Noreen Giffney / Michelle M. Sauer / Diane Watt (Hg.)
The Lesbian Premodern

Palgrave Macmillan, Basingstoke, 2011, 236 S., € 71,99

sorry, no cover

 

Rezension von Claudia Jarzebowski, Berlin

Erschienen in Invertito 14 (2012)

Das vorliegende Buch sieht sich in der Tradition der Queer History und bildet eine Auseinandersetzung mit aktuellen, mit drängenden und mit wiederkehrenden Fragen der Geschichte der Sexualitäten, der Geschlechter, der Identitäten und den Möglichkeiten ihrer Theoretisierung. Dabei steht weniger die Historisierung im Vordergrund, als vielmehr die Frage, mit welchen Kategorien eine Queer History arbeiten kann, die sich der Herausforderung stellt, sexuelles Handeln resp. Begehren und sexuelle Identität zu entkoppeln. Diese Frage bildet die Klammer der literaturwissenschaftlichen und historischen Beiträge, die knapp acht Jahrhunderte behandeln. Viele der Autorinnen sind Veteraninnen der Lesbian Studies und bilden so auch die Zeit mit ab, in der Queer History vor allem Identitätsgeschichte war: das Auffinden von Lesben in anderen Jahrhunderten. Ein solches Anliegen würde heute kein Buch mehr tragen, denn mittlerweile ist unbestritten, dass die heterosexuelle Matrix als Bedingungsgefüge für die Herausbildung von an Sexualität gebundenen Identitätskategorien ebenso zur Moderne gehört wie die Trennung der Sphären in öffentlich/privat, Natur/Kultur, Emotion/Vernunft, männlich/weiblich etc. Der Titel des Buches ist somit bewusst anachronistisch, denn es gab in der Frühen Neuzeit und auch im Mittelalter keine Lesben, es gab lesbian-likes (Judith Bennett), d.h. Frauen, die Frauen begehrten und erotische und/oder sexuelle Beziehungen zu Frauen pflegten, aber auch Frauen, die keine solche Beziehungen und auch keine ehelichen Beziehungen zu Männern eingingen. Die AutorInnen legen durchgängig Wert darauf, keine Opfergeschichten zu schreiben, sondern solche Beiträge, die Spielräume erkennen und skizzieren, die Frauen in den Mittelpunkt rücken, die ihr Begehren ausgelebt haben – sei es in der direkten körperlichen Interaktion, sei es in Briefen oder Tagebüchern. Inwieweit die Kategorie lesbian-like dazu geeignet ist, diese Leben einzufangen, muss – auch nach diesem Buch – offen bleiben.

Es ist ein großes Verdienst der Herausgeberinnen, ein kritisches Vorwort von Karma Lochrie eingeworben zu haben, in dem die Vorbehalte gegenüber modernen Kategorien präzise und elegant diskutiert werden. Heteronormativität, so die Mediävistin, sei eben nicht die Leitkategorie vormoderner europäischer Gemeinschaften gewesen und deswegen funktionierten auch die abgeleiteten Kategorien nicht. Sie bezieht ihre Kritik dabei auch auf die Queer History, denn diese arbeite mit Normativitätskonzepten bzw. Abweichungen davon, denen ein transepochales Potential a priori fehle, da der jeweilige historische und soziale Kontext andere Normativitätskonzepte (falls überhaupt) bereithalte, die dann nicht sichtbar gemacht werden könnten, wenn modernistische Subtexte die Analysekategorien bestimmten. Die Herausgeberinnen rekurrieren in ihrer Einleitung auf diese Bedenken, so dass sich dieser Band von Beginn an auch als Diskurs über kategoriale Vorannahmen und präfigurierte Erkenntnisinteressen verstehen lässt.

In drei größeren Abschnitten sind Beiträge zu den Themenfeldern Theories and Historiographies, Readings and Histories sowie Encounters with the Lesbian Premodern angeordnet. Im ersten Themenfeld schreibt Valerie Traub zu den Perspektiven einer lesbischen Historiographie, Anna Laskaya nimmt eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf mittelalterliche Literatur und Lesbian Studies ein, Lara Farina lotet Reichweiten des Konzepts Erotic Reading für eine lesbische Geschichte aus, Carla Freccero verschreibt sich dem queering der lesbischen Vormoderne und schließlich greift Theodora A. Jankowski dissidente Genderpositonen auf und entwirft eine Skala der Weiblichkeit, die von der Jungfrau bis zur "Nicht-Frau" reicht. Traub plädiert dafür, die Identitätsfrage jenseits der oft als künstlich wahrgenommenen Entgegensetzung "Alterität" versus "Kontinuität" zu behandeln, indem Fragen thematisiert werden, die historische und gegenwartsbezogene Relevanz aufweisen. Sie schlägt dafür etwa Erotisierung und Begehrenspraktiken als Zugänge zu Fragen nach weiblicher Selbst-Identifizierung vor. Zugleich möchte sie die sogenannte lesbische Historiographie eingebettet wissen in weitere Differenzfragestellungen, etwa Hautfarbe, Glauben, soziale Zugehörigkeit, um den "alternative genealogies of sexual modernity" (S. 31) auf die Spur zu kommen. In diese Perspektivierung ordnet sich Frecceros Entwurf einer – differenzierten – lesbischen Vormoderne ein, die insbesondere gegen ein Verständnis der Moderne als Brutstätte des männlichen, weißen Individuums im Kontext einer Nation argumentiert. Laskaya und Jankowski bieten Beispiele, die die Forderung aufwerfen, Differenzen – historisch, kulturell, innerhalb von Gemeinschaften (wie etwa einem anvisierten Publikum) – stärker zu betonen als die Chancen, allgemeingültige Aussagen zu treffen, die auf einem Faktizitätsmodell beruhen, das mit übergeordneten Realitäten beziehungsweise Wahrheiten operiert. Farinas Vorschlag, sich die erotischen Dimensionen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte zu vergegenwärtigen, ist nicht ganz neu, denn diese Lesarten werden bereits praktiziert. Auf sehr vorsichtige Weise haben sie etwa in die Rezeption von Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg und auch in die Analyse von Konversionsberichten Eingang gefunden.

In Readings and Histories werden die Beiträge deutlich experimenteller. Lisa M. C. Weston nähert sich Briefen aus dem 6. und 7. Jahrhundert als Dokumenten erotischen Schreibens und Lesens im Sinne der Virgin Desires, die sich auf Gott und sublimierend auf Frauen richteten, mit denen eine Gemeinschaft bestand. Die Jungfräulichkeit erscheint hier als ein – metaphorischer und gegebenenfalls auch realer – Raum der Ermöglichung. Anna Klosowska liest klösterliche Texte von Nonnen als identitätsbezogene Texte und plädiert dafür, das femme-Modell zum Leitfaden zu machen, d.h. die Weiblichkeit in der Unterwerfung wiederzufinden, allerdings im Sinne der Selbstermächtigung. Uneindeutige Generativität erweist sich als ein zentrales Thema der Narrative von Frauen und über Frauen, auch in transkultureller Perspektive, wie Ruth Vanita am Beispiel von hinduistischen Gottheiten, etwa Kama (männlich) und Ganga (weiblich) und den zahlreichen Zwischenstufen zeigt. Judith M. Bennett setzt sich in ihrem Beitrag mit einem Grabmonument auseinander, das zwei Frauen zeigt – Elizabeth Etchingham und Agnes Oxenbridge, Töchter des höheren englischen Bürgertums. Sie starben 1452 und 1480 mit ca. 25 und knapp über 50 Jahren. Bennett interpretiert das Monument als Beleg für eine emotionale, liebevolle und akzeptierte Beziehung zwischen den beiden Frauen. Beide Familien stimmten offenbar überein, die beiden Frauen auf eine Weise zu kommemorieren, die ihre tiefe Verbundenheit signalisiert. An diese Beobachtung schließt Bennett eine Reflexion über die Anwendbarkeit des von ihr eingebrachten Begriffs lesbian-like an, der im Wesentlichen der Frage geschuldet ist, warum die beiden keine Frauen begehrenden Frauen gewesen sein sollten. Die Antwort auf die komplementäre Frage aber, warum sie es gewesen sein sollten, bleibt offen – das ist insbesondere vor dem Hintergrund irritierend, dass die Autorin vollkommen zu Recht den Kontext des Freundschaftsdiskurses evoziert, der im Mittelalter homosoziale Beziehungen begünstigte. Helmut Puff wiederum zeichnet unterschiedliche Diskursstränge lesbischen Wissen und des Wissens über homoerotische Frauenbeziehungen nach. Ausgehend von der Zimmern-Chronik, verfasst in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts, beschreibt er am Beispiel einer auffällig gewordenen Magd, welches Wissen über "männliche Frauen" zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort kursierte und wie und zu welchen Zwecken dieses Wissen gesichert und tradiert wurde. So wurde die Magd zum Beispiel einer körperlichen Inspektion unterzogen, die lediglich zum Ergebnis führte, dass auch ihr Körper rätselhaft sei. In seiner feinsinnigen Interpretation gelingt es Puff, diese "Geschichte" in der Familienchronik als Zeichen einer gesellschaftlichen Krise zu lesen, die ihr den Weg in das Dokument geebnet hat. Puff parallelisiert diese Praxis der Wissenserzeugung dann mit einem in lateinischer Sprache gedruckten Gespräch des Erasmus über Sappho, das erst in späten Übersetzungen der Werke des Erasmus berücksichtigt wurde. Diese Auslassung liest Puff als Ausdruck einer bereits im 16. Jahrhundert einsetzenden Delegitimierung des Wissens über das Begehren zwischen Frauen.

Im dritten Teil schauen Historikerinnen und Literaturwissenschaftlerinnen der Moderne auf eine lesbische Vormoderne, die ihnen überwiegend fremd bleibt. Umso stärker treten im US-amerikanischen Wissenschaftsbetrieb üblich gewordene autobiographisierte Denkbewegungen hervor, die an die Stelle einer simplen Identitätsgeschichte rücken. Heike Bauer behandelt die von Julia Kristeva gestellte Frage nach vergeschlechtlichten Zeitlichkeitsbegriffen und stellt diese für "the lesbian past". Dabei plädiert Bauer für transepochale, transkulturelle und transnationale Herangehensweisen an diese lesbische Vergangenheit, die sie in demselben Moment als transhistorische Erscheinung universalisiert. Vor diesem Hintergrund erhebt sie die – aus vielen Gründen – unterstützenswerte Forderung, die Grenze zwischen Vormoderne und Moderne zu relativieren. Einige dieser Gründe greift Lillian Faderman, die grand old lady der lesbischen Historiographie, elegant und wohltuend geistreich auf. Vor allem aber plädiert sie vor dem Hintergrund ihrer Jahrzehnte währenden Forschungen zur Frauen- und Lesbengeschichte dafür, das Interesse an einer lesbischen Geschichte bzw. lesbischen Geschichten als reading strategy eher denn als Beweisgeschichte zu verstehen. Auf diese Art öffne sich der historische EntdeckerInnenblick vor allem auf unerwartete "Funde" leichter, die der Pluralisierung "allgemeinhistorischer" Betrachtungen dienlich seien, und so der segmentierten Geschichtsschreibung kenntnisreich entgegentreten. Ihr Essay gehört zu den bedenkenswertesten Beiträgen des Bandes, in Abgrenzung zu dem hier nicht näher besprochenen Beitrag Elizabeth Freemans, die einen bereits 2000 in New Literary History publizierten Aufsatz zur – gegenwärtig hofierten – Idee der achronicity zweitverwertet. Linda Garber liefert auf weniger als fünf Seiten ihre erfrischende Sicht auf die Beiträge und "die" Vormoderne, wie sie sich im Band darstelle. Sie scheut dabei nicht davor zurück, die gelegentliche Starrsinnigkeit ihrer KollegInnen aus der Moderne als Problem zu benennen. Schließlich folgt der Artikel Martha Vicinus‘, die neben Helmut Puff und Lillian Faderman dritte mit transepochalen und interdisziplinären Kompetenzen ausgestattete Historikerin und Literaturwissenschaftlerin, die in ihrem Beitrag mit dem paradigmatisch zu verstehenden Titel Lesbian Ghosts aus den eigenen Forschungen und den vorliegenden Texten schwungvoll kritisch schöpft. Vicinus plädiert dafür, die Figur des Lesbischen als Denkfigur historisch kreisen zu lassen und davon auszugehen, dass diese Figur im Sinne einer von Foucault inspirierten Diskursgeschichte historisch auffindbar ist und doch ihren Eigensinn und ihre Bedeutung erst im historischen Kontext entfaltet. Diese Konkretionen seien, wie Valerie Traub bereits gezeigt hat, wiederkehrend und veränderlich (cycles of salience) und weisen in Forschungsgebiete der frühneuzeitlichen Gesellschaftsgeschichte, die über eine lesbische Vormoderne als Vormoderne von Lesben deutlich hinausweist. Robyn Wiegman nimmt in ihrem Nachwort die im Band versammelten Beiträge zum Anlass, ihre eigenen Forschungen – insbesondere solche zu Gewaltbeziehungen zwischen Frauen, etwa Sklavinnen und Herrinnen – kritisch zu reflektieren. Dabei gelingt es ihr zumindest ansatzweise, ihren Beitrag auf die anderen zu beziehen, was sich vor allem deswegen anbietet, weil es zu Gewalt zwischen Frauen (nicht so sehr zu deren erotischer Aufladung, was Wiegmans Interesse zu sein scheint) einige, wenngleich nur wenige Studien aus frühneuzeitlicher Perspektive gibt, weshalb zugleich ein Forschungsdesiderat auch der Queer History benannt ist.

Das politische Anliegen des Sammelbandes ist ebenso aktuell wie ungelöst. Vom historisch-kritischen Standpunkt aus weisen einige Beiträge handwerkliche Mängel und inhaltliche Verkürzungen auf. Manches hätte in ausführlicheren Fußnoten aufgegriffen werden können. Anderes (und Entscheidenderes) hätte einer Vorentscheidung der Herausgeberinnen darüber bedurft, Beiträge zu publizieren, deren (um es zu betonen: begrüßenswerte) theoretische und politische Herkunft das Denken und Argumentieren aus der Vergangenheit heraus nicht in dem Maße verengt, in dem es streckenweise geschieht. Weniger, aber ausführlichere Beiträge wären eventuell ein Weg zu mehr historischer Tiefenschärfe gewesen. Originell ist, dass das Buch im Grunde eigene Rezensionen sowohl im Vorwort als auch im Nachwort, aber auch im gesamten dritten Teil bereits mitliefert. Durch diese reflektierende Verklammerung tritt die Interpretationsbedürftigkeit und die Interpretationsfähigkeit des historischen Materials und deswegen die Notwendigkeit der methodischen und theoretischen Reflexion (und nicht nur Inspiration) anschaulich hervor. Es liegt ein diskussionswürdiges, theoretisch positioniertes und vielseitig inspirierendes Buch zu einer – wie auch immer figurierten – lesbischen Vormoderne über acht Jahrhunderte vor, anhand dessen sich WissenschaftlerInnen ebenso wie Studierende in einige Realitäten und Potentialitäten von Queer History und Queer Histories einlesen können. Das ist gut so.




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