Heike Schader:
Gigi Martin – ihr Leben erzählt zwischen Fiktion und Realität /
Gigi Martin: Mauern aus Schleiern der Einsamkeit

Wendeband, Berlin: Pro Business 2010, 336 S., € 24,80

sorry, no cover

 

Rezension von Jillian B. Suffner, Berlin

Erschienen in Invertito 13 (2011)

Quadratisch und von zwei Seiten zugänglich ist bereits das Äußere der vorliegenden Biographie eine spannende Erscheinung: Von "vorne" kann man über die 132-seitige, chronologisch erzählte Biographie und von "hinten" über einen 151-seitigen Roman von Gigi Martin beginnen – oder vice versa. Dazwischen befindet sich ein unveröffentlichtes Manuskript von Gigi Martin. Es ist eine schöne Idee, die Verknüpfung von Lebenswerk und Lebensweg in einer solchen Form zu manifestieren.

Bereits in der Einleitung wirft Heike Schader spannende Fragen auf und deutet ihre eigene Begeisterung und Faszination für die von ihr Porträtierte an. Sie hat Gigi Martin persönlich kennen gelernt und sich regelmäßig mit ihr getroffen. Was für eine unglaublich tolle Chance auf Informationen aus erster Hand zurückgreifen zu können und sich als Biographin nicht wie sonst so oft – weil zu spät – ohne vorhandene Nachlässe oder ZeitzeugInnen herumzuplagen. Den geneigten LeserInnen wird ein "eher ungewohnter Einblick in die Geschichte der letzten sechs Jahrzehnte" (S. 7) versprochen. Es dürfte also interessant werden.

Die lebensgeschichtliche Reise beginnt 1935 – in einem bildungsbürgerlich geprägten Elternhaus in München, in das Margot Götts, wie Gigi Martin mit bürgerlichem Namen hieß, am 29. September geboren wird. Einige Jahre später zieht die Familie nach Hamburg, wo die Tochter 18-jährig am theater53 debütiert. Um sich ihren Schauspielunterricht bei Ida Ehre zu verdienen, arbeitet sie als Mannequin, Modell und Statistin beim Film. Am Theater lernt Götts ihre erste große Liebe kennen, den 37 Jahre älteren Karikaturisten und Zeichner Eric Godal (1899-1969). Sie wird eines seiner jugendlichen Modells, zieht 17-jährig mit der Erlaubnis ihrer Eltern zu ihm und verkehrt seitdem im illustren Hamburger Freundeskreis des Zeichners, in dem sie gesellschaftlich wichtige Beziehungen knüpfen kann. Während der fünf Jahre dauernden Beziehung entstehen ihre ersten drei Romane (Geh vorbei, wenn du kannst ...; Verliebt in Positano; Das Mädchen von nebenan). Zu Geh vorbei schrieb der prominente Literaturkritiker Willy Haas (1891-1973) das Vorwort. Das Werk erregte großes Aufsehen und war so erfolgreich, dass es sogar ins Niederländische übersetzt wurde. In dieser Zeit erhält Margot Götts auch ihren Künstlerinnennamen. Eric Godal nennt sie bereits "Gigi", nach der Figur aus dem gleichnamigen Roman von Colette (1873-1954) und sie selbst fügt den französisch prononcierten Nachnamen ihres hugenottischen Urgroßvaters "Martin" hinzu. Nach ihrem ersten sexuellen Erlebnis mit einer Frau trennt sich Gigi Martin von Eric Godal. Sie hat ihr Coming-out und begegnet ihrer ersten Freundin. 1961 geht sie mit ihr an die Côte d’Azur, wo sie für die Illustrierte Revue eine regelmäßige Kolumne anhand von Interviews mit Prominenten schreibt. Gigi Martins weiterer Lebensweg führt von Frankreich zurück nach Hamburg, wo sie, um sich nach diesem Auslandsaufenthalt wieder in das Gedächtnis der heimatlichen Presse zu rufen, einen kleinen Skandal ausheckt, der sie tatsächlich abermals in die Medien katapultiert. Ihre reisefreudige Ader bringt sie über Algier wieder nach Frankreich, diesmal an die Seine nach Paris und erneut zurück in die Stadt an der Elbe. Sie hat ebenso viele Reiseziele wie verschiedene Jobs. Die einzige Konstante bildet das Schreiben, sei es journalistischer oder literarischer Art. Heike Schader gibt am Ende der chronologisch erzählten Biographie Gigi Martins einen kurzen Einblick in vier ihrer Romane aus den Jahren 1960 bis 1989. Anschließend reflektiert Schader über die Bedeutung von Sexualität und Beziehungen im Leben und Schreiben Martins. Dieser Teil ist meines Erachtens der fundierteste der gesamten Biographie und sicherlich vor dem Hintergrund zu sehen, dass dies das Promotionsthema der Biographin gewesen ist. Wunderschön und informativ sind die zahlreichen Fotografien und Reprints, die sich sowohl in den Text einfügen, als auch am Seitenrand das Leben der Gigi Martin lebendig illustrieren. Heike Schaders Biographie bietet einen ausschnitthaften Blick in deren ereignisreiches Leben und bewahrt sie noch zu Lebzeiten davor, in Vergessenheit zu geraten. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur lesbischen Geschichtsschreibung, die nach wie vor als Randgruppenthema marginalisiert wird.

Durch den erzählenden Charakter ist der Text auch für ein breiter interessiertes Publikum leicht zugänglich, doch es fehlen Kontextualisierungen für nicht zeit- und themenkundige LeserInnen. Es gibt z.B. zwar einen Einschub zum Thema "Lesbischsein" am Anfang der 1970er Jahre, aber dieser besteht leider nur aus einem unkommentierten Zitat eines damaligen Magazins. Für die mit dem Thema vertrauteren LeserInnen lässt die an manchen Stellen doch oberflächlich anmutende Bearbeitung weitere Lücken sichtbar werden. Nach der Lektüre fällt auf, dass Heike Schader manche Aspekte, die sie in der Einleitung erwähnt hat, leider nicht auf- bzw. einlöst. So bleibt für mich z.B. ungeklärt, inwieweit die Darstellung einen "ungewohnten" Einblick in die Geschichte bieten soll und was für sie das Besondere daran ist, dass Gigi Martin "sehr früh, bereits 1960, [...] lesbische Themen" (S. 9) in ihrem ersten Roman verarbeitet. An dieser Stelle mag sich der ein oder die andere LeserIn fragen, was genau die Autorin mit "sehr früh, bereits 1960" meint? Der sparsame Umgang mit näheren Erläuterungen kann es an manchen Stellen schwer machen, den Anmerkungen Heike Schaders zu folgen. Berücksichtigt man nur die deutschsprachige Literatur, gab es bereits 1919 den ersten Band der Trilogie "Der Skorpion" von Anna Elisabet Weirauch (1887-1970), der Frauenliebe offen und positiv beleuchtete, und 1923 den Roman "Freundinnen" von Maximiliane Ackers (1897-?), einer lesbischen Schauspielerin des Theaters am Kurfürstendamm in Berlin. Bezieht man das Wort "früh" explizit auf die prüde Nachkriegszeit, wird der von Heike Schader angedeutete Zusammenhang klarer. Soweit mir bekannt ist, gab es wohl um 1960 kein vergleichbares deutschsprachiges Buch mit lesbischen Inhalten bzw. gar lesbischer Sexualität. Gleichwohl ist dabei zu bedenken, dass die Entscheidung, so früh zu veröffentlichen, um den Preis erkauft wurde, in einem vorwiegend erotischen – deutlicher gesprochen pornographischen – Verlag zu publizieren. Eine Frage die sich noch stellt, ist die nach dem Forschungsstand zu bereits schon früher veröffentlichten, eindeutig pornographischen Geschichten mit homoerotischen, in diesem Falle lesbischen Inhalten.

Der Vergleich der Biographin mit anderen Autorinnen lesbischer Literatur fällt an dieser Stelle recht knapp aus, was vielleicht im Licht der Tatsache zu sehen ist, dass Gigi Martin sich selbst keiner Szene zurechnen wollte, auch nicht derjenigen der lesbischen Literatinnen. Heike Schader deutet allerdings kurz an, dass Gigi Martin doch eine Art publizistischer Vorreiterin der Frauen-, gleichwohl nicht zwingend der Lesbenbewegung der 1970er Jahre zu sein scheint: Als vergleichender Hinweis auf andere Autorinnen aus der Zeit von "Geh vorbei" werden Marlene Stenten (ebenfalls Jg. 1935) und Johanna Moosdorf (1911-2000) genannt. Leider fehlen einschlägige Hinweise auf die politisch bewegten Lesben, wie auch die Nennung von entsprechender Sekundärliteratur. Lediglich ein Interviewband von Ilse Kokula (1986) wird erwähnt , als sei danach nichts mehr erschienen: Es fehlen – zumindest als Hinweis – die Erwähnung der Dissertation von Kirsten Plötz (2005) oder des Lesbenbewegungsbuchs, das Gabriele Dennert, Christiane Leidinger und Franziska Rauchut (2007) herausgegeben haben.

Unabhängig davon hätte ich an dieser Stelle einen vertiefenden Blick darauf interessant gefunden, warum Gigi Martin, in einer heterosexuellen Beziehung lebend, in ihrem ersten Roman lesbische Liebe zur Sprache bringt. Heike Schader erwähnt zwar, dass der Roman zunächst lediglich eine platonische Beziehung zwischen zwei Freundinnen thematisierte, und es Eric Godal war, der dazu riet, das Ganze mit einer sexuellen Komponente zu würzen. Doch mehr oder gar kritisch Erfragendes, warum sie den Vorschlag umsetzte, ob Godal die Idee lesbischer Sexualität für sich selbst erregend fand oder was seine Beweggründe für diese Anregung waren, erfahren wir nicht.

Gewiss kann man die Gesamtheit eines Lebens und dessen Zusammenhänge nicht erschöpfend zwischen zwei Buchdeckel pressen, was, wie Heike Schader in ihrer Einleitung erwähnt, bei einer Biographie auch nicht der Anspruch sein kann. Aber mir fehlen hier, gerade von einer feministischen Wissenschaftlerin, kritisch reflektierende Äußerungen und Analysen: Zum einen werden Themen wie die NS-Zeit zwar angeschnitten, die LeserInnen erfahren jedoch nicht viel darüber, wie die Hauptperson, zu dieser Zeit noch ein Kind, sich selbst später politisch zum Nationalsozialismus positioniert oder wie sie die Tatsache der Inhaftierung ihrer jüdischen Schauspiellehrerin Ida Ehre im KZ Fuhlsbüttel empfand. Zwar gibt es einen kurzen Absatz zur antifaschistischen Betätigung Gigi Martins als Delegierte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und zu ihrer Aktivität "in der Frauenbewegung der Deutschen Friedens Union (DFU)", aber einmal mehr bekommt ihre Entscheidung dadurch, dass diese über Eric Godal vermittelt ist, einen seltsamen Beigeschmack: "Das mit dem VVN war eine politische Entscheidung, wegen Eric [Godal] schon und ich war auf jeden Fall gegen rechts!" (S. 85).

Zwischendurch wird lediglich erwähnt, Gigi Martin texte nur um des Schreibens willen und strebe weder eine politische Stellungnahme, noch eine Nischen-Zugehörigkeit zu einer bestimmten Szene (in diesem Fall der lesbischen oder allgemein der erotischen Literatur) an. Hier wäre es aber bereichernd gewesen, mehr über Gigi Martins politisches Leben zu erfahren oder vielleicht sogar Literaturhinweise zum Weiterlesen zu bekommen. Ebenso wenig geht Heike Schader auf die, wenn nicht eindeutig pädophilen/pädosexuellen, so doch zweifelhaft-problematischen Beziehungen Eric Godals zu jungen Knaben und Mädchen ein. Erst spät, im Kapitel "Sex und Beziehungen in den Romanen und im Leben von Gigi Martin", gelingt es Heike Schader den Blick tiefer dringen zu lassen und eine kritisch reflektierte Stellungnahme zum Leben und Werk Gigi Martins zu entfalten. Ein kurzer Ausflug sei gestattet in die Gefilde der Orthographie: Das Lektorat ist ein Ärgernis.

Im Gesamtbild erscheint Gigi Martin als eine zielstrebige, lesbische Frau, die, wenngleich mit Hilfe der sie umgebenden Männer, hartnäckig und erfolgreich ihren ersten Roman mit lesbischem und darüber hinaus auch noch sexuellem Inhalt in einem Verlag unterbrachte. Nach zahlreichen Absagen – wohl da er nicht den Moralvorstellungen der damaligen Zeit entsprach – kam er in einem kleinen, wenig renommierten Verlag, dem Franz Decker-Verlag, heraus. Wermutstropfen war, wie erwähnt, dessen sexuell-erotischer Schwerpunkt.

Gigi Martin hat zwar Frauenbeziehungen gelebt, darüber geschrieben und sich in mancher Frauenbar herumgetrieben, sie blieb aber für die politische Frauen-Lesben-Bewegung von marginaler Bedeutung. Da es auch andere, weniger politische Szenen und Zusammenhänge gibt, gehört sie in jedem Fall zu einem wichtigen Stück (nicht nur lesbischer) Zeitgeschichte. Heike Schaders Biographie bietet eine historisch spannende Milieustudie und hält das bewegte Leben einer Anfang der 1960er Jahre bekannten – immer wieder für einen Skandal guten – Journalistin und Schriftstellerin in Erinnerung.




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