Franz X. Eder
Homosexualitäten
Diskurse und Lebenswelten 1870–1970

Verlag Bibliothek der Provinz, Wien/Weitra, 2011, 142 S., € 18

sorry, no cover

 

Rezension von Stefan Micheler, Hamburg

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Franz X. Eder, an der Universität Wien Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Sexualitätsgeschichte im deutschsprachigen Europa, legt mit Homosexualitäten. Diskurse und Lebenswelten 1870–1970 eine Überblicksdarstellung vor, die eine Einleitung und vier Kapitel umfasst. Die Periodisierung ist dem zeitlichen Rahmen geschuldet, den die Reihe "Enzyklopädie des Wiener Wissens" setzt. Diese 100 Jahre sind aber durchaus auch für das Thema Homosexualität ein geeigneter Betrachtungszeitraum, da sie den Bogen vom Aufkommen der Figur des Konträr- bzw. Homosexuellen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem Beginn einer homosexuellen Emanzipation um die Jahrhundertwende bis zum gesellschaftlichen Umbruch Ende der 1960er Jahre schlagen. Insbesondere die Lektüre der Einleitung und des ersten Kapitels "Laster, Zwang oder Krankheit" sind bereichernd. Beide liefern einen guten Überblick und fassen die Forschung bis zum Jahr 2010 pointiert zusammen.

Eder macht in seiner Einleitung, die auch als Zusammenfassung des Werkes gelesen werden kann, zunächst deutlich, dass "Homosexualitäten" als lange von der etablierten Geschichtswissenschaft gemiedenes und "Betroffenen" zugeschriebenes Thema seit dem Paradigmenwechsel der Sexualitätsgeschichte hin zum Sozialkonstruktivismus in den 1970er und 1980er Jahren und der Etablierung von Alltags-, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie durch die Diskursanalyse als methodisches Herangehen stärker wahrgenommen wird. Denn in seinem Rahmen ließen sich "elementare geschichtswissenschaftliche Fragen, etwa die nach der Genese des Subjekts, der Entwicklung von Wissens- und Denksystemen, den sich wandelnden Schnittstellen von Kultur und Gesellschaft, ansprechen" (S. 15).

Daran schließt sich die Auseinandersetzung mit den Begriffen an, mit denen gleichgeschlechtliches Begehren und Abweichung von der Norm der Zweigeschlechtlichkeit beschrieben wurden und werden. Eder stellt fest, dass eine Beschreibung ohne Rückgriff auf Vorstellungen aus bestehenden, zumeist heteronormativen Konzepten kaum möglich sei, denen sich deshalb sein eigener Text auch kaum entziehen könne. Diesem Dilemma versuche er zu entgehen, indem er sprachlich weniger besetzte Formulierungen wie "gleichgeschlechtlich begehrende Männer/Frauen" (S. 16) verwende, was er aber in seinem Werk selbst nicht immer konsequent durchhält. Zugleich macht er deutlich, dass eine Geschichte der Homosexualitäten nur im Kontext einer Geschlechtergeschichte unter Berücksichtigung von Konstruktionsprozessen und Machtverhältnissen geschrieben werden kann (S. 16). Er benennt damit ein Faktum, dem in vielen Veröffentlichungen gerade zur Geschichte männlicher Homosexualität nach wie vor nicht immer Rechnung getragen wird.

Eder betont in diesem Zusammenhang auch den Wandel von Kategorien und Zuschreibungen im Lauf der Geschichte und die Bedeutung der Wechselwirkungen und Überschneidungen von Öffentlichkeit ("etwa staatliche und politische Institutionen, öffentliche Wahrnehmung und kollektive Meinungen") und Privatheit ("wie Familie, Partnerschaft, erotische und sexuelle Beziehungen", S. 17) bei der Betrachtung gleichgeschlechtlichen Begehrens. Sein Blick gilt dabei Einschlüssen und Ausschlüssen. Eder stellt fest, dass der staatliche Kampf gegen männliche Homosexualität und die gesellschaftliche Diskriminierung männerbegehrender Männer nicht nur der Aufrechterhaltung von Moral, Anstand und Sitte gedient hätten, sondern auch Maßnahmen zur "Bewahrung von Grundfesten nationalstaatlich-politischer Hegemonie, der Geschlechterhierarchie und der ihr zugrunde liegenden Heteronormativität und -sexualität" gewesen seien (S. 17).

Es habe in den von ihm untersuchten Jahren einen breiten Diskurs über gleichgeschlechtliches Begehren gegeben, zu dem auch gleichgeschlechtlich begehrende Menschen beigetragen hätten, um Fremd- und Selbstwahrnehmungen zu verändern und Verfolgung und Diskriminierung zu beenden. In diesem Zusammenhang definiert er, was er unter Diskursen versteht und unterstreicht in Bezug auf [bestimmte Lesarten der Ausführungen von] Michel Foucault, dass "Homosexualität und Homosexuelle keinesfalls als rein diskursive Effekte verstanden werden dürften" (S. 18). Anschließend setzt er sich mit der Konstruktion von Homosexuellen als Drittes Geschlecht und der Wirkmächtigkeit dieses Diskurses auseinander, wobei er Chancen, etwa der Selbstfindung und der Emanzipation, und Probleme, etwa der Normierung und Einengung, für gleichgeschlechtlich begehrende Menschen benennt, ohne diese jedoch näher zu beschreiben.

Auch die Quellenproblematik wird verdeutlicht: Viele Quellen, die gleichgeschlechtlich begehrende Menschen zeigen, sind im Rahmen von Verfolgungssituationen entstanden und legen daher den Fokus auf die Sexualität, reduzieren die Menschen damit erheblich und verstellen den Blick auf Lebenswelten, die es aber sichtbar zu machen gelte. Eder unterstreicht ausgehend von lebensgeschichtlichen Texten und Materialien, dass gleichgeschlechtlich begehrende Menschen nicht nur Objekte von Diskursen gewesen seien, sondern "durch widerständige und eigensinnige Lebensentwürfe und Erfahrungen […] über die Jahrzehnte hinweg einen elementaren Beitrag zur (Neu-)Ordnung des Denk- und Sagbaren" geliefert und "damit die Inhalte und Strategien der Diskurse" verändert hätten (S. 20): "Sie widersprachen hegemonialen Deutungen und trugen eigene Interpretationen und individuelle Sichtweisen bei." (S. 20)

Zum Abschluss der Einleitung skizziert Eder den betrachteten Zeitraum, benennt die Themenfelder des Werkes und formuliert den Anspruch, die in einigen Bereichen kaum noch überschaubaren Publikationen zur "Historiografie der Homosexualitäten" zu systematisieren (S. 22).

Im ersten Kapitel "Laster, Zwang oder Krankheit" stellt Eder die unterschiedlichen Modelle vor, mit denen im 19. Jahrhundert Konträr- bzw. Homosexualität als Abweichung erklärt wurde. Hier blickt er – quellengeschuldet – von außen, während das zweite Kapitel "Homosexuelle (Sub-)Kulturen vom Fin de Siècle bis in die Zwischenkriegszeit" eher aus der Perspektive der "Betroffenen" geschrieben ist. Gerade in diesem Kapitel fehlen leider zuweilen Verweise, woher die von ihm referierten Forschungsergebnisse stammen, sodass es schwierig ist, einzelne Aspekte zu vertiefen, wenn man nicht selbst mit der nicht zitierten Literatur vertraut ist.

Eder legt im dritten Kapitel "Homosexualität unter dem Hakenkreuz" den Fokus auf die Lebenswelten und nicht nur auf die Verfolgung. Er fasst viele der zahlreichen Veröffentlichungen gelungen zusammen und bietet so einen sinnvollen Überblick. Auch hier fehlen vereinzelt Verweise.

Im vierten Kapitel "Schweigen, Verdrängen und Totalverbot nach 1945" problematisiert Eder das Schweigen in der Nachkriegszeit über die Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit bis hin zu Zwangskastration und Mord sowie die Kontinuität der Strafverfolgung. Er vergleicht die BRD, die DDR und Österreich, in denen gleichgeschlechtliche Sexualität unterschiedlich lang und unterschiedlich intensiv strafrechtlich verfolgt wurde, zum Teil mit der unter der NS-Herrschaft verschärften Strafrechtsbestimmung. Er verweist auch auf gesellschaftliche und ökonomische Probleme durch die Einträge im Vorstrafenregister, wodurch man kein reines Führungszeugnis habe erhalten können. Vor diesem Hintergrund sei es kein Wunder gewesen, dass kaum ein Homosexueller einen Antrag auf Entschädigung für das erlittene Unrecht gestellt habe, da sie einerseits nicht als Opfer anerkannt wurden und andererseits ein Antrag einer Selbstanzeige gleichgekommen wäre (S. 98).

Insgesamt hat Franz X. Eder eine ansprechende Überblicksdarstellung vorgelegt, die nicht nur eine gute Einstiegslektüre ist, sondern auch für Menschen, die mit der Materie vertrauter sind, gute Anregungen bietet. Er macht auch weibliche Homosexualität sichtbar, allerdings dominiert, vermutlich quellen- und forschungsgeschuldet, der Blick auf männliche Homosexualität. Auf 140 Buchseiten 100 Jahre Diskurse und Lebenswelten gleichgeschlechtlich begehrender Menschen darzustellen, ist allerdings ein ehrgeiziges Vorhaben, das Eder nur gelingt, weil er nicht in die Tiefe geht. Es liegt auf der Hand, dass bei einem derart breiten Überblick Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen können oder dass man Fehler oder Lücken anderer übernimmt, weil gar nicht die Möglichkeit besteht, alle Aussagen an Quellen zu überprüfen. So schreibt Eder beispielsweise, dass der Begriff "Homosexualität" 1869 vom österreichisch-ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny geprägt – im Sinne von publiziert – worden sei, sein "Geschwisterbegriff" Heterosexualität aber erst elf Jahre später entstanden wäre. Allerdings verwendete Kertbeny alias Benkert beide Begriffe und auch den Begriff monosexual (für "Masturbatoren") erstmals 1868 in einem Schreiben an Karl Heinrich Ulrichs, den Hannoveraner Pionier der Emanzipation gleichgeschlechtlich begehrender Menschen, wie der 2005 im Rahmen einer Ausstellung in Wien gezeigte Brief verdeutlicht.




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