Rüdiger Lautmann:
Historische Schuld - Der Homosexuellenparagraf in der frühen Bundesrepublik

Übersicht des Beitrags

Selbst bei Rechtspolitikern hat sich noch nicht herumgesprochen, dass der § 175 des Strafgesetzbuches, in verschiedenen Fassungen gültig zwischen 1871 und 1994, von 1949 an gegen das Grundgesetz verstoßen hat. Nicht nur der Paragraf war also zu streichen, auch alle darauf gestützten Strafurteile sind für nichtig zu erklären. Dass ein Rechtsstaat seine eigenen Akte rückwirkend aufhebt, wäre ein Novum, vor dem die Politik bislang zurückschreckt. Es gilt, eine historische Schuld zu begleichen. Sie besteht nicht nur gegenüber den damals verurteilten homosexuellen Männern, sondern auch gegenüber allen Schwulen und Lesben seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Sie waren unmittelbar oder mittelbar von der Strafdrohung betroffen, insofern ihre Lebensverhältnisse in allen wesentlichen Hinsichten belastet worden sind. Die Diagnose einer erheblichen Reduktion der Lebenschancen für gleichgeschlechtlich liebende Männer und Frauen galt lange über 1969 hinaus, insbesondere für die mittlere und ältere Generation. Die Historiographie der Homosexualitäten kann durch Detailstudien dazu beitragen, dass die kollektive Entschädigung sich nicht im Lippenbekenntnis der parlamentarischen "Entschuldigung" aus dem Jahre 2000 erschöpft.




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