"Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle".
Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit,
hrsg. von Lev Mordechai Thoma und Sven Limbeck

Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2009, € 34,90

sorry, no cover

 

Rezension von Andreas Niederhäuser, Basel

Erschienen in Invertito 12 (2010)

Publikationen aus dem deutschsprachigen Raum zum Thema Homosexualität im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, ja überhaupt der Vormoderne, sind eher dünn gesät. Dementsprechend gespannt ist man auf Neuerscheinungen. Hält man das Buch in der Hand, macht die Vorfreude allerdings einer leisen Ernüchterung Platz. Dies liegt nicht oder zumindest nur teilweise an der Qualität der Beiträge, die mehrheitlich auf Vorträgen fußen, die auf einer von den Herausgebern im Mai 2006 organisierten Tagung zum Thema "Sodomie zwischen 1200 und 1600. Geschichte, Bilder und Konzepte" am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität in München gehalten worden sind. Irritierend ist mehr, dass die Hälfte der insgesamt zehn Beiträge bereits in gleicher oder zumindest ähnlicher Form erschienen ist und ihre inhaltliche und methodische "Diversität" (S. 10) eher die euphemistische Umschreibung einer gewissen Zufälligkeit bei der Auswahl der Texte zu sein scheint. Allerdings dürfte der Spielraum beim Zusammenstellen der Beiträge angesichts der beschränkten Zahl von Forschenden, die sich mit dem Thema beschäftigen, auch nicht allzu groß gewesen sein.

Im knapp gehaltenen Vorwort setzen sich die Herausgeber hauptsächlich mit dem Verhältnis zwischen vormodernem Sodomie- und aktuellem Homosexualitätskonzept auseinander. Sie gestehen dabei der am prominentesten von John Boswell vertretenen "Kontinuitätstheorie" (Sodomie und Homosexualität seien im Kern dasselbe) zwar zu, bis heute auf die Forschung und die Methodendiskussion produktiv gewirkt zu haben, vertreten mit Michel Foucault aber klar die Auffassung eines grundlegenden Unterschiedes zwischen vormoderner Sodomie (Sodomit, der wider die Natur handelt) und moderner Homosexualität (Homosexueller, der widernatürlich ist). Dennoch sprechen sie im Untertitel der Publikation nicht von Sodomie, weil "viele thematisch relevante Untersuchungsgegenstände sich keineswegs unter den Begriff der Sodomie subsumieren lassen" (S. 10), sondern von Homosexualität im Sinne einer "überzeitlichen Abstraktion" (ebd.). Ob das eine glückliche Formulierung ist, sei dahingestellt, verweist sie doch unterschwellig auf die von den Herausgebern ausdrücklich kritisierte Vorstellung, dass das moderne Homosexualitätskonzept "global und gesamthistorisch die Norm" (S. 9) sei. In den Beiträgen selbst ist sinnvoller Weise je nach Art der untersuchten Quellen entweder von Sodomie oder von Homosexualität die Rede. Tatsächlich bringt angesichts der grundsätzlichen Alterität der Vormoderne, bei der jedes noch so differenzierte methodische Instrumentarium an ein modernes Homosexualitätskonzept zurückgebunden bleibt, die Diskussion um die "richtige" Begrifflichkeit letztlich wenig. Wichtiger ist es, die hinter den verschiedenen Sexualitätskonzepten liegenden Vorstellungen offen zu legen und in die eigene Interpretation einfließen zu lassen. Warum die Herausgeber im Untertitel von der Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit sprechen, bleibt unklar. Zum einen ist der Begriff der Kultur reichlich unscharf, zum anderen widmen sich einzelne Beiträge durchaus Fragen des Alltages, der Lebenswelt und der Verfolgung von Homosexuellen.

Wie erwähnt, wurden einige Beiträge bereits an anderer Stelle publiziert oder es sind Wiederabdrucke älterer Aufsätze, die wegen ihrer Qualität als "exemplarische Arbeiten zur Geschichte der Homosexualität im Mittelalter" (S. 11) in teilweise überarbeiteter Form resp. als Übersetzungen ins Deutsche in den Sammelband aufgenommen wurden. Dazu gehört sicher zu Recht der bereits 1994 publizierte Aufsatz von Wolfram Schneider-Lastin und Helmut Puff. Sie zeigen auf der Grundlage von spätmittelalterlichen Gerichtsakten aus der deutschsprachigen Schweiz nicht nur die obrigkeitliche Verfolgungspraxis auf, sondern fragen auch, soweit es die Quellen erlauben, nach den gesellschaftlichen Bedingungen mann-männlicher Sexualität, den Lebensumständen der Beteiligten und deren Selbsteinschätzung. Christine Reinle geht in ihrem konzis formulierten, durch einen aufgeblähten Anmerkungsapparat leider etwas "verunstalteten" Beitrag zwar nicht auf die konkrete Verfolgungspraxis ein, beleuchtet aber die theologischen und kirchenrechtlichen Diskussionen rund um das Sodomiedelikt (im Sinne der mann-männlichen Sexualität), das im Verlaufe des Mittelalters durch die Verknüpfung mit dem Ketzereivorwurf zu einem vor dem weltlichen Gericht verhandelten und mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechen wurde. Sie fragt darüber hinaus nach den Formen der Vermittlung der einschlägigen Strafnormen an die breite Bevölkerung und erwähnt in diesem Zusammenhang neben der Beichte, der Katechese und der Predigt auch die wenig bekannte Institution des Sendgerichtes. Die kleine Zahl von Sodomieprozessen hat für Reinle dabei weniger mit "Toleranz" oder "Repression" zu tun, sondern mit der starken "Kohäsion sozialer Verbände", die die Anzeigefreudigkeit der Bevölkerung in engen Grenzen hielt (S. 42).

Auch in Klaus van Eickels’ Aufsatz geht es zumindest indirekt um das Verhältnis von normativen Diskurs und gesellschaftlicher Realität. Die Beschlüsse des Konzils von Nablus von 1120, die umfangreiche Strafbestimmungen bezüglich sodomitischer Vergehen enthalten, waren allerdings, wie der Autor aufzuzeigen vermag, keine Reaktion auf eine konkrete gesellschaftliche Praxis mann-männlicher Sexualität, sondern die Folge einer Reihe von empfindlichen Niederlagen im Kampf gegen die Sarazenen, die als Strafe Gottes für das sündhafte Leben interpretiert wurden. Die Beschlüsse des Konzils, das kein Kirchenkonzil, sondern eine Versammlung überwiegend weltlicher Würdenträger war, hatte allerdings weitgehend einen "deklaratorisch-demonstrativen" Charakter (S. 48). Sie richteten sich zudem nicht nur an die eigene Gemeinschaft, sondern konstruierten "als spiegelbildliche Verkehrung des guten Christen" (S. 56) ein feindliches Sarazenenbild, in dem Sexualität im Allgemeinen und Sodomie im Besonderen eine zentrale Rolle einnahmen.

Admiel Kosman untersucht in seinem kurzen Beitrag die Bewertung der Homosexualität in der mittelalterlichen Halacha, der rechtlichen Auslegung der Tora. Er unterscheidet dabei für die verschiedenen Auslegungstraditionen zwischen dem "limitierenden Interpretationsansatz", dem zufolge die einzige einschlägige Torastelle keine allgemeine Zurückweisung der homosexuellen Lebensweise beinhalte, sondern ausschließlich den Analverkehr unter Männern negativ bewerte, und einem "expansiven Interpretationsansatz", vertreten etwa durch den einflussreichen mittelalterlichen Gelehrten Rabbi Mosche ben Maimon, in dem sämtliche gleichgeschlechtliche Handlungen und Lebensstile sowohl von Männern wie von Frauen verurteilt werden.

Andreas Kraß und Lev Mordechai Thoma widmen sich schwerpunktmäßig der mittelalterlichen Predigtliteratur. Kraß versucht u.a. an den Volkspredigten des Franziskaners Berthold von Regensburg († 1272) "Foucaults Thesen zum vormodernen Sodomiediskurs […] zu erproben" (S. 125). Damit spricht er gleich selbst das Grundproblem seines Beitrages an. Die Methode dient hier nicht zum besseren Verständnis des Quellentextes, dieser wird vielmehr dazu benutzt, den gewählten methodischen Ansatz zu bestätigen – ein wenig überzeugendes, m.E. für die "queer theory", in deren Kontext sich Kraß explizit stellt, aber durchaus typisches Vorgehen. Thoma widmet sich den Predigten des Straßburger Münsterpredigers Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510). Auch dieser tradiert zwar die stereotypen mittelalterlichen Vorstellungen bezüglich der Sodomie, anders als die meisten Prediger seiner Zeit spricht er jedoch uncodiert von der gleichgeschlechtlichen Sexualität und beschwört weniger kollektive Untergangsszenarien, sondern zeigt individuelle Verhaltensweisen zur Vermeidung der vermeintlichen Sünde auf. Angesichts der mittelalterlichen Wohnverhältnisse zeugt die Anweisung, dass man "knaben nichtt zů den knechten […], noch knaben zůsamen" legen solle (S. 144) allerdings nicht unbedingt von einem ausgeprägten Realitätssinn des Predigers.

Albrecht Diems Studie zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg ist ebenfalls bereits zuvor erschienen. Vor dem Hintergrund einer älteren Forschung, die verschiedentlich die Freundschaft König Markes zu Tristan als eine homoerotische oder homosexuelle identifizierte, untersucht er die für diese These vorgebrachten Indizien – neben Markes Heiratsverzicht etwa Tristans Schönheit und seine Anziehungskraft auf den Hof insgesamt und den König im Besonderen. Diem weist diese Interpretation zurück, da es keinen Sinn mache, den von Gottfried "dargestellten emotionalen Strukturen und Beziehungskategorien […] diejenigen unserer Zeit überzustülpen" (S. 121). Das hält ihn allerdings nicht davon ab, diesbezüglich selbst u.a. von "tiefer Emotionalität" und "intimer Freundschaft" (S. 97) zu sprechen und damit nicht weniger mit einer modernen, psychologisierenden Begrifflichkeit zu operieren. Etwas irritierend ist zudem die Unschärfe zwischen sozial- und mentalitätsgeschichtlichen auf der einen und poetologischen und gattungsgeschichtlichen Interpretationsansätzen auf der anderen Seite.

Helmut Puff und Markus Wesche widmen sich Themen aus dem Bereich der bildenden Kunst. Puff geht in seiner bereits auf Englisch erschienenen, detaillierten und kenntnisreichen, sowohl kunst- wie motivgeschichtlich orientierten Studie anhand einer singulär stehenden Zeichnung von Albrecht Dürer, in der Orpheus als "der Erst puseran" bezeichnet wird, dem Motiv des Orpheus als "Erfinder der Sodomie" nach. Wesches Aufsatz über eine Gedenkmedaille für den jung verstorbenen Sieneser Adligen Alessandro Cinuzzi bildet dagegen ohne Zweifel qualitativ das Schlusslicht des Sammelbandes. Seine Ausführungen über den "Hauptstadt-Beau" (S. 185) und dessen durch Bewunderer und Liebhaber initiierte bildliche Darstellung bewegen sich auf einer dünnen Quellenbasis und gründen zu einem großen Teil auf Mutmaßungen.

Sven Limbeck schließlich zeigt in seiner Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wunderzeichen- und Monstrenliteratur und den einschlägigen Einblattdrucken und Flugschriften überzeugend auf, wie Sodomie (in der ganzen diffusen Bandbreite des Begriffes) hier nicht auf "etwas materiell Existentes" referiert, sondern "eine diskursive Hervorbringung" ist, "die sich von Fall zu Fall an konkrete gesellschaftliche Gegenstände und Personen knüpfen kann" (S. 203).

Der Abschluss des Sammelbandes (die Besprechung der einzelnen Beiträge folgte nicht der eher unmotiviert scheinenden Reihenfolge ihres Abdruckes) bildet eine hilfreiche Auswahlbibliographie.

Trotz Vorbehalten gegenüber einzelnen Beiträgen und dem Eindruck einer gewissen Stagnation in den Fragestellungen, an dem auch der Einbezug von "queer theory" (Kraß) und Überlegungen zu einer neuen integrativen Betrachtung von normativem Diskurs und gesellschaftlicher Praxis (Reinle) wenig ändern, bietet der Sammelband insgesamt spannende und interessante Einblicke in das breite Themenfeld. In formaler Hinsicht ist lediglich das Fehlen der sonst üblichen AutorInnenhinweise zu bemängeln.




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