Verzaubert in Nord-Ost

Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee. Ein Projekt des Sonntags-Clubs in Kooperation mit dem Museumsverbund Pankow, Berlin: Bruno Gmünder 2009, 318 S., € 20

sorry, no cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 12 (2010)

Die vorliegende Publikation ist ebenso wie eine gleichnamige Ausstellung (Juni bis Dezember 2010, Museumsverbund Pankow, Ausstellungshalle Prenzlauer Allee) das Ergebnis eines 2006 vom Berliner Sonntags-Club (www.sonntags-club.de) initiierten Geschichtsprojekts. Der Sonntags-Club entstand 1986. Er bot an wechselnden Orten Treffmöglichkeiten und organisierte (Kultur-)Veranstaltungen für Lesben und Schwule, zunächst nur sonntags, da Räume nur an diesem Tag zur Verfügung standen. Der Sonntags-Club war nach der HIB (siehe unten) die erste nicht kirchlich gebundene Lesben- und Schwulengruppe der späten DDR. Er besteht und arbeitet bis heute.

Ziel von "Verzaubert in Nord-Ost" war es, die Geschichte der Lesben und Schwulen im Nord-Osten Berlins zu erforschen und zu dokumentieren, d. h. im heutigen Stadtbezirk Pankow, der 2001 aus den drei Vorgängerbezirken Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee gebildet wurde. Ist das Resultat mehr als lokalgeschichtlich interessant? Es ist nach Jens Doblers Veröffentlichung zu Kreuzberg und Friedrichshain (Von anderen Ufern. Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain, Berlin: Bruno Gmünder 2003) die zweite auf einen Stadtteil fokussierte Studie zur Lesben- und Schwulengeschichte. Der vorliegende Sammelband mit Beiträgen von fast zwanzig Autorinnen und Autoren bietet aber mehr als unterhaltsamen Lesestoff für Lokalpatrioten, auch wenn, mangels Vergleichsmöglichkeiten, kaum Aussagen über die Repräsentativität des vorgelegten Materials zu machen sind.

Der Stadtbezirk Pankow hat eine wechselvolle Geschichte, die in einem einführenden Kapitel dargestellt wird. Er lag, auch unter dem Aspekt der Homosexuellengeschichte, bis in die 1950er Jahre eher am Rande der wachsenden Weltstadt Berlin. Zu DDR-Zeiten wurde der Name Pankow zum Synonym für die Regierung der DDR, da ein Teil der DDR-Führung in einem abgesperrten Quartier des Stadtteils wohnte. Prenzlauer Berg wurde spätestens ab Mitte der 1970er Jahre zum Zentrum einer alternativen oppositionellen Szene. Auch die Homosexuellen fanden hier, nachdem die wenigen Szenelokale der 1950er und 1960er Jahre in der und um die Friedrichstraße von dort verdrängt worden waren, Möglichkeiten, Lokale zu Homo-Treffpunkten zu machen und so der sich herausbildenden Homoszene der DDR eine Mitte zu geben.

Die Darstellung setzt im Kaiserreich ein, eine zusammenhängende Erzählung ist jedoch nicht möglich, weil die Überlieferung zu lückenhaft ist. Für die Zeit vorher fehlt sie ganz. Das ändert sich ansatzweise mit der Weimarer Republik. In der jungen Demokratie wird Berlin zum Zentrum der entstehenden Homosexuellenbewegung. Eine wichtige Rolle spielen darin der Bund für Menschenrecht und die Verlage des Friedrich Radszuweit (Radszuweit-Verlag, Orplid-Verlag), mit wechselnden Adressen im Berliner Nord-Osten, nicht weil sich dort die homosexuelle Subkultur konzentrierte, sondern wegen Radszuweits die Bewegung prägenden politischen und publizistischen Aktivitäten. Wenig bekannt ist, dass Anders als die Andern, einer der ersten Spielfilme, der sich mit dem Thema Homosexualität beschäftigte, in der bis in die 1920er Jahre boomenden Filmstadt Weißensee produziert wurde. Dennoch: "Die Goldenen Zwanziger waren woanders", betont Jens Dobler, nämlich im Scheunenviertel und zwischen Alexander-, Nollendorf- und Breitscheidplatz, den Zentren des Kultur- und Vergnügungslebens der Stadt und auch Brennpunkten der lesbisch-schwulen Szene im Berlin der Weimarer Zeit. Im Nord-Osten gab es nur ein einziges Homo-Lokal, daneben eine Reihe von lesbischen und schwulen Freizeit- und Gesellschaftsclubs, über deren Aktivitäten wenig bekannt ist.

Ingo Schmahl berichtet im Anschluss über Die Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Schmahl stützt sich auf die Zweitauswertung der von Andreas Pretzel und Gabriele Roßbach 2000 für ihr Buch Wegen der zu erwartenden hohen Strafe bearbeiteten Akten, soweit ein Wohnsitz im heutigen Bezirk Pankow nachweisbar ist (immerhin 314 Fälle). Neue Erkenntnisse waren nicht zu erwarten, aber die gut 30 ausführlich vorgestellten Personen bieten einen Querschnitt durch die männliche homosexuelle Bevölkerung, soweit sie in der NS-Zeit mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und vor Gericht gestellt worden war. Wer "nur" aufgrund polizeilicher Willkür in Vorbeugungshaft genommen wurde, ist in der Auswahl nicht erfasst. Ein einziger Fall der Verfolgung von Lesben wird vorgestellt (Jens Dobler: "‚Männer nicht.‘ – Eine lesbische Familie"). Ausgangspunkt war die Anzeige einer Mutter, die ihre Tochter aus einer lesbischen Beziehung holen wollte. Umfangreiches Aktenmaterial ermöglicht die Nachzeichnung eines bisher nicht bekannten lesbischen Netzwerks, das bis Kriegsbeginn bestand und Reste der lesbischen Subkultur eine Zeitlang aufrechterhalten konnte. Verurteilt wurde zwei Freundinnen wegen schwerer Kuppelei: Die Hauptangeklagte hatte ihren Töchtern die "Möglichkeit zur Unzucht" nicht verwehrt. Sexuelle lesbische Aktivitäten waren nicht strafbar, galten aber als Unzucht; sie zu ermöglichen, wurde hier als strafbare Kuppelei sanktioniert.

Etwas mehr als die Hälfte des Buches befasst sich mit der Zeit nach 1945, davon nur kurze Texte mit den 1950er und 1960er Jahren. Dass mit dem Ende des "Dritten Reiches" im Mai 1945 die Verfolgung der Homosexuellen nicht aufhörte, ist keine neue Erkenntnis. 1947 z.B. wurden bereits wieder 313 Personen in Berlin wegen Verstößen gegen § 175 angezeigt, davon 131 im sowjetisch besetzten Sektor. Mit der Blockade Mitte 1948 wurde auch die Polizei West- und Ostberlins organisatorisch getrennt. Eine gemeinsame Statistik gibt es seitdem nicht mehr. Die DDR übernahm in ihrem Strafgesetzbuch die mildere Fassung des § 175 RStGB, die bis zur Verschärfung durch die Nazis 1935 galt (Verfolgung von beischlafähnlichen Handlungen unter Männern), behielt aber die durch die Nationalsozialisten eingeführten Qualifikationen des § 175a, Absatz 3 und 4 (Verführung und männliche Prostitution) bei. Die Zahl der Verurteilungen ging in der DDR seit Anfang der 1950er Jahre deutlich zurück, während sie in der BRD etwa das Niveau der NS-Jahre erreichte. Über den Berliner Nord-Osten in den 1950er und 1960er Jahren gibt es kaum Informationen. Spannend ist die Schilderung eines Versuches, in Konkurrenz zu den offiziellen Jugendorganisationen in Prenzlauer Berg die Bündische Jugend wiederzubeleben – ein Versuch, der scheitern musste. An die Weimarer Zeit knüpften auch Bestrebungen an, Ehe- und Sexualberatungsstellen einzurichten. Sie waren für gleichgeschlechtlich empfindende Menschen lange die erste und einzige Stelle für objektive Beratung und Hilfe in Problemlagen jeder Art. 1968 wurde die Sektion Ehe und Familie der Gesellschaft für Sozialhygiene der DDR gegründet. Sie setzte sich insgesamt durchaus erfolgreich für die Integration Homosexueller in die Gesellschaft ein. U. a. ihrer Initiative ist 1988 die Streichung des § 151 (Strafbarkeit sexueller Handlungen von Erwachsenen mit Jugendlichen gleichen Geschlechts) aus dem Strafgesetzbuch der DDR zu verdanken und somit letztlich auch 1994 die Aufhebung des § 175 im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik.

Anstoß für die Schwulenbewegung der DDR war wie in der BRD Anfang der 1970er Jahre die Ausstrahlung von Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt im Westfernsehen. Sie initiierte die Gründung der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin (HIB). Deren Ziel war, durch Veranstaltungen und Treffen die Gesellschaft für das Thema Homosexualität zu sensibilisieren und eine offizielle Anerkennung als Interessengemeinschaft oder Verein durch die Behörden zu erreichen. Im Mai 1980 musste die Organisation ihre Aktivitäten einstellen, der Widerstand der DDR-Bürokratie und der staatliche Druck (Überwachung durch die Stasi einschließlich Gewinnung oder Einschleusung von Informellen Mitarbeitern, durch die Verhältnisse erzwungene konspirative Aktivitäten am Rande oder jenseits der DDR-Legalität, ständige Gefahr von Verhaftungen und Verhören …) waren nicht zu überwinden. Jens Dobler beschreibt Verhältnisse, wie sie "sonst nur noch aus der Nazizeit bekannt" sind (S. 194). Kein passender Vergleich, aber ein notwendiger Hinweis darauf, wie sehr staatliche Repression die Handlungsmöglichkeiten der DDR-Homosexuellenbewegung in den 1970er Jahren eingeschränkt hat.

Als einzige Institution war in der DDR die Evangelische Kirche relativ unabhängig von staatlichem Zugriff; sie bot oppositionellen Menschen und Gruppen einen eingeschränkten Raum für politische Aktivitäten und öffentliche Wirksamkeit, ab 1980 auch Gesprächskreisen zum Thema Homosexualität. Wie die HIB waren diese Gruppen schon bald Beobachtungsobjekte des Ministeriums für Staatssicherheit. Auch innerkirchlich fanden sie nicht nur Zustimmung. Nicht unproblematisch war zudem die Zusammenarbeit von Lesben und Schwulen: prinzipiell wurde sie für sinnvoll gehalten und angestrebt, dennoch entschlossen sich lesbische Frauen, die sich als doppelte Minderheit empfanden (in der Gesellschaft als Lesben diskriminiert, in den Homosexuellengruppen durch die schwulen Männer benachteiligt), zum Aufbau eigener Gruppen, was nicht nur im Berliner Nord-Osten die organisatorische Trennung in lesbische und schwule Arbeitskreise zur Folge hatte. Die Themen einiger weiterer Artikel können hier nur aufgezählt werden: Arbeitsgruppe Homosexualität an der Humboldt-Universität, Volkspolizei und Homosexualität, Coming Out – der Film, AIDS in der DDR. Der Bezug zum Berliner Nord-Osten ist manchmal nur locker; die Texte bieten aber gerade deshalb Mosaiksteine zu einem noch zu erstellenden Gesamtbild "Homosexualität in der DDR".

Die Zeit nach der Wiedervereinigung (im Fokus der Ausführungen zu dieser Zeit steht der Sonntags-Club) kommt als notwendiges (?) Schlusskapitel relativ kurz weg, was aber nicht verwunderlich ist, denn der Abstand ist für eine objektive Betrachtung der letzten beiden Jahrzehnte sicher zu klein.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die vorliegende Publikation – längst nicht alle Artikel konnten hier vorgestellt werden – den notwendigen Spagat zwischen Mikro- und Makro-Historie meistert. Die Texte sind dabei von ganz unterschiedlichem Charakter und unterschiedlicher Qualität (nicht erstaunlich bei so vielen BeiträgerInnen): manche eher journalistisch, manche rein subjektiv oder reproduktiv, die meisten aber auf gesicherter wissenschaftlicher Basis, indem sie Schriftquellen (in Archiven aufgehobene Dokumente oder Dokumente aus Privatsammlungen) erschließen und auswerten oder sich auf eigene Zeitzeugenschaft oder die Befragung von Zeitzeugen stützen. Faksimilierte Dokumente, Porträtaufnahmen, andere Fotodokumente sowie umfangreiche Quellen- und Literaturnachweise vervollständigen die Arbeit.

Kernpunkt und Glanzstück der Publikation sind neben den Darstellungen zur Homosexuellenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren die den ganzen Band auflockernden und veranschaulichenden biografischen Texte, über Friedrich Radszuweit von Jens Dobler oder über Bruno Balz von Kristine Schmidt (eine verlässliche Balz-Biografie gibt es erstaunlicherweise bis heute nicht), über Käthe Kollwitz (die einzige Frau unter den "Prominenten"), Horst Buchholz, Johannes R. Becher, Charlotte von Mahlsdorf usw. Nicht alle Informationen sind neu und das Auswahlkriterium Bezug zum Berliner Nord-Osten führt zu einer eher zufälligen Zusammenstellung. Mindestens ebenso informativ wie die Lebensgeschichten der Prominenten sind aber die kurzen, manchmal zu kurz geratenen biografischen Skizzen von Akteuren der Lesben- und Schwulenbewegung der 1970er Jahre bis in die Gegenwart. Sie bieten ansatzweise auch Einblicke in den Alltag homosexueller Frauen und Männer, ein Aspekt, der in der Publikation insgesamt eher vernachlässigt wird. Diese Texte machen klar, was es bedeutete, sich mit Mut und Selbstbewusstsein gegen politischen, bürokratischen und gesellschaftlichen Widerstand für die eigenen Interessen einzusetzen. Gerade deshalb hätte man sich hier weitergehende Informationen gewünscht, denn so schnell wird sich nicht wieder die Gelegenheit finden, Leben und Arbeit von ProtagonistInnen der Berliner Homosexuellenbewegung in einer Buchpublikation zu würdigen.

Zum Schluss, und damit besonders hervorgehoben, ein Hinweis auf die Biografie, die mich am meisten beeindruckt hat, nämlich das Porträt von Gerda von Zobeltitz, einem Transvestiten aus Weißensee (Verfasserin Katja Koblitz). Er/sie wurde 1891 als Georg von Zobeltitz geboren und starb 1963, nachdem sie auf dem Kurfürstendamm von einem Auto überfahren worden war. Schon 1912 bescheinigen Magnus Hirschfeld und Dr. Ernst Burchard Georg "die nicht unterdrückbare Neigung nach Art des andern Geschlechts zu leben". Georg von Zobeltitz ist zwar nicht, wie Koblitz bemerkt, "einer der ersten Männer in Frauenkleidern", aber bei kaum einem dieser Männer ist das Leben so gut dokumentiert, wie bei Georg/Gerda von Zobeltitz, durch Zeitungsberichte aus der Hetero- und Homopresse, amtliche Schriftstücke und erstaunlicherweise sogar noch durch Zeitzeugen (Verwandte, Nachbarn), die aus eigener Erinnerung oder aus zweiter Hand über ein Jahrhundertschicksal berichten konnten. Auf weitere Einzelheiten will ich hier verzichten. Nicht nur, aber auch wegen dieser Biografie lohnt die Lektüre des vorgestellten Bandes.




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