Erwin In het Panhuis:
Aufklärung und Aufregung:
50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO

Archiv der Jugendkulturen 2010, 195 S., € 28

sorry, no cover

 

Rezension von Hans-Peter Weingand, Graz

Erschienen in Invertito 13 (2011)

Robert schildert, wie er als junger Schwuler in der österreichischen Provinz aufgeregt in der BRAVO blätterte. Da waren auf den "Dr. Sommer"-Seiten viele Bilder von verschiedenen Penissen abgedruckt. Ein Zeitzeugenbericht, wie es viele tausende davon geben könnte. Denn seit 1956 hat BRAVO in (West-)Deutschland, Österreich und der Schweiz Generationen von Jugendlichen aufgeklärt. Und auch Pubertierende, die merkten, dass sie offenbar "anders" sind.

"Dr. Sommer" ist noch heute untrennbar mit BRAVO verknüpft und ist zum Symbol der Sexualaufklärung Jugendlicher geworden. Wie dabei Homosexualität behandelt wurde, ist nunmehr keine Frage der Spekulation anhand einzelner Artikel. Denn Erwin In het Panhuis hat eine Vollerhebung durchgeführt, über 2700 Ausgaben durchforstet und fast 1000 Beiträge in die Analyse einbezogen, in denen im engen oder weiten Kontext gleichgeschlechtliche Handlungen oder Empfindungen thematisiert werden.

Schwerpunkt des reich illustrierten Buches bietet die Analyse der Sexualaufklärung in BRAVO. Ihre Periodisierung nach Verantwortlichkeiten und Kompetenzen fällt – vermutlich nicht zufällig – zusammen mit zentralen gesellschaftspolitischen Entscheidungen. Nach dem Schweigen in den 1950er Jahren schrieb in den Sixties unter Pseudonymen die Schriftstellerin Marie Louise Fischer in ihrer Rubrik "Knigge für Verliebte" gegen Homosexualität, gegen Selbstbefriedigung und gegen Petting an. Noch fiel dies unter "Irrungen der Liebe", noch galt Homosexualität als krankhafte Abweichung vom Normalen, noch galt es, die Jugend vor Verführung zu warnen.

1969 dann ein Einschnitt: In der BRD wurden homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen entkriminalisiert. Und BRAVO engagierte mit dem Psychotherapeuten Dr. Martin Goldstein einen Fachmann, der unter dem Pseudonym "Dr. Sommer" mit einem Team bis 1984 die Sexualaufklärung des Magazins leitete. Grund für das Engagement war Goldsteins 1967 publiziertes Aufklärungsbuch "Anders als bei Schmetterlingen". Ein wesentlicher Bestandteil der Sexualaufklärung in der BRAVO waren nun "Dr. Sommers" Antworten und Kommentare zu den LeserInnenbriefen. Hinzu kamen Aufklärungsreportagen und im ganzen Heft hielt eine neue sexuelle Offenheit Einzug, auch in Bezug auf Homosexualität. Die Schilderung gleichgeschlechtlicher Erlebnisse führte 1972 zur Indizierung zweier Hefte durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Erwin in het Panhuis vergisst in seiner Bewertung, ob sich BRAVO im schwierigen Weg der schwul-lesbischen Emanzipation Verdienste erworben oder eher gebremst habe, nie die zeitlichen Rahmenbedingungen: Denn hätte es z.B. 1972 noch eine weitere Beanstandung gegeben, hätte dies für BRAVO zur Vorausindizierung führen können. Das wäre fraglos das Aus für das Magazin gewesen, das damals bereits 800.000 Exemplare wöchentlich verkaufte. Es darf nicht vergessen werden, dass noch bis in die späten 1970er Jahre allein die Existenz der "Dr. Sommer"-Seiten zu heftigen Auseinandersetzungen und öffentlichen Diskussionen über deren "Unsittlichkeit" führte.

Von "Fallstricke der Triebe" bis zur eigenen Regenbogenseite, die 2002-2003 erschien, spannte sich der Bogen von Artikeln, die gleichgeschlechtliches Begehren betreffen. Erörtert wird auch die Frage der Echtheit, Mehrfachverwendung und Verfälschung der LeserInnenzuschriften des BRAVO-Publikums. Die Mehrzahl der entsprechenden Texte betrafen echte Probleme und Interessen der LeserInnen, aber die Redaktion scheute auch im Einzelfall nicht vor redaktioneller "Bearbeitung" oder Zweitverwendung zurück, wenn ihr das "notwendig" erschien. Die Gründe für dieses Verhalten waren/sind dabei nicht immer durchschaubar.

Insgesamt ist, seit Dr. Martin Goldstein 1969 als "Dr. Sommer" die Leitung der Sexualberatung übernommen hat, die Einstellung der BRAVO zur gleichgeschlechtlichen Liebe in der Grundhaltung positiv und nicht diskriminierend – erstaunlich für ein an kommerziellen Interessen orientiertes Blatt und in der frühen Zeit durchaus nicht immer konform mit dem Zeitgeist. Diese Einstellung hat BRAVO bis in die Gegenwart beibehalten; BRAVO war dadurch nicht wenigen Jugendlichen behilflich bei der sexuellen Orientierung und ihrem Coming-out als Lesbe oder Schwuler. Nicht so positiv wird die Einstellung der BRAVO zu Aids vom Autor gesehen: Die Ratschläge waren nicht immer klar in Bezug auf Safer Sex und teilweise auch gefährlich, wenn man sich ausschließlich auf die Infos aus BRAVO verlassen hat.

Das Buch geht weit über das Thema Sexualaufklärung hinaus. Eigene Abschnitte widmen sich dem Themenfeld HIV/Aids, Homosexualität im Film und in der Popmusik. So boten Village People 1979 den Anstoß für einen der ersten Beiträge über Homosexualität und Popmusik. Und Jimmy Somerville wurde 1984 zu einer wichtigen Galionsfigur der jungen Schwulenbewegung. Das große Schweigen war nun endgültig vorbei. War BRAVO anlässlich "YMCA" 1979 noch zurückhaltend, bot "Smalltown Boy" 1984 den Anstoß für einen ausführlichen Bericht über das Coming-out eines Kleinstadt-Jugendlichen.

Für ein populärwissenschaftliches Buch wäre dies alles allein schon beachtlich – doch es gibt noch Extras: BRAVO wurde mit einigen ausgewählten Jahrgängen anderer Jugendzeitschriften verglichen (z.B. Rocky, Mädchen, Sugar, dem DDR-Jugendmagazin Neues Leben oder dem österreichischen Rennbahn Express). Die Behandlung des Themenfeldes Homosexualität erfolgte in anderen Medien durchaus ähnlich. Unterschiede gibt es zu den Mädchenzeitschriften Sugar und Mädchen, die das Thema Sexualität generell anders behandeln als die Jugendmagazine. Das Buch enthält auch persönliche Erinnerungen. Nicht nur von Dr. Martin Goldstein, alias "Dr. Sommer", auch fünf Männer blicken in kurzen Textbeiträgen zurück auf die Bedeutung von BRAVO in ihrer Jugend und ihrem schwulen Erwachen. So auch der eingangs erwähnte Robert.

Zum Buch gibt es auch eine gleichnamige Ausstellung vom Kölner "Centrum Schwule Geschichte", die zuerst mit gutem Zuspruch in der evangelischen Kölner Christuskirche gezeigt wurde, anschließend in mehreren nordrhein-westfälischen Städten (Duisburg, Essen, Bochum, Bielefeld) und vom 10. Mai bis 6. August 2012 im Schwulen Museum Berlin zu sehen sein wird.

Vom Verlag, dem Archiv der Jugendkulturen in Berlin, ist 2006 zum Jubiläum der Sammelband "50 Jahre BRAVO" erschienen. Darin widmen sich drei Beiträge auch Aspekten der Sexualaufklärung. Gewohnt sind wir ja Folgendes: Breit untersucht wird das "Normale", quasi als Nischenprodukt folgt dann Jahre später eine Analyse unter "queerem" Blickwinkel. Bei BRAVO ist dies anders: Was bisher zu 50 Jahre Sexualaufklärung in der BRAVO geschrieben wurde, kommt nicht heran an "50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO". Eine Fundgrube nicht nur für HistorikerInnen, sondern für alle Menschen zwischen 12 und 70. Eben jene Generationen, die – egal ob hetero oder homo, queer oder sonst was – mit BRAVO großgeworden sind.




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