Christine Schäfer
Zwischen Nachkriegsfrust und Aufbruchslust

Lesbisches Leben in München in den 1950er bis 1970er Jahren. Sieben Biografien, München: forum homosexualität münchen 2010, 103 S., € 7

sorry, no cover

 

Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 12 (2010)

Ausgangspunkt für Christine Schäfers Studie ist die Frage, wie lesbische Frauen in den 1950er bis 1970er Jahren in München gelebt und sich behauptet haben und welche Veränderungen die 1968er Bewegung dann brachte: Welche Erinnerungen haben lesbische Frauen an die 1950er und 1960er Jahre und wie wirkt diese Erinnerung fort? Wie haben sie sich durchgesetzt mit ihren Lebens- und auch Liebesvorstellungen? Was veränderte sich in den 1970er Jahren und konnten die Frauen aus der Aufbruchstimmung in dieser Zeit auch persönlichen Gewinn ziehen? Außerdem untersucht die Autorin, welche Rolle München damals für lesbische Frauen spielte, ob und wie eine Großstadt wie München Freiräume für Lesben bot.

Da sich für den genannten Zeitraum weder Dokumente noch Archivmaterial fanden, griff Schäfer auf die Befragung von Zeitzeuginnen zurück, aber die Suche nach Interviewpartnerinnen entpuppte sich als Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Schließlich fand sie sieben Frauen, die zwischen 1930 und 1941 geboren worden waren und – bis auf eine Frau – zwischen 1950 und 1970 über längere Zeit in München lebten. Die Befragung erfolgte in Form biografischer Interviews. Diese orientierten sich an Leitfragen zu den Themen Kindheit (Rolle der Eltern, Geschwister, Freund/innen, Schule), Jugend (Pubertät, Schule, Ausbildung, Rolle der Familie, Entdeckung des "Andersseins"), Biografisch-Historisches (NS-Zeit, Krieg, Nachkriegszeit), Erwachsenwerden und -sein (Beruf, Beziehung zur Familie, soziales Umfeld), Entwicklung der lesbischen Identität (Coming-out-Prozess).

Dabei kristallisierten sich zwei Gruppen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen heraus: die älteren Zeitzeuginnen (Jahrgänge 1930-33) und die jüngeren (Jahrgänge 1937-1941). Die Biografien der älteren Frauen zeigen, wie die gesetzliche und gesellschaftliche Verurteilung Homosexueller und das auf Ehe und Familie eingeengte Frauenbild der 1950er und 1960er Jahre die sozialen und emotionalen, manchmal auch die beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten beschränkten. Lesbische Liebe wurde verschwiegen, ignoriert oder pathologisiert. So orientierten sich die Interviewten zunächst mehr oder weniger an heterosexuellen Rollenvorgaben (Ehe, Kinder). Ihre Zuneigung zu Frauen empfanden sie als abartig, unnatürlich oder sahen sie als Privatsache an; auf jeden Fall verschwiegen sie diesen Teil ihrer Identität auch ihrer nächsten Umgebung. Isolation war eine Folge dieser Situation. Erst mit der Erkenntnis von und dann dem Bekenntnis zu ihrer lesbischen Identität wurde die Isolation durchbrochen. München spielte dabei eine positive Rolle, und zwar als Großstadt mit anonymer Freiheit, Anfängen einer lesbischen Szene und ersten Gruppen lesbischer Frauen.

Allen jüngeren Befragten ist gemeinsam, dass sie weniger durch den Nationalsozialismus und sein Frauen- und Rollenbild beeinflusst waren als die Frauen, die um 1930 geboren wurden. Eine wichtige Rolle spielte hier die befreiende Wirkung der Frauen- und Lesbenbewegung der beginnenden 1970er Jahre. Diese erreichte die Frauen in einem Alter, in dem noch manche Weichen neu gestellt und neue Erfahrungen gemacht werden konnten. Dennoch brauchten auch sie viele Jahre, oft Jahrzehnte, bis sie voll zu ihrer lesbischen Identität stehen konnten.

Christine Schäfers schmale Studie ist ein erster Ansatz, die Lebenssituation lesbischer Frauen in München zu beleuchten. Die sieben Interviews bilden eine Grundlage, von der aus weitergeforscht werden sollte. So wäre es nicht nur interessant, weitere ältere Frauen zu interviewen, um mehr Vergleichsdaten zu haben, sondern z. B. auch um die Lebenssituation von lesbischen Frauen in anderen Großstädten oder auch auf dem Lande (wobei sich hier wohl die Suche nach Interviewpartnerinnen noch schwieriger als in München gestalten wird) zu untersuchen und zu vergleichen. Besonders spannend könnte ich mir eine Parallelstudie zur Lebenssituation junger Lesben vorstellen.




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