Jens Dobler
Zwischen Duldungspolitik und Verbrechensbekämpfung

Homosexuellenverfolgung durch die Berliner Polizei von 1848 bis 1933, Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft 2008, 618 S.,€ 26,90

sorry, no cover

 

Rezension von Jürgen K. Müller, Köln

Erschienen in Invertito 11 (2009)

Jens Dobler schreibt sowohl die Geschichte der Homosexuellenverfolgung durch die Kriminalpolizei von der Mitte der 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik als auch die Geschichte der Entwicklung der modernen Kriminalpolizei in Berlin in diesem Zeitraum. Die beiden Forschungsgebiete weisen Parallelen auf: Sowohl für die Kriminalpolizei als auch für den "modernen" Homosexuellen kann die Mitte des 19. Jahrhunderts als "Geburtsstunde" angesetzt werden. Jens Dobler verbindet die Geschichte des Auf- und Ausbaus der Berliner Kriminalpolizei mit der Geschichte der Homosexuellenverfolgung. Er wechselt dabei mehrfach die Perspektive, z.B. beschreibt er die Umorganisation kriminalpolizeilicher Strukturen aus dem Blickwinkel einer Behörde, die auf veränderte wissenschaftliche Forschung und technische Entwicklungen reagierte. Dann wieder stellt er Bestrebungen der Homosexuellenbewegung in den Mittelpunkt, ihre Aufklärungsarbeit in die kriminalpolizeiliche Ausbildung zu implementieren. Er bleibt dabei aber immer eng am Thema: der Entwicklung der Kriminalpolizei im Allgemeinen und des Homosexuellendezernats im Besonderen. Damit ist zugleich dargelegt, was diese Studie nicht ist: eine klassisch erzählte Geschichte der Homosexuellenverfolgung, in der die Verfolgung durch die Polizei zwar den Schwerpunkt einnimmt, aber in die Geschichte der Homosexualität eingebunden ist.

Da die Berliner Polizeibehörde die größte im Deutschen Reich und beispielgebend für Struktur, Organisation und Arbeitsweise deutscher Polizeibehörden war, ist die vorliegende Studie Grundlagenforschung, die Vergleichsmöglichkeiten für die Betrachtung anderer Kriminalpolizeien bietet, nicht nur in preußischen Großstädten, sondern auch in anderen Ländern des Deutschen Reiches. Insbesondere ist, worauf Dobler hinweist, ein Vergleich mit den Ländern interessant, in denen bis 1871 keine der preußischen entsprechende Strafbestimmung gegen "widernatürliche Unzucht" bestand, z.B. Bayern, und somit eine grundsätzlich andere Ausgangsposition für die Verfolgung homosexueller Handlungen gegeben war.

Den Aspekt der Homosexuellenverfolgung schränkt Jens Dobler doppelt ein: Zum einen geht es um die Verfolgung homosexueller Männer. Frauen werden kaum erwähnt, so am Anfang bei der Klärung der Terminologie und etwa bei der Diskussion um die Ausweitung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Frauen. Zum anderen beschränkt sich Jens Dobler auf die Verfolgung strafbarer homosexueller Handlungen.

In der Einleitung liegt der Schwerpunkt auf der Fremdwahrnehmung, der Fremdbezeichnung und der Fremddarstellung gleichgeschlechtlich begehrender Männer. Knapp wird die Debatte um Konstruktivismus und Essentialismus nachgezeichnet. Dies ist insofern von grundlegender Bedeutung, da die Konstruktion und Selbstdefinition des modernen Homosexuellen in der ersten Phase des Untersuchungszeitraums anzusetzen ist. Dobler begründet seine Fokussierung auf das Fremdbild damit, dass im Zentrum seiner Untersuchung die Organisation und die Verfolgungsaktivitäten der Polizei als Institution der Exekutive stehen. Aus der Herausbildung der modernen Polizeibehörde im 19. Jahrhundert und der Funktion der Polizei als Erstverfolgungsinstanz für strafbare homosexuelle Handlungen bezieht Dobler seine zentralen Fragestellungen: Wie wurde in der sich bildenden Kriminalpolizei das Deliktfeld "Homosexualität" organisiert und wie stellte sich der Umgang damit im historischen Wandel dar? Welche Polizeiorganisationen waren wann und in welcher Stärke mit diesem Gebiet beschäftigt? Welcher Stellenwert wurde ihm unter den jeweils herrschenden Umständen beigemessen? Wie wurden Homosexuelle beschrieben? Spielten Vorurteile und Voreingenommenheiten eine Rolle? Wie reagierte die Polizeibehörde auf die sich bildende Community und die entstehende Homosexuellenbewegung? Wie ist zu erklären, dass die Leiter des Homosexuellendezernats aktiv mit der sich bildenden Homosexuellenbewegung zusammenarbeiteten, sich für Akzeptanz der Homosexuellen einsetzten und sich für die Abschaffung des Paragrafen 175 StGB aussprachen? (S. 29) Methodisch verbindet er Institutionengeschichte mit biographischer Forschung.

Jens Dobler gliedert die Untersuchung in vier Phasen: Er orientiert sich dabei wesentlich an Entwicklungen in der Organisation der Kriminalpolizei und an den diese Entwicklung vorantreibenden Kriminalisten. Das erste Kapitel beschreibt den Aufbau (1848–1860) und die Reorganisation (1861–1880) der Berliner Kriminalpolizei, der Aufbau war eng mit der Person Wilhelm Stiebers, ihres ersten Leiters, verbunden. Da die junge Kriminalpolizei noch keine ausdifferenzierte Organisation besaß, kam dem Leiter in Bezug auf seine Stellung zur Homosexualität und zur Verfolgung der Homosexuellen eine zentrale Bedeutung zu. Auch wenn Quellen für diese Zeit nur lückenhaft überliefert sind, kann die Positionierung Wilhelm Stiebers herausgearbeitet werden. Er sah in den Homosexuellen eine von vier Gruppen (neben den Demokraten, damit waren Sozialisten und Sozialdemokraten gemeint, den Verbrechern und den Prostituierten), die den Staat grundsätzlich gefährdeten. Homosexuelle Männer und Prostituierte gefährdeten seiner Meinung nach durch Unmoral und Entsittlichung Gesellschaft und Staat. Von einer systematischen Verfolgung der Homosexuellen kann, obwohl im Preußischen Strafgesetzbuch (ab 1851) "widernatürliche Unzucht" mit Gefängnis bestraft wurde, dennoch noch nicht gesprochen werden. Es fehlten detaillierte Vorstellungen und Begrifflichkeiten. Dobler beschreibt in einem zweiten Abschnitt des Kapitels die Entwicklung der Berliner Kriminalpolizei unter Stiebers Nachfolgern. In dieser Phase werden erste Vorläufer der Homosexuellenbewegung sichtbar, intensiviert die Innere Mission der Evangelischen Kirche ihren Kampf gegen die Unsittlichkeit und entdecken Gerichtsmedizin und Psychiatrie ihr Interesse am Thema Homosexualität. Diese Entwicklungen legen zusammen mit dem neuen Reichsstrafgesetzbuch und seinem § 175 die Grundlage für eine verstärkte Verfolgung der Homosexuellen.

Die nächste Phase (1880–1900) wird von drei Themenkomplexen bestimmt, dem Aufbau von Erkennungsdienst und Fahndungswesen, der erstmaligen Einrichtung eines Homosexuellendezernats (1885) sowie der wachsenden Bedeutung der Kriminologie und ihrem Einfluss auf die Polizeiarbeit. Der Erkennungsdienst und das Fahndungswesen trugen wesentlich zu einer Ausdifferenzierung der Arbeit der Kriminalpolizei bei: Wichtig sind dabei technische Erfindungen (Fotografie), neue Erkenntnisse über unveränderliche körperliche Merkmale (Daktyloskopie – Fingerabdruckverfahren) und eine Verfeinerung der Arbeitsmethodik (Fahndungslisten, Karteiregistraturen). Dobler verknüpft diese Entwicklung der Arbeitsweise der Kripo unter anderem mit dem Fall Mertés, dem wohl ersten Fall, anhand dessen die sogenannten Rosa Listen nachgewiesen sind (vgl. Artikel zu dem Fall des Kölner Hutfabrikanten Mertés – Invertito 3/2001). Die allgemeinen Erkenntnisse tragen dabei auf den ersten Blick wenig zum Thema Homosexuellenverfolgung durch die Polizei bei; so wird beispielsweise auf achteinhalb Seiten die Entwicklung der Fotografie als Teil des Erkennungsdienstes beschrieben, wovon gerade eine halbe Seite einen konkreten Bezug zur Verfolgung der Homosexuellen aufweist. Aber in der Darlegung des sich langsam ausdifferenzierenden Arbeitsinstrumentariums der Kriminalpolizei wird deutlich, wie sich seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur die Arbeitsweise der Kriminalpolizei, sondern auch die Verfolgung der Homosexuellen veränderte: von der zufälligen Kenntnisnahme einer strafbaren Handlung hin zur systematischen Ausforschung der "Homosexuellenszene". Mit der Einrichtung des Homosexuellendezernats als Spezialdezernat erhielt die Verfolgung der Homosexuellen innerhalb der Arbeit der Kriminalpolizei einen besonderen Stellenwert. Die Gründung im Jahre 1885 war Folge einer Reorganisation der Berliner Kriminalpolizei: die Verfolgung Homosexueller erfolgte von da an durch spezialisierte Kriminalbeamte. Das Deliktfeld Homosexualität wurde einer Kriminalinspektion zugeordnet, die sich auf "gewerbs- und gewohnheitsmäßige" Verbrechen konzentrierte. Auch wenn homosexuelle Handlungen juristisch nicht als Verbrechen geahndet wurden, galt der enge Bezug zu Prostitution und Erpressung als ausreichender Grund für die Zusammenlegung. In dieser Zeit wurde ein eigenes Verbrecheralbum für "Päderasten" begonnen.

Jens Dobler verknüpft die Gründung und Arbeit des Homosexuellendezernats wesentlich mit der Person Leopold von Meerscheidt-Hüllessems, dem ersten Leiter des Dezernats (1885–1900). Unter der Leitung Hüllessems wurden Rosa Listen angelegt, mehr Homosexuelle als zuvor vor Gericht gebracht, und doch beschreibt Dobler Hüllessem als einen Kriminalbeamten, der trotz seiner Voreingenommenheit gegenüber Homosexuellen bereit war, neue Erfahrungen zu machen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Hüllessem baute intensive Kontakte zu den Medizinern Krafft-Ebing, Moll und Hirschfeld sowie zu dem homosexuellen Schriftsteller Adolf Glaser auf. Eine indirekte Beteiligung an der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees ist nicht unwahrscheinlich. Dobler entfaltet mit der Beschreibung des Umfelds Hüllessems ein Panorama zeitgenössischer Aufgeklärtheit. Dazu passt, dass zahlreiche Kriminologen für die Abschaffung des § 175 plädierten, andererseits mit ihrer Forschung dazu beitrugen, den Typus des Homosexuellen als Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu konstruieren.

In der dritten Phase (1900–1918) stehen neben der Weiterentwicklung des Homosexuellendezernats das Instrument der polizeilichen Überwachung und die Bekämpfung von Verbrechen an Homosexuellen im Mittelpunkt. Der neue Leiter des Dezernats Hans von Tresckow (1900–1911) führte die kriminalpolitische Linie Hüllessems weiter; auch er pflegte einen engen Kontakt zur Homosexuellenbewegung. Tresckow engagierte sich nach seinem Ausscheiden aus der Kriminalpolizei sogar in der Homosexuellenbewegung: Er hielt Vorträge und publizierte in Homosexuellenzeitschriften. Unter Tresckow wurde auch die Politik seines Vorgängers fortgesetzt, scharf gegen Erpresser vorzugehen. Trotz seines guten Verhältnisses zur Bewegung wuchs unter Tresckow die Anzahl der Fotos homosexueller Männer im Verbrecheralbum, wurde die Überwachung der Homosexuellenlokale ausgebaut und systematisiert. Die Überwachung von Tanzveranstaltungen, öffentlichen Treffpunkten, Lokalen und Personen begründete die Kriminalpolizei mit dem Ziel der sozialen Kontrolle: der "Verhinderung eines allzu öffentlichen Auftretens von männlichen Prostituierten und Homosexuellen im Straßenbild, die Verhinderung homosexueller Straftaten und Schutz der Homosexuellen vor Erpressungen und anderen Straftaten" (S. 355).

Das letzte Kapitel umfasst die Weimarer Republik (1918–1933) mit einem weiteren Ausbau des Homosexuellendezernats sowie den beiden thematischen Aspekten der Ausbildung der Kriminalpolizei und der Bedeutung der Zensur. Im Zentrum stehen die beiden auf Tresckow folgenden Leiter des Homosexuellendezernats Heinrich Kopp und Bernhard Strewe. Obwohl Kopp den größten Teil seines Arbeitslebens im Kaiserreich absolvierte (1911–1923) hält Dobler es für sinnvoll, ihn im Kapitel zur Weimarer Republik zu präsentieren. Sowohl Kopp wie auch die anderen von Dobler vorgestellten leitenden Polizeibeamten werden – eine Stärke der vorliegenden Untersuchung – über die eigentliche Arbeit bei der Verfolgung der Homosexuellen hinaus differenziert dargestellt. Im Kontext ihres grundsätzlichen Verhältnisses zu Fragen von Sittlichkeit und Moral wird erst eine Beurteilung ihres Verhältnisses zu den Homosexuellen und zur Homosexualität möglich. Heinrich Kopp beispielsweise, von Dobler als linker, sexual-reformistischer (Kriminal-)Politiker charakterisiert, war auch für den sogenannten "Mädchenhandel" zuständig. Kopp hielt das in den Medien äußerst populäre Thema für ein Konstrukt der Sittlichkeitsvereine. Ihm folgte Bernhard Strewe im Amt (1923–1933). Während Heinrich Kopp bereits während der Kaiserzeit öffentlich für die Abschaffung des § 175 RStGB eintrat, entwickelte Strewe eine deutlich restriktivere Haltung gegenüber den Homosexuellen. Er brach die Kontakte zur Homosexuellenbewegung zwar nicht ab, propagierte aber offen das Bild vom gefährlichen Homosexuellen, der Kinder und Jugendliche zur Homosexualität "verführe". Strewe trat im Mai 1933 der NSDAP bei. Gerade am Beispiel Kopps wird klar, dass die Intensität der Verfolgung der Homosexuellen wesentlich mit der personellen Besetzung des einschlägigen Kriminaldezernats zusammenhing. Die beiden sich anschließenden Abschnitte über die Ausbildung der Kriminalbeamten unter dem Aspekt Informationen zur Homosexualität und die Frage der Zensur von Homosexuellenzeitschriften beschreiben gegenläufige Tendenzen. Einerseits konnten Polizeibeamte in ihrer Ausbildung relativ vorurteilsfreie Informationen über Homosexuelle erhalten, andererseits verweist die ständig zunehmende Zensur von Homosexuellenzeitschriften auf ein Klima der verstärkten Diskriminierung und Stigmatisierung schon in der Endphase der Weimarer Republik.

Mit dem Jahr 1933 und dem Beginn der NS-Herrschaft beendet Jens Dobler seine Untersuchung: Die Institution Kriminalpolizei hat ihre grundlegenden Strukturen entwickelt und ihre Arbeitsweisen ausdifferenziert. Ihre Arbeit unterscheidet sich zudem im NS-Staat grundlegend von der ihrer Vorgänger in der wilhelminischen und demokratischen Zeit. Auch die Arbeit der Kriminalpolizei wurde jetzt von rassischem Denken geprägt.

Die Stärke der Studie von Jens Dobler ist zugleich ihre Schwäche: Die Verzahnung der Geschichte der (Kriminal-)Polizei mit der Geschichte der Homosexuellenverfolgung verlangt eine detaillierte Darlegung der Entwicklung von Organisation und Arbeitsweisen der Kriminalpolizei sowie – was ich als besonders gelungen hervorheben möchte – der Rolle und Bedeutung der Kriminalbeamten in den Spitzenfunktionen. Dies führt an einigen Stellen für LeserInnen, die vornehmlich an der Geschichte der Homosexuellenverfolgung interessiert sind, zu (notwendigen) Längen. Die schmale Basis der Quellen zur Homosexuellenverfolgung verstärkt für den ersten Teil der Studie (bis 1885, vor dem Aufbau eines Homosexuellendezernats) diesen Eindruck. Die ausführlichen Biographien der leitenden Kriminalbeamten wirken an manchen Stellen zu detailverliebt, ermöglichen es aber auf der anderen Seite, die Handlungsmotive dieser Personen in einen größeren Kontext zu stellen. Die 600 Seiten verlangen viel Konzentration. Sie bieten aber – über das Thema der Homosexuellenverfolgung hinaus – einen spannenden Einblick in die Geschichte der Formierung der modernen Kriminalpolizei.




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