Hollow Skai: "Das alles und noch viel mehr"
Rio Reiser - das kurze Leben des Königs von Deutschland

München: Heyne 2006, 287 S., € 18,95

Cover

 

Rezension von Stefan Micheler, Hamburg

Erschienen in Invertito 10 (2008)

"Jede Nacht um halb eins, wenn das Fernsehen rauscht, leg ich mich aufs Bett, und mal mir aus, wie es wäre, wenn ich nicht der wäre, der ich bin, sondern Kanzler, Kaiser, König oder Königin." - Rio Reisers 1986 veröffentlichter Song "König von Deutschland" gehört zu den am häufigsten gecoverten und bearbeiteten deutschsprachigen Titeln und ist zweifelsohne einer der populärsten - wenn man so will - queeren Songs überhaupt, wobei sich die Frage aufdrängt, ob viele nicht die eingangs zitierte Textzeile und auch die Passage "Ich wär' Rio der Erste, Sissi die Zweite" einfach beim Hören ausgeblendet oder nicht verstanden haben. Nicht aus Zufall werden in den Bearbeitungen die transvestitischen/transsexuellen Phantasien umgedeutet und auch die Textzeile "Ich würd' die Prinzen täglich wechseln" - eine Hommage an einen polygamen Lebenswandel aus der Neufassung von 1994 - findet sich in keiner der Coverversionen. Songs von Rio Reiser wie "König von Deutschland" oder "Junimond" haben in den letzten Jahren auch Eingang in deutsche Schulbücher gefunden und gelten damit wohl auch für SchulbuchautorInnen als Beispiele deutscher Poesie, die sich für gegenwartsbezogenen Unterricht eignen.

Rio Reiser (1950-1996) war vor seiner Solokarriere Frontmann, Sänger und auch Komponist von Ton Steine Scherben (TSS oder Scherben), einer der ersten und einflussreichsten deutschsprachigen Rockgruppen, die von 1970 bis 1985 bestand. Ton Steine Scherben wurden schnell in der entstehenden links-alternativen Szene bekannt, während sie wegen ihrer radikalen politischen Texte (z.B. "Keine Macht für Niemand", "Macht kaputt, was euch kaputt macht!", "Wir brauchen keine Hausbesitzer, denn die Häuser gehören uns! Wir brauchen keine Fabrikbesitzer, die Fabriken gehören uns! Aus dem Weg Kapitalisten, die letzte Schlacht gewinnen wir! Schmeißt die Knarre weg, Polizisten! Die rote Front und die schwarze Front sind wir!") nicht im öffentlich-rechtlichen Radio gespielt wurden und auch bis heute kaum werden. Sie lieferten, wie der Musikjournalist Hollow Skai in seiner Rio-Reiser-Biographie schreibt, den "Soundtrack zur Revolution" (S. 53) und sind auch heute noch eine Ikone der undogmatischen alternativen Linken. Einen größeren kommerziellen Erfolg konnten Ton Steine Scherben trotz ihrer Popularität nicht erzielen, möglicherweise, weil sie mit ihrem eigenen Plattenlabel David Volksmund Produktion, dem ersten deutschen Independent-Label, dafür anfangs nicht marktwirtschaftlich genug agierten. Vertraut man der Selbstauskunft zahlreicher deutschsprachiger Bands, sehen sie sich durch Ton Steine Scherben maßgeblich beeinflusst, aber wohl weniger durch die emotional-politischen, sozialkritischen Texte als musikalisch durch die vielen eingängigen, wohl instrumentierten Melodien.

Rio Reiser, der von links für seine Solokarriere oft als ruhmsüchtig und geldgierig kritisiert wurde, blieb seinem herrschaftskritischen Anspruch auch als Solist treu, wie unter anderem Lieder wie "Menschenfresser", "Bei Nacht" und nicht zuletzt auch "König von Deutschland" zeigen. Noch immer gibt es Menschen, die verwundert reagieren, wenn sie erfahren, dass Rio Reiser schwul lebte und liebte. Dabei hat Reiser aus seinem Begehren öffentlich - im Gegensatz zu vielen anderen Musikern, Sängern und Textern - keinen Hehl gemacht. Vielen ist nicht bewusst, dass die diversen Liebeslieder, die er solo oder als Frontmann von Ton Steine Scherben gesungen hat, an Männer gerichtet waren oder dass das angesprochene lyrische Du männlichen Geschlechts war.

Hollow Skai thematisiert in seiner 2006, 10 Jahre nach dem frühen Tod des Künstlers, erschienenen Biographie Rio Reisers Begehren eher am Rande und geht dabei kaum über dessen Autobiographie König von Deutschland aus dem Jahr 1994 (Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch) hinaus. Lange war unklar, ob Skais Biographie überhaupt erscheinen würde, da sich Reisers Familie, insbesondere seine Brüder Peter und Gert Möbius, die ihren Bruder künstlerisch und organisatorisch unterstützten, und andere Interviewpartner nicht korrekt im Buch wiedergegeben sahen und auch Skais Blick auf die letzten Lebensjahre kritisierten: Hollow Skai entwirft durchaus mit Sympathie, Respekt und Bewunderung das Bild eines exzentrischen Ausnahmekünstlers, der zu wenig auf seine Gesundheit achtete, sich vom Musikbusiness getrieben fühlte, sich nach einem Nummer-1-Hit sehnte und letztlich am Alkoholismus zugrunde ging.

Hollow Skais Schwerpunkt liegt auf Rio Reisers Schaffen nach der Ton Steine Scherben-Zeit, damit beleuchtet seine Biographie einen Zeitabschnitt, der in der Autobiographie und in zahlreichen Buch- und Film-Dokumentationen über Ton Steine Scherben eher wenig beachtet wurde. Anhand von Interviews, Artikeln, Rundfunk- und Fernsehberichten, die im Anhang ausführlich dokumentiert sind, zeichnet Hollow Skai Rio Reisers Leben und Schaffen von der Kindheit und Jugend über die Berliner Zeit bis hin zum Leben und Arbeiten im nordfriesischen Fresenhagen nach. Immer wieder werden dabei Beziehungspartner erwähnt, jedoch nicht ausführlich vorgestellt. Rio Reisers Liebesideal zitiert Skai nach einem Interview wie folgt: Liebe sei, "wenn Leute sich gegenseitig das Leben leichter machen, ohne was dafür voneinander zu erwarten" (S. 61, zitiert nach: "Songbook").

Explizit thematisiert wird Homosexualität nur an wenigen Stellen: Einige Ausführungen aus Reisers Autobiographie zur Rolle als Schwuler in der linken Szene werden mit Interviewaussagen Corny Littmanns, des Hamburger Pioniers der deutschen Schwulenbewegung, ergänzt. Reiser beschreibt in "König von Deutschland" sein Interesse an jungen Männern proletarischer Herkunft in der Berliner linken Subkultur, sein Verliebtsein und seine nicht immer von Erfolg gekrönten Eroberungsversuche. Littmann ist der Auffassung, Reisers Schüchternheit habe ihn davon abgehalten, in Stricherkneipen zu gehen und sich "junge Prolls rauszuholen". "Stattdessen habe er seine Freunde bemuttert und gefördert, wo und wie er nur konnte" (S. 160), paraphrasiert Skai Littmann weiter. Ob die Distanz des offen schwul lebenden Reiser zur Schwulenszene noch weitere Gründe gehabt hat, bleibt ungeklärt.

Ausführlich berichtet Skai über die Zusammenarbeit von Ton Steine Scherben mit der schwulen Theatergruppe Brühwarm Ende der 70er Jahre, zu der Littmann gehörte. Zusammen nahmen sie 1977 die LP Mannstoll und 1978 die LP entartet! auf. Skai zitiert eine Aussage des TSS-Bassisten Kai Sichtermann, dass Rio Reiser durch die Zusammenarbeit mit Brühwarm unverkrampfter mit seiner eigenen Homosexualität umgegangen sei. Eine mögliche Verkrampftheit des heterosexuellen Umfeldes wird jedoch nicht näher beleuchtet. Das offen schwule Lied "Raus (aus dem Ghetto)" wurde von TSS immerhin auch auf Konzerten gespielt und findet sich auch auf einer der späten TSS-Platten. Littmann zufolge habe Reiser sich 1978 kurzzeitig überlegt, ob er TSS vorübergehend verlassen und mit Brühwarm auf Tour gehen solle (S. 80-83). Warum er sich dagegen entschieden hat, wird jedoch nicht deutlich. Dafür wird kurz auf Reisers Kritik am Kult der Berliner Schwulenszene um David Bowie Anfang der 80er Jahre eingegangen, die Reiser als neidische Diva erscheinen lässt (S. 83). In Bezug auf den Umgang mit jüngeren Partnern bzw. Partnerinnen spricht Skai von einer Doppelmoral im Umfeld Reisers: In der Musikszene seien jüngere Freundinnen von Künstlern kein Problem, jüngere Freunde wohl aber schon (S. 82).

1994 kritisierte Reiser in einem Interview mit dem Berliner Stadtmagazin Zitty den Umgang der Linken mit Homosexualität, Schwulsein habe dort anfangs als "dekadent und unproletarisch" gegolten (S. 160). Reiser schreibt selbst 1994, dass linke Studenten sich noch 1967 über seine langen Haare mokiert hätten, einer habe sich beklagt, dass diese seine "latente Homosexualität" weckten (Autobiographie, S.104). Auch später sei Homosexualität nicht "en vogue" gewesen, was Reiser unter anderem auf die unkritische Rezeption der homophoben Schriften des linken Sexualreformers Wilhelm Reich - die Reiser selbst, offensichtlich ohne sie kritisch zu hinterfragen, als Raubdrucke mitverbreitete - zurückführt (Autobiographie, S. 230). In den ersten 14 Jahren von TSS habe er nie jemanden nach dem Konzert mit ins Bett nehmen können, weil die Übernachtungsmöglichkeiten - ein Raum für mehrere Musiker - dies kaum erlaubt hätten und weil er nach den endlosen politischen Gesprächen nach dem Konzert "nie die Kurve gekriegt" habe. Darüber hinaus hätte sich wohl nur "ein abgebrühter Schwuler" auf die Situation eingelassen, denn "auch das 'Objekt der Begierde' [stand] unter Beobachtung und hätte ein paar lustige Wochen vor sich gehabt, wenn bekannt geworden wäre, dass er mit mir im Bett gewesen war" (Autobiographie, S .230). Damit beschreibt Reiser eindringlich die Repressivität der antiautoritären Linken der 70er Jahre; eine Kritik, die Skai in seiner Wiedergabe deutlich entschärft hat (S. 61). Reisers Sublimierung des zu oft leeren Bettes (Song: "Wir müssen hier raus": "Im Bett ist der Mensch nicht gern alleine") zeigt sich an Liedern wie "Komm schlaf bei mir". Auch Rio Reisers Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen in der Autobiographie wird bei Skai bedauerlicherweise dahin verdreht, dass er Reiser Stereotype des homosexuellen Jungen (Puppenspiel, Weichlichkeit, Kleider tragen) zuschreibt (S. 31), während diese in der Autobiographie eher seziert werden (Autobiographie, auch dort S. 3l).

Hollow Skai hat zweifelsohne eine interessante Biographie geschrieben, die nicht zuletzt durch ihren umfassenden Anhang mit Werkverzeichnis, Quellenverzeichnis und Register besticht, Lesehilfen und Arbeitserleichterungen, die man in manchem wissenschaftlichen Buch vermisst. Ein gutes, kontroverses Buch für Reiser-Kenner. Wer sich Rio Reiser erstmals nähern will oder sich näher mit dem Thema "Die Linke und das Laster" (Klaus Mann) beschäftigen möchte, dem sei hingegen Reisers Autobiographie empfohlen.




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