Rudolf Pell Gaudio
Allah Made Us

Sexual Outlaws in an Islamic African City, Chichester: Wiley-Blackwell 2009, 236 S., € 21,99

sorry, no cover

 

Rezension von Dag Henrichsen, Basel

Erschienen in Invertito 12 (2010)

"But how could I become am Muslim?" I asked him, clutching my bottel of Gulder [beer]. … "And I like harka – the ‚deed‘ – that is sex between men."

"Come now, Sani," Hajiya Asabe replied, addressing me by my Hausa name. "Muslims do these things too. They do them more than anyone!"

Rudolf Gaudios "Allah Made Us. Sexual Outlaws in an Islamic African City" stellt nicht nur eine flüssig geschriebene wissenschaftliche Analyse der vielschichtigen Identitätskonstruktionen der 'Yan Daudu, so genannte feminine Männer, in einer islamisch geprägten afrikanischen Gesellschaft dar, sondern ist auch ein faszinierender, mitunter persönlich gehaltener Forschungsbericht eines schwulen amerikanischen Wissenschaftlers über sein Leben und Arbeiten in der nordnigerianischen Metropole Kano. Als Linguist und Kulturwissenschaftler gelingt es Gaudio, die komplexen Diskurse von lokaler, nationaler und internationaler Dimension, ob weltlich, nationalistisch oder religiös, afrikanisch-arabisch oder westlich-amerikanisch geprägt, in denen sich die 'Yan Daudu verankern und mit denen sie konfrontiert werden, aufzuzeigen. Beeindruckend ist vor allem die Fähigkeit Gaudios, gesellschaftliche Komplexität und Identitätsprozesse analytisch sichtbar zu machen und vermeintlich eindeutige Kategorisierungen mittels eines scharfen Blicks für dynamische Prozesse und situative Kontexte immer wieder neu auszuloten. Mit seinem Buch legt er einen innovativen Beitrag zu einer polyphonen Geschichte von Maskulinität und (mann-)männlicher Sexualität vor.

Im Zentrum der Analyse stehen die 'Yan Daudu, die in einer islamisch geprägten Gesellschaft, die in Nordnigeria idealtypisch seit dem frühen 19. Jahrhundert auf eine strikte Trennung von männlichem und weiblichem Alltag aufbaut, ständig Grenzen überschreiten. Dies sind zumeist jüngere Männer aus den unteren Gesellschaftsschichten, die in den Augen ihrer sozialen Umgebung wegen ihrer femininen Rollen, ihrem kultiviert flirtenden Auftreten und Sprechen und ihrer expressiven Kleidung und Unterhaltungskunst auffallen. Sie werden deswegen einerseits stigmatisiert und sowohl der heterosexuellen wie homosexuellen Prostitution und damit der Immoralität beschuldigt. Sie selbst verstehen sich andererseits als "richtige" Männer, die ihr Selbstverständnis aus sehr vielschichtigen Rollen konstruieren und nur teilweise und häufig nur zeitweise Homosexualität praktizieren. Ihre Rollen umfassen vor allem eine breit gefächerte Palette von Unterhaltungsformen mit als feminin wahrgenommenen Verhaltensweisen, darüber hinaus aber auch soziale und (homo-)sexuelle Dienste, die sie tendenziell zu professionellen Escorts werden lassen. Häufig stehen ihre Rollen in Beziehung zu Vermittlungsdiensten für so genannte unabhängige Frauen, die eigene Bars oder Restaurants führen und mithilfe der 'Yan Daudu eine eher heterosexuelle Klientel anziehen. Historisch betrachtet wurden den 'Yan Daudu in der lokalen Hausa-Gesellschaft spirituelle Fähigkeiten zugeschrieben, die heute aber angesichts eines mit der Einführung der Schari'a im Jahr 2000 verknüpften Islamisierungsschubes eher zurückgedrängt zu sein scheinen. Gaudio zeigt sich skeptisch gegenüber älteren ethnografisch-historischen Analysen, welche die sozialen Praktiken der 'Yan Daudu mit vorislamischen (kultischen) Traditionen im Hausaland in Verbindung bringen und verweist zu Recht darauf, dass die Hausa-Gesellschaft seit Jahrhunderten zutiefst islamisch gepägt ist (S. 34). Zentral für das Selbstverständnis der 'Yan Daudu im späten 20. Jahrhundert ist angesichts der mehr oder weniger virulenten Alltagsrepression, der Rechtlosigkeit vor dem Gesetz, der zunehmenden Aids-Problematik und der Folgen der sozialen Ausgrenzung ihr explizit formulierter Anspruch auf eine soziale, rechtliche, politische und religiöse Respektabilität im Sinne einer "cultural citizenship", die sie sich erträumen und zugleich aktiv über vielfache gesellschaftliche Vorbehalte hinweg durchzusetzen versuchen.

Im ersten Kapitel legt Gaudio eindrucksvoll dar, wie westliche Identitätskategorien wie "schwul", "drag" oder "transgender" zu kurz greifen, um den komplexen, tendenziell spielerisch inszenierten Lebensentwürfen der 'Yan Daudu sowie den ihnen stereotyp von ihrer Umgebung zugeschriebenen Rollen gerecht zu werden. Im besten Fall trifft der Begriff der Bisexualität zu, wobei Gaudio betont (S. 10), dass diese prozesshaft zu begreifen sei. Die 'Yan Daudu tragen die gesamtgesellschaftlichen Erwartungshaltung an Männer, Frauen zu heiraten und Vater zu werden, aktiv mit, auch wenn sie als junge Männer (zunächst) 'Yan Daudu "sind", feminine Rollen übernehmen und zum Teil Homosexualität praktizieren. Teilweise üben sie diese Rollen auch nach der Heirat mit einer Frau weiterhin aus. In den im 3. Kapitel des Buches vorgestellten Biografien einzelner 'Yan Daudu wird überdies deutlich, dass häufig nicht (und auch oder gerade nicht gegenüber dem forschenden ausländischen Wissenschaftler) sexuelle Identitäten artikuliert werden, sondern viel eher die vielschichtigen sozial-kulturellen Grenzüberschreitungen als sich feminin verhaltende Männer im Vordergrund ihres autobiografischen Erzählens stehen. Ein "Coming-out" bezieht sich somit vor allem auf die Bereitschaft, öffentlich als feminine Männer zu agieren, nicht jedoch auf eine öffentlich akzentuierte mann-männliche sexuelle Identität. Explizite Darstellungen von mann-männlicher Sexualität werden von ihnen selten artikuliert. Gaudio kommt u. a. zu dem Schluss, dass mann-männliche Sexualität in ihren Lebensentwürfen und in ihrem Alltag, wenn überhaupt, lediglich einen Identitätsstrang von vielen anderen darstellt und dass dies auch historisch stets so gewesen sein dürfte. So wie homo- und heterosexuelle Rollen und Praktiken bei den 'Yan Daudu dicht miteinander verwoben sein können, so liegen staatliche und gesellschaftliche Repression und Duldung historisch betrachtet ebenfalls dicht nebeneinander. Allerdings hat die Repression von staatlichen und religiösen Institutionen wie auch von Jugendgangs seit 2000 markant zugenommen. Tendenziell, so Gaudio, wurden und werden 'Yan Daudu häufig als zugleich "zu modern" (im Sinne eines zu freizügigen westlichen Verhaltens) und "zu traditionell" (angesichts ihrer angeblich vorislamischen kultischen Wurzeln) wahrgenommen (S. 55). Diese scheinbar paradoxe Sichtweise verweist auf eine grundsätzlich ambivalente Haltung der Gesamtgesellschaft, die von den 'Yan Daudu durch ihre alltäglichen Grenzüberschreitungen dauernd herausgefordert wird.

Die Motivationen dieser Männer, sich feminine Rollen zuzulegen und diese zum Teil öffentlich auszuleben, sind sehr vielfältig. Mit ihren Rollen können sie männliche Gäste in die Bars und Restaurants der unabhängigen Frauen locken und damit das ökonomische Überleben ihrer Arbeitgeberinnen sichern, dabei aber auch eine eigene Klientel mit z. B. homosexuellen Interessen anziehen. Oder sie können sich durch ihre Rollen für ihre eigenen Bars oder Imbisse an Bushaltestellen eine Kundschaft erobern und ein eigenes Einkommen generieren. Individuelle Neigungen oder Unterhaltungstalente, aber auch Zufallsbekanntschaften mit Männern, die bereits als 'Yan Daudu agieren, werden als weitere Motivationen in den von Gaudio wiedergegebenen Biografien einzelner Männer angegeben.

Als Linguist geht der Autor besonders sensibel auf das biografische Erzählen, die Wortwahl seiner Gesprächspartner und ihre Gespräche untereinander ein, um ihre diskursiven Alltagsverankerungen und Selbstwahrnehmungen einzufangen. Interessanterweise kommen in seiner Analyse Erzählungen der männlichen Klientel, welche auf die Angebote der 'Yan Daudu eingehen, selten vor. Ein Manko der Studie, das insofern auffällt, als dass erst diese den 'Yan Daudu die wesentlichen Alltagsbühnen zu Performance und sonstigen Diensten bieten. Erst eine eingehendere Betrachtung dieser männlichen Klientel dürfte eine tiefere gesamtgesellschaftliche Auslotung sowohl der Vielschichtigkeit männlicher Sexualität und unterschiedlicher Formen der Maskulinität (ein von Gaudio selten verwendeter Begriff) als auch der ambivalenten Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen in der islamischen Gesellschaft Nordnigerias ermöglichen.

Den gesamtgesellschaftlichen Blick fängt Gaudio primär über die Analyse von populären Filmen, so genannten Home-Videos, die an privaten Festen gezeigt werden, populären Songs und mittels Leserbriefen in Zeitungen ein (Kapitel 4-6). Zuweilen erscheint die Analyse der Filme sehr langatmig (S. 147ff.), zumal die zentralen Argumente bereits in vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet wurden. Allerdings wird in diesen letzten Kapiteln des Buches die gerade in populären Songs sprachlich konstruierte Stigmatisierung der 'Yan Daudu noch einmal besonders deutlich. Wichtig ist schlieβlich im letzten Kapitel die etwas zu kurz geratene Analyse der Rezeption des aktuellen westlichen Menschenrechtsdiskurses bezüglich der Homosexualität. Deutlich wird dabei, wie fremdartig dieser Diskurs in der nigerianischen Gesellschaft erscheint (gerade auch im Selbstverständnis der 'Yan Daudu) und wie sehr er im Hinblick auf die verwendete Begrifflichkeit, z. B. einer "gay identity", an der Alltagsrealität dieser Männer vorbei geht (S. 188ff.). Damit macht Gaudio explizit die Relativität des westlichen Menschenrechtsdiskurses deutlich, zumal dann, wenn unbestritten bleibt, dass die betroffenen Männer, wie auch die unabhängigen Frauen, zu den sozialen und rechtlosen Auβenseitern der nordnigerianischen Gesellschaft zählen.




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