Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Liebe Leserinnen und Leser,

die Redaktion freut sich, Ihnen auch in diesem Jahrbuch eine Reihe von spannenden Beiträgen zur Geschichte der Homosexualitäten darbieten zu dürfen. Ohne dass wir im Vorfeld bewusst einen Themenschwerpunkt gesetzt haben, nimmt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in dieser Ausgabe einen breiten Raum ein, dies allerdings von ganz unterschiedlichen Blickwinkeln aus.

Christiane Leidinger stellt in ihrem Beitrag Leben und Werk der weitgehend vergessenen Publizistin Emma Trosse (1863–1949) vor. Obwohl sie die erste Frau war, die homosexuell-emanzipatorische Schriften veröffentlichte, wurde sie von der Forschung bisher kaum beachtet, wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie als Autorin anonym blieb. Trosse war in ihrem Schaffen nicht nur äußerst vielfältig, sondern zeichnete sich auch als originäre Denkerin aus, indem sie mit den "Sinnlichkeitslosen" eine neue Kategorie in die Diskussion um das "Dritte Geschlecht" einbrachte.

Zumindest hierzulande ebenfalls kaum bekannt dürfte der von Karin Lindeqvist vorgestellte Roman Et Vilskud (Ein wilder Spross) von Anette Holk (Pseudonym) sein, der zu einem großen Teil im Berlin der 1920er Jahre spielt. In dem von Raimund Wolfert ins Deutsche übersetzten Beitrag zeichnet die Autorin im Detail nach, wie sich die Berliner Lesbenszene, aber auch die damals aktuellen wissenschaftlichen Debatten zur Homosexualität und allgemein das Bild Deutschlands und der Deutschen im Roman widerspiegeln.

Einiges bekannter und eingehender erforscht ist dagegen die von Adolf Brand 1903 mitbegründete Gemeinschaft der Eigenen. Allerdings beleuchtet auch Jan-André Jodjohns Beitrag einen bisher eher wenig beachteten Aspekt, nämlich das Verhältnis dieser einem heroisierenden Männlichkeitsbild verpflichteten Gemeinschaft zur Frage der Frauenemanzipation. Dabei betont er, dass die Gemeinschaft der Eigenen entgegen der gängigen Forschungsmeinung nicht durchgängig misogyn geprägt war, sondern sich einzelne Exponenten in ihren Schriften durchaus auch für die Frauenemanzipation einsetzten.

Christian Alexander Wäldner schließlich widmet sich in seinem Beitrag einer in der bisherigen Geschichte zur Verfolgung der Homosexuellen unter dem Nationalsozialismus ebenfalls eher wenig beachteten Gruppe, nämlich den wegen homosexueller Handlungen inhaftierten Männern in Strafanstalten am Beispiel des Gefängnisses Wolfenbüttel. Sein auf der Auswertung von gut 300 Personalakten fußender Beitrag bietet dabei nicht nur eine Reihe von statistischen Angaben zu den betroffenen Männern, sondern beinhaltet auch exemplarisch eine Reihe von Kurzbiographien, die bewusst machen, dass hinter den nackten Zahlen menschliche Schicksale stehen.

Mit der Verfolgungsgeschichte – genauer mit der Erinnerung an diese Geschichte – befasst sich auch das Interview von Christiane Leidinger mit der Historikerin Claudia Schoppmann zur Debatte über das Berliner Mahnmal zur Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus. Obwohl das Interview bereits im April 2010 geführt worden ist, sind die darin aufgeworfenen Fragen nach wie vor aktuell. Mit dieser Debatte beschäftigt sich auch der von Andreas Brunner in diesem Jahrbuch besprochene, von Insa Eschebach herausgegebene Sammelband Devianz und Homophobie.

Etwas "leichtere Kost" bietet anschließend ein ironisch untermalter Beitrag von Andreas Brunner aus Wien über die "Schwulen- und Lesbenikone" Sisi und die der beliebten Kaiserin gewidmete Dauerausstellung in der Wiener Hofburg. Rolf Thalmann schließlich stellt in einem kurzen Beitrag seine als work in progress zu verstehende Bibliographie zur Homosexualität in der Schweiz vor – ein Projekt, das nicht zuletzt durch das unter dem Motto "Homosexuelle in der Provinz" stehende Dortmunder Treffen des Fachverbandes für Homosexualität und Geschichte 2011 motiviert worden ist.

Den Abschluss des Jahrbuches bildet wie immer eine Auswahl von Rezensionen zu neueren Publikationen aus dem Kontext der Geschichte der Homosexualitäten. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass wir nicht nur größere und kleinere Beiträge, sondern gerne auch Hinweise auf aktuelle und besprechungswürdige Publikationen oder bereits verfasste Rezensionen entgegennehmen.

Die Redaktion




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