalpräventive Wirkung", die die Nationalsozialisten nach dem Motto "bestrafe wenige, meine alle" (S. 61) handeln ließ.

Homophobe Stigmatisierungen im Frauenlager Ravensbrück, die in der Erinnerungsliteratur ehemaliger KZ-Insassinnen über lesbische Frauen tradiert wurden, legt Insa Eschebach offen. Immer wieder wird lesbische Sexualität in einen Zusammenhang mit Gewalt und Prostitution gebracht, wobei es vor allem auch zu einer "retrospektiven Sexualisierung des SS-Personals und der Funktionshäftlinge" (S. 77) kommt.

Die "Männer mit dem rosa Winkel" zählten in den KZs nach den rassisch verfolgten Juden, Roma und Sinti zur untersten Häftlingskategorie mit einer der höchsten Todesraten. Eindrucksvoll erläutert Alexander Zinn die homophoben Motive, die zu dieser prekären Situation der homosexuellen Häftlinge führten. Keiner konsistenten Gruppe wie den unterschiedlichen politischen Gruppierungen angehörend, konnten die Schwulen innerhalb des Lagers keine Selbstorganisation schaffen, die ihnen das Leben und Überleben erleichtert hätte. Einerseits waren sie der Willkür des Wachpersonals und der SS ausgeliefert, andererseits hielt sich unter den politischen Häftlingen selbst im KZ das homophobe Stereotyp des "schwulen Nazis". Es waren vor allem die (kommunistischen) Antifaschisten, die im Lager (vermeintliche) Homosexualität als Mittel der Denunziation einsetzten aber auch bis weit in die Nachkriegszeit die Aufarbeitung der NS-Verbrechen an Homosexuellen verhinderten.

"Rückgriffe auf etablierte Denunziationsmuster" (S. 117) stellt auch Klaus Müller in seinem Aufsatz über "Gedenken und Verachtung" fest, wenn er den gesellschaftlichen Umgang mit der Homosexuellenverfolgung thematisiert. Den Umgang mit der "Homosexuellenfrage" nach 1945 sieht er von zwei Perspektiven maßgeblich geprägt: "dem Mythos einer kausalen Verbindung zwischen Homosexualität und Faschismus und der Weigerung, die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung als Unrecht anzuerkennen." (S. 115) Er betont, dass in den Theoriemodellen von Psychoanalytikern wie Wilhelm Reich oder Erich Fromm bis hin zu den "Männerphantasien" von Klaus Theweleit vor allem aus einer linken Perspektive "ein kausaler Zusammenhang zwischen faschistischen Männerbünden, Homosexualität und Gewalt unterstellt wird" (S. 126). Dass der rosa Winkel vom "nationalsozialistischen Kennzeichen des Untermenschen zum kollektiv-stolzen Erkennungszeichen Homosexueller in den 1970er- und 1980er-Jahren" wurde, erscheint Müller "seltsam geschichtslos", weil er als "abstraktes Zeichen" zwar ein "politisches Signal" sei, aber nicht an die erinnere, "die gezwungen worden waren, ihn zu tragen". Müller unterstellt in diesem Zusammenhang, dass die Adaptierung dieses Symbols der Unterdrückung "sicherlich etwas über das Gefühl der Bedrohung aus[sagt], das noch in den 1970er-Jahren präsent war" (S. 129), vergisst dabei aber, dass die Umkehrung des rosa Winkel auch mit einer Umwertung von Diskriminierung und Verfolgung in einem breiteren Zusammenhang zu interpretieren ist. So wurde auch in den 1970er-Jahren die als Schimpfwort gebrauchte Bezeichnung "schwul" zu einem Begriff des Stolzes umgedeutet.

Sowohl Müller als auch Thomas Rahe betonen, dass "die etablierte Geschichtswissenschaft jahrzehntelang kein Interesse an der Erforschung der NS-Homosexuellenverfolgung hatte" (S. 134), und dass damit die Opfer lange Zeit aus dem Kanon des Gedenkens ausgeschlossen waren. Da Homosexualität sowohl im Deutschland als auch im Österreich der Nachkriegszeit strafbar blieb, homosexuelle Opfer daher auch keine "Lobby" hatten, wurden sie aus dem Gedenken ausgeschlossen und ihre Verfolgungsgeschichte an den einzelnen Gedenkorten lange verschwiegen. Erst die Homosexuellenorganisationen ab den 1970er-Jahren machten sich zu Erben einer verdrängten Generation. Thomas Rahe sieht die "Identität heutiger Homosexueller (in Deutschland) durch das Trauma der nationalsozialistischen Verfolgung mitbestimmt" und er fordert daher nicht nur die Darstellung dieser Geschichte in Gedenkstätten, sondern auch eine "Vernetzung mit schulischem Unterricht, mit Medien, historischen Museen und anderen Formen historischer und kultureller Erinnerung" (S.146). Die Frage, ob dieses Gedenken einen Missbrauch von Geschichte darstellt, wenn es heute als identitätsstiftend politisch eingesetzt wird, bleibt vorerst aber ungestellt und unbeantwortet.

Mit Blick auf die "Frauen von Ravensbrück" zeigt Insa Eschebach in ihrem Beitrag, wie stark auch das Gedenken an verfolgte Frauen von einem im Grunde patriarchalen Denken geprägt war. Frauen wurde lange Zeit zuallererst als Mütter gedacht, deviante Frauen, "sogenannte asoziale Häftlinge, lesbische Frauen, Kriminelle, Prostituierte, Jüdinnen, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und viele andere mehr wurden zur ausgesparten Geschichte Ravensbrücks" (S. 152). Dass es inzwischen auch zu einem Wechsel der Geschlechterstereotypen im Gedenken kam, zeigt sie an der Geschichte des Gedenkens im "Jugendschutzlager Uckermark", wo heute auf Initiative engagierter Frauen und Lesben vor allem "unangepasster Weiblichkeit" (S. 159) gedacht wird.

Womit wir beim heutigen Gedenken angelangt wären. Stefanie Endlich stellt die Genese des Berliner Homosexuellen-Denkmals übersichtlich dar und belegt, wie die Ausschreibungsbedingungen für den Wettbewerb zum Berliner Mahnmal, aus dem schließlich das verwirklichte Projekt des Künstlerduos Michael Elmgreen und Ingar Dragset hervorging, die Diskussionen bis heute präjudizieren. Dass die Betonstele, die auf das auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegende "Mahnmal für die ermordeten Juden Europas" Bezug nimmt, das Video eines küssenden Männerpaares zeigt, führte umgehend zu einem Protest von Lesben, die sich aus dem Gedenken ausgeschlossen fühlten. Ist das Berliner Homosexuellen-Denkmal überhaupt "Ein Denkmal für Schwule UND Lesben?" fragt Corinna Tomberger berechtigterweise im Untertitel ihres Aufsatzes. Als die Politik den Künstlern eine Bespielung mit wechselnden Filmen abrang, war weiterer Streit bereits auf dem Weg: HistorikerInnen protestierten gegen eine "Verzerrung und Verfälschung der Geschichte" und warnten davor, das Gedenken an die Opfer durch "historisch nicht zu vertretende Gleichsetzungen zu nivellieren und zu entwerten." (S. 184) Außenstehenden, die in die teils sehr emotional geführte Debatte nicht involviert waren, geben die beiden Aufsätze von Endlich und Tomberger einen guten und unpolemischen Einblick in die unterschiedlichen Positionen der Auseinandersetzung.

Seit Januar 2012 gibt es einen neuen Film mit fünf Kussszenen, darunter zwei lesbischen. Tomberger kritisiert daran, dass auch dieser Film sich darauf beschränkt, "lesbische Frauen in eine Rahmung einzupassen, die sich an schwuler Geschichte orientiert" und dass auch der zweite Film keinen "Ausweg aus dem Dilemma [bietet], das dem Denkmal aufgrund seiner Widmung strukturell innewohnt" (S. 207). So können auch mit der Neubespielung des Denkmals zwei Grundprobleme, die in mehreren Aufsätzen des Bandes anklingen, nicht gelöst werden: Wie thematisiert man in und mit einem Denkmal die historisch belegte unterschiedliche Qualität und Quantität der Verfolgung von Schwulen und Lesben einerseits und wie wirkt man einer identitätspolitischen Vereinnahmung des Gedenkens entgegen, wenn man in und mit einem Denkmal, das die Verfolgung im Nationalsozialismus zum Thema hat, auch auf gegenwärtige Diskriminierungen verweisen will.

Der Bogen ist damit geschlossen. Es mag ein Schwachpunkt dieser Sammlung von Aufsätzen sein, dass kaum neue Forschungsergebnisse präsentiert werden, es ist aber auch ihr Verdienst, dass die ausgewählten Texte in summa einen Überblick über die zentralen Fragestellungen der Forschung geben. Damit wird der Workshop-Bericht auch für einen Kreis an LeserInnen außerhalb des engen Kreises von SpezialistInnen interessant, weil zusätzlich wichtige Themen, wie etwa die spezifische Verfolgung von Lesben auch von verschiedenen AutorInnen aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert werden. Als Fazit bleibt: Homophobie und Devianz regt weitere Forschungen an und wird auch Basis für weitere Denkmalsdiskussionen sein.




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