Bernhard Rosenkranz / Ulf Bollmann / Gottfried Lorenz
Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg 1919–1969

Hamburg: lambda 2009, 314 S., € 24,80

sorry, no cover

 

Rezension von Martin Sölle, Köln

Erschienen in Invertito 12 (2010)

Nach der Veröffentlichung Hamburg auf anderen Wegen von Gottfried Lorenz und Bernhard Rosenkranz im Jahr 2005, besprochen in Invertito 9 (2007), liegt nun ein neues Werk des Autorenduos, erweitert um den Archivar und Forscher Ulf Bollmann, vor.

Mitautor Bernhard Rosenkranz ist am 26. Februar 2010 im Alter von 50 Jahren verstorben. 1959 in Hamburg geboren, arbeitete der studierte Diplom-Ökotrophologe von 1985 bis 2000 in der Verbraucher-Zentrale Hamburg als Leiter der Abteilung Verbraucherschutz. Bereits in dieser Zeit veröffentlichte er zahlreiche Broschüren und Sachbücher zum Thema Verbraucherschutz im Rowohlt-, Germa-Press- und Behr’s Verlag. Nachdem eine schwere Erkrankung ihn in den vorzeitigen Ruhestand zwang, nutzte er die ihm verbliebene Kraft zur Beschäftigung mit der Geschichte der Homosexuellen in Hamburg. Anfang 2006 gründete er dann mit Ulf Bollmann die Initiative "Gemeinsam gegen das Vergessen – Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer". Die weit über die schwul-lesbische Szene hinaus anerkannte Arbeit der Initiative führte zur Aufarbeitung von fast 250 Schicksalen gleichgeschlechtlich begehrender Frauen und Männer aus der NS-Zeit, für die Stolpersteine in Hamburg verlegt werden sollen.

200 davon sind inzwischen gesetzt. Die 10x10 Zentimeter großen Messingplatten, in die Name, Geburts- und Todesjahr des oder der Ermordeten eingraviert sind, werden vor dem letzten Wohnsitz des oder der Toten in den Bürgersteig eingelassen. 12.000 Stolpersteine hat ihr "Erfinder", der Kölner Künstler Gunter Demnig, bisher in 220 Städten verlegt. Dank der Arbeit von Rosenkranz und Bollmann stolpern nun auch in Hamburg PassantInnen über die Schicksale frauenliebender Frauen und männerliebender Männer. Zwei Jahre lang haben Bernhard Rosenkranz und Ulf Bollmann "Berge von Akten" im Hamburger Staatsarchiv durchforscht und sind auf erschütternde Dokumente gestoßen. Die Arbeit der Initiative führte zu der vielbeachteten Ausstellung "Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg 1919–1969", die außer im Hamburger Rathaus auch in Bochum und im Schwulen Museum in Berlin gezeigt wurde.

Die Initiative "Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer" hat bis jetzt 248 Einzelschicksale recherchiert, die in dem Buch mit Angabe der Adresse des Stolpersteins und des Todesdatums dokumentiert sind. Besondere Brisanz bekam die Arbeit der Initiative durch die Aktenvernichtung im Hamburger Staatsarchiv, die glücklicherweise vor der vollständigen Kassierung der die homosexuellen Opfer betreffenden Bestände gestoppt werden konnte. Einige der auf den Stolpersteinen benannten Opfer sind mit ausführlicher Würdigung des bekannten Materials im vorliegenden Buch dargestellt. Die Gliederung orientiert sich zuerst an den historischen Perioden, dann aber auch an der unterschiedlichen Verfolgung lesbischer Frauen und schwuler Männer.

Die Zeit von 1919−1933 wird relativ kurz anhand eines Stadtplans mit den Orten der Vergnügung und den Orten der Verfolgung behandelt. Schwerpunkt des Bandes ist die Verfolgung in der NS-Zeit. Die beschriebenen Einzelschicksale stehen dabei stellvertretend für bestimmte Verfolgtengruppen oder für Verfolgungsmethoden. So gibt es ein Kapitel über Denunziation, eins über Strichjungen, über die Aberkennung der Doktorwürde als akademischer Grad, über den Umgang mit "chronisch Unterwertigen" in den entsprechenden Anstalten und natürlich über die Mehrfach-Stigmatisierten z. B. rassisch Verfolgte jüdischer Herkunft oder Roma und Sinti.

Die ganze Dokumentation besticht durch die Verknüpfung der Einzelschicksale mit topografischen Informationen und Darstellungen der Szene sowie der unterschiedlichen Verfolgungsmethoden. Die biografische Methode erlaubt präzise, gleichzeitig bildhafte Darstellungen. Besonders interessant ist dies bei der Opfergruppe der Strichjungen, die durch den strafverschärfenden § 175a RStGB härter bestraft werden konnten. Gleichzeitig wurden aber viele Strichjungen durch freiwillige oder erzwungene Aussagen auch zu Tätern, zumindest jedoch Helfern der Ermittlungsbehörden. Ein Weg aus dieser Situation war die Benennung fiktiver Freier. Ebenso problematisch ist die Gruppe der Erpresser, die gleichzeitig Opfer und Täter waren: Opfer der Strafjustiz, aber Täter als Denunzianten von Homosexuellen (Fall Erhardt, S. 42).

Ein weiteres Kapitel handelt von den als Damenimitatoren auftretenden Transvestiten, denen bereits in der Kaiserzeit durch die Bemerkung "besondere Kennzeichen: trägt Frauenkleidung" im Pass – der sogenannte "Transenschein" – eine Sonderrolle eingeräumt worden war. Dies führte dazu, dass z.B. Rudolf Müller in Frauenkleidern die Straße betreten musste, weil es im Pass so vermerkt war (S. 68).

Das nächste umfangreiche Kapitel beschäftigt sich mit der Nachkriegszeit bis zur Reform des § 175 StGB im Jahr 1969. Hier werden nicht nur die Opfer der bundesrepublikanischen Justiz behandelt, sondern auch Biografien derjenigen Täter aus der NS-Zeit nachgezeichnet, die nach 1945 weiter in ihren Berufen arbeiten konnten und sogar Karriere machten.

In weiteren, allerdings kürzeren Kapiteln, wird die Situation lesbischer Frauen in den drei Epochen behandelt, wobei für die Weimarer Zeit hauptsächlich Frauen aus dem kulturellen Leben betrachtet werden, da hier die Quellenlage sehr viel ergiebiger war. Für die Zeit nach 1945 ist wieder ein topografischer Ansatz nach den Standorten der für frauenliebende Frauen interessanten Lokale gewählt worden.

Obwohl der berühmt-berüchtigte § 175 offiziell nur Männer betraf, wurden auch Frauen aufgrund ihrer Liebe zum gleichen Geschlecht bestraft, wie die Recherchen der beiden Forscher beweisen: "Um der Angeklagten klar zu machen, dass sie künftig ihre Neigungen in dieser Hinsicht im Zaume zu halten hat, glaubte das Gericht von einer Geldstrafe Abstand nehmen zu müssen und auf eine Haftstrafe von 1 Monat zu erkennen", urteilte das Amtsgericht Hamburg am 6. April 1937 zum Beispiel über die Angeklagte Thea Hasselfeldt.

Obwohl in erster Linie die Gerichtsakten Auskunft über die Verfolgung lesbischer Frauen geben, wussten die beiden Forscher, dass sie deren Spuren auch an anderen Orten suchen mussten: es gibt Berichte über Lokale, vor allen Dingen aber auch andere behördliche Akten wie Fürsorge- und Entmündigungsakten. Lesbische Frauen wurden als asozial bezeichnet, ihre Sexualität wurde nicht wahrgenommen und im KZ wurden sie oft mit dem "schwarzen Winkel" gekennzeichnet.

Den Abschluss des Bandes bildet ein sehr umfangreicher biografischer Teil, der an die Arbeit der Autoren für die Verlegung der Stolpersteine anknüpft. Hier werden alle bekannten Angaben zu den auf den Stolpersteinen benannten Personen zusammengestellt. Beispielhaft zu erwähnen ist der Fall des ehemaligen Präsidenten des HSV Emil Martens. Martens, geboren 1886, war Kaufmann und seit 1907 Mitglied des Hamburger Sportvereins, dessen Präsident er 1928 wurde. Er machte sich verdient um die Modernisierung des HSV. Trotz Mitgliedschaft in der NSDAP wurde er mehrfach wegen § 175 RStGB verurteilt, schließlich wurde Sicherungsverwahrung verhängt. Er ließ sich "freiwillig" kastrieren und überlebte so die Verfolgung (S. 49).

Das Buch besticht formal durch eine gelungene grafische Gestaltung. Das Bildmaterial ist sehr gut reproduziert und auch in der Anordnung innerhalb der Kapitel benutzerfreundlich aufbereitet. Es liegt hier deutlich mehr als "nur" ein begleitender Katalog zu einer Ausstellung vor. Durch das präzise Layout und die detaillierte Gliederung kann man den Band wie ein Nachschlagewerk benutzen. Zu einer alphabetischen Übersicht der mit einem Stolperstein bedachten homosexuellen Frauen und Männer kommt ein ausführliches Register. Ein sehr verdienstvolles Werk, das gerade durch die Vielzahl der Fallstudien ein Gesamtbild zum Thema Homosexuellenverfolgung in Hamburg entwirft und so auch über Hamburg hinaus wegweisend wirken kann.




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