Sabine Grenz / Martin Lücke (Hg.):
Verhandlungen im Zwielicht

Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld: transcript Verlag 2006, 347 S., € 29,80

Cover

 

Rezension von Stefan Micheler, Hamburg

Erschienen in Invertito 10 (2008)

Sabine Grenz und Martin Lücke stellen in dem von ihnen herausgegebenen interdisziplinären Sammelband aktuelle Arbeiten der gegenwärtigen europäischen Prostitutionsforschung vor. In ihrer Einleitung Momente der Prostitution geben die beiden HerausgeberInnen einen Überblick über die bisherige Forschung und die im Band versammelten Beiträge: Nach wie vor sei Prostitution ein randständiges Thema innerhalb verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Die Themen bzw. der Fokus der Forschung hätten sich jedoch, seit der Begründer der Prostitutionsforschung Iwan Bloch 1912 eine erste Studie vorgelegt habe, ebenso gewandelt wie die gesellschaftliche und strafrechtliche Bewertung der Prostitution. Seit 2001 gelte Prostitution in Deutschland nicht mehr als sittenwidrig, in Fachdiskussionen setze sich immer mehr der Begriff "Sexarbeit" durch. In den Wissenschaften habe lange Zeit Devianzforschung im Mittelpunkt gestanden: zunächst die Prostituierten als deviante Personen und ihre Motive, sich zu prostituieren, später auch die Freier. Ziel des eigenen Sammelbandes sei es zu zeigen, "wie Prostitution ihrerseits als ein spannungsreiches Feld der Wissensproduktion und -reproduktion gewirkt hat", "wie die Prostitution bestehendes Wissen über Geld, Macht, Sexualität und Geschlecht praktiziert und damit reproduziert". Es solle gezeigt werden, wie "dieses Wissen durch und in der Prostitution verändert" wird und "von dort in andere gesellschaftliche Bereiche" zurückwirke. Prostitution werde dadurch "zum integralen Bestandteil der gesellschaftlichen Reproduktion, Aneignung und Reproduktion von geschlechtlich codiertem Wissen über Sexualität, aber auch über Geld und die gesellschaftliche Konstruktion von Raum und Zeit" (S. 10).

Grenz und Lücke heben hervor, dass Formen der Prostitution historisch und kulturell spezifisch sind, dass etwa die heute übliche Trennung in heterosexuelle Prostitution von Männern und Frauen sowie in heterosexuelle und homosexuelle ein Zeitphänomen sei. Vor diesem Hintergrund definieren sie: "Prostitution stellt keine gleichsam ahistorische Konstante dar, sondern ist als soziale Praktik stets eine zeittypische, also historische Antwort auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die etablierten Vorstellungen von so vielfältigen Aspekten wie denen des Geschlechts, der Sexualität, der race, der sozialen Schicht und anderen, indem sie diese reproduziert, aufbricht oder zu überwinden vorgibt. Konstitutiv für die Prostitution ist ihr Charakter als Tauschhandel zwischen Körperlichkeit und Sexualität auf der einen und materiellen Gegenleistungen auf der anderen Seite."

Grenz und Lücke legen dar, dass der wissenschaftliche Blick überwiegend auf heterosexuellen käuflichen Sex, weibliche Prostituierte und männliche Freier gerichtet war und ist, worin sich auch die gesellschaftliche Betrachtung von Prostitution niederschlage, wie an der deutschen Sprache zu zeigen sei. So schreibe der Duden 2004 [und auch 2006] dem Begriff "Prostituierte" nur das weibliche Geschlecht zu und definiere den Begriff "Strichmädchen", den Begriff "Strichjunge" bzw. "Stricher" hingegen nicht.

Der Band zeigt mit seinen 17 Beiträgen zahlreiche Aspekte eines facettenreichen Forschungsgebietes: den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Prostitution und Menschenhandel, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Prostitution und ihren gesellschaftlichen Niederschlag sowie die Darstellung und Inszenierung von Prostitution in Kunst und Literatur. Gegenstand der meisten Beiträge ist heterosexuelle Prostitution mit Männern als Kunden und Frauen als Prostituierten in Geschichte und Gegenwart. Lediglich ein Beitrag von Martin Lücke beschäftigt sich mit mann-männlicher Prostitution. Ferner ist ein weiterer Beitrag aus Perspektiven von Queer Studies und der Geschichte der Homosexualitäten von besonderem Interesse: Stefan Wünschs Aufsatz über den Berliner Damenimitator Anton Sander, dem Anfang der 1930er Jahre vorgeworfen wurde, seine Frau zur Prostitution gezwungen zu haben. Darüber hinaus erwähnt lediglich der Beitrag von Susanne Dodillet Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden homosexuelle Prostitution und heterosexuelle Prostitution mit Kundinnen und männlichen Prostituierten: Dodillet erläutert, dass die schwedische Debatte über Prostitution, die schließlich 1999 zu einer Strafbarkeit des Kaufs sexueller Dienstleistungen von Frauen für Männer geführt hat und die gesellschaftliche Durchsetzung dieser neuen Gesetzesnorm bis heute begleitet, sich überwiegend auf heterosexuelle Prostitution mit Kunden von weiblichen Prostituierten konzentriert habe, da mann-männliche Prostitution als Teil der "männliche[n], homosexuelle[n] Kultur" und damit als eher unproblematisch angesehen wird, während lesbische Prostitution und heterosexuelle Prostitution mit Kundinnen und männlichen Prostituierten als kaum existent gilt. Dodillet ist damit auch die Einzige, die überhaupt auf lesbische Prostitution eingeht; das Stereotyp der lesbischen Prostituierten wird in keinem der Texte erwähnt. In dieser Rezension werden angesichts der betrachteten Themen nur die Beiträge von Martin Lücke und Stefan Wünsch näher vorgestellt.

Martin Lücke untersucht in seinem Beitrag Beschmutzte Utopien. Subkulturelle Räume, begehrte Körper und sexuelle Identitäten in belletristischen Texten über männliche Prostitution 1930-1933 am Beispiel dreier Romane, wie in belletristischer Literatur des späten Kaiserreiches und der Weimarer Republik homosexuelle Identität konstruiert wurde und welche Angebote die Texte zur Identitätsfindung für männerbegehrende Männer unterbreiteten. Lücke analysiert den 1908 anonym erschienenen Roman Liebchen - Ein Roman unter Männern, John Henry Mackays Der Puppenjunge aus dem Jahr 1926 und Friedrich Radszuweits 1931 veröffentlichten Roman Männer zu verkaufen, drei Texte, in denen sich "'Homosexuelle' und männliche Prostituierte [...] als literarische Figuren an den verborgenen Orten der männlichen Prostitution begegneten" (S. 303). Die Texte wendeten sich in erster Linie an eine homosexuelle Leserschaft, griffen Identitätskonzepte der Sexualwissenschaft auf "und arbeiteten sie in eine literarisch erfahrbare Form um" (S. 304). Lücke untersucht die Texte hinsichtlich homosexueller Identitätsmodelle und der Funktion der literarischen Formung der männlichen Prostitution. Seine drei zentralen Fragen richten sich auf die Codierung der Orte der männlichen Prostitution als subkulturelle Räume, die Markierung der Körper der männlichen Prostituierten als begehrte Körper und die Positionierung der "Homosexuellen" gegenüber Prostituierten im Sinne von Identitätsbildung. Warum er gerade diese Texte ausgewählt hat, etwa, ob es sich um die einzigen längeren Texte handelt oder sie die am weitesten verbreiteten waren, erläutert Lücke nicht explizit. Auch bleibt offen, wie groß die Zahl der Texte, die sich mit mann-männlicher Prostitution beschäftigten, insgesamt war und welche Stellung die ausgewählten Texte in diesem Textcorpus hatten, etwa als Vorbildtexte oder "Meistererzählungen". Ebenso wäre eine Einordnung der Texte in einen Zusammenhang von zeitgenössischer Literatur, die sich allgemein mit mann-männlicher Sexualität beschäftigt, wünschenswert, um die Bedeutung der Texte und des Themas Prostitution erfassen zu können.

Der 1908 anonym erschienene Roman Liebchen - Ein Roman unter Männern steht in direktem Bezug zur Eulenburg-Affäre und schildert ein ähnliches Szenario. Zeitgenössische Theorien über gleichgeschlechtliches Begehren von Männern werden im Roman in einem Gespräch eines Freundeskreises gebildeter Männer thematisiert. Sexuelles Begehren und praktizierte Sexualität bleiben ausschließlich auf die subkulturelle Welt beschränkt, während der Freundeskreis entsexualisiert dargestellt wird. Seine sexuelle Erregung macht den Protagonisten zu einer hilflosen und Mitleid erregenden Figur, in der Begegnung mit einem Prostituierten verschiebt sich die Machtbalance zugunsten des Prostituierten, dessen Machtressourcen Körper und Männlichkeit sind und der im Gegensatz zum Protagonisten nicht sexuell erregt ist und damit stark erscheint. Im Roman wird die Subkultur als Gegensatz zur bürgerlichen Welt entworfen, als Ort, an dem sexuelles Begehren gestillt werden kann, aber an dem auch Gefahr droht. Der Puppenjunge, 1926 von John Henry Mackay unter dem Pseudonym Sagitta als letztes Werk der Reihe Bücher der namenlosen Liebe veröffentlicht, ist einer der populärsten Romane zum Thema mann-männliche Prostitution. Mackay schildert den Versuch eines 26-Jährigen, zu einem 15-Jährigen Prostituierten eine Beziehung aufzubauen. Die Geschichte spielt an realen Plätzen der homosexuellen Berliner Subkultur, nebst Razzien in Prostituierten-Lokalen, die Mackay aber vermutlich dramatischer geschildert hat, als sie waren. Im Roman wird sexuelles Begehren eines erwachsenen Mannes zu einem Jugendlichen als "schamhafte Liebe" und damit als vorbildliche Begehrensform dargestellt. Der Protagonist erscheint entsexualisiert, "rein", kulturbeflissen, ernsthaft an einer Freundschaft interessiert. Die Sexualität des sich prostituierenden Jugendlichen wird nur bei Sex mit anderen Männern thematisiert: Er geht aus materiellem Interesse anschaffen, hat keinen Spaß am Sex und ekelt sich schließlich davor. Im Roman wird das Begehren eines Mannes zu einem Jugendlichen explizit als "natürlich" dargestellt und ausdrücklich die Vorstellung von homosexuellen Männern als effeminiertes drittes Geschlecht im Sinne der Hirschfeldschen Zwischenstufentheorie abgelehnt. Friedrich Radszuweits Roman Männer zu verkaufen von 1931 ist eine Erpressungsgeschichte. Zwei heterosexuelle Brüder besuchen als vermeintlich objektive Beobachter die homosexuelle Subkultur Berlins. Die Prostituiertenlokale erscheinen abstoßend und bedrohlich, als Gegenentwurf wird die Welt der Homosexuellen-Verbände präsentiert: Hier stoßen die beiden Erkunder auf anständige Menschen, langjährige Beziehungen, gleichaltrige Paare und klare Geschlechterrollen. Die Abwertung und Ausgrenzung der mann-männlichen Prostitution korrespondiert, wie Lücke hervorhebt, mit Radszuweits politischen Zielen, eine Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität unter erwachsenen Männern bei gleichzeitiger Strafbarkeit von Prostitution zu erreichen. Lücke unterstreicht, dass Radszuweit eine heteronormative Folie verwendet, um positive homosexuelle Leitbilder zu präsentieren: Treue, Geschlechternormen, Gleichaltrigkeit. Wünschenswert wäre eine klarere Benennung des Bildes vom "anständigen Homosexuellen" gewesen, das die Freundschaftsverbände der Weimarer Republik unter Ausgrenzung anderer Gruppen vertraten. Dieses Bild war nicht Radszuweits Erfindung, sondern war schon entwickelt, bevor Radszuweit 1923 den Vorsitz des Bundes für Menschenrecht als größter Homosexuellen-Organisation der Weimarer Republik übernahm. Radszuweit verstärkte das Bild und verbreitete es mit seinen Zeitschriften weiter. Der Roman war also primär ein Versuch, politische Ziele auch literarisch zu verarbeiten und damit Geld zu verdienen. Bedauerlich ist, dass Lücke sich in Bezug auf die Hintergrundinformationen zu Friedrich Radszuweit und dessen Adoptivsohn Martin Butzow-Radszuweit auf die lückenhaften und zum Teil fehlerhaften Ausführungen in Bernd Ulrich Hergemöllers Mann für Mann und nicht auf treffendere biographische Angaben stützt. Zusammenfassend stellt Lücke fest, dass Prostitution in den literarischen Texten als das "Andere" half, Homosexualität als das "Eigene" erfahrbar zu machen. Homosexualität werde in den Romanen zwischen sexueller Triebhaftigkeit und sozialverträglicher Sexualitätsform verortet. Wolle man eine zeitliche Entwicklung ausmachen, zeige sich eine Tendenz der Darstellung von Homosexualität hin zu einer sozialverträglichen Sexualitätsform, die nur möglich sei durch das Unsichtbarmachen des Sexuellen und geschlechtlich Devianten. Prostitution werde gegenüber der "echten Homosexualität" abgegrenzt und diene als Erfahrungsraum für Lust und Begehren.

Stefan Wünsch beschäftigt sich in Die Familie Sander. Prostitution, Zuhälterei und Justiz in der späten Weimarer Republik mit einem Strafverfahren gegen Anton Sander (Jg. 1903), dem vorgeworfen wurde, seine Frau Lissy (Jg. 1905) zur Prostitution gezwungen zu haben. Wünsch, der einen mikrohistorischen Ansatz verfolgt, sieht den Fall als bedeutend ("einzigartig") an, weil hier das Aufeinandertreffen des hegemonialen Geschlechterbildes und eines konkurrierenden Entwurfs von zentraler Bedeutung sei, da Sander zum einen bestritt, eine männliche Person zu sein, und seiner Frau zum anderen ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zubilligte. Anhand der Ermittlungs- und Prozessakten rekonstruiert Wünsch die Biographien der beiden Eheleute in Grundzügen: Anton Sander arbeitete als Damenimitator und Tänzerin in verschiedenen Kabaretts, Bars und Homosexuellen-Lokalen in Hamburg und Berlin, u.a. im Berliner Mikado. Seine spätere Ehefrau Lissy hatte in Hamburg als Kontoristin in einem Zeitungsbüro und in einem Kabarett gearbeitet. 1926 hatten sich die beiden kennengelernt, im gleichen Jahr war Lissy Sander schwanger geworden. Anton Sander ging 1926 oder 1927 nach Berlin, seine Frau folgte 1929. In Berlin soll Lissy Sander nach Aussagen Bekannter einen erheblichen Teil des Familieneinkommens durch Prostitution bestritten haben, da Anton Sander wegen seiner Drogenabhängigkeit kaum zum Unterhalt der dreiköpfigen Familie habe beitragen können. Auch ihm wurde nachgesagt, er lebe von Prostitution. Die Ermittlungen kamen ins Rollen, weil ein Bekannter, dem Anton Sander Geld für Damenschuhe schuldete, ihn wegen Unterschlagung und Zuhälterei bei der Polizei anzeigte.

Sander gibt bei der Polizei und vor Gericht an, homosexuell veranlagt zu sein und daher wenig Geschlechtsverkehr mit seiner Frau zu haben. Damit seine Frau sexuelle Befriedigung finde, habe sie gelegentlich mit anderen Männern Sex, allerdings nicht für Geld. Sanders Anwalt legt in diesem Zusammenhang dar, dass Sander als Transvestit keine männliche Person sei, Zuhälterei nach § 181a StGB sei aber nur für Männer strafbar. Das Gericht seinerseits sieht Sanders Männlichkeit durch die Zeugung eines Kindes unter Beweis gestellt. Ein vom Anwalt durchgesetztes amtsärztliches Gutachten zur Geschlechtlichkeit Sanders, das Sander ein "konträres Sexualempfinden" bescheinigt, wird vom Gericht in der Urteilsbegründung nicht herangezogen. Im Laufe des Verfahrens wechseln die Sanders die Strategie und argumentieren schließlich in Bezug auf Haftverschonung und Haftentlassung - wie zahlreiche Personen in ähnlichen Situationen - mit der drohenden Beeinträchtigung des Familienglücks.

Stefan Wünsch sieht in Anton Sanders Verteidigungsstrategie ein "Spiel mit der Norm", das das Gericht überfordert habe. Beide von Wünsch als einzigartig hervorgehobenen Topoi, die nicht-männliche Geschlechtsidentität Sanders und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung der Frau, sind für die Zeit und den Kontext entgegen Wünschs Annahme nichts Ungewöhnliches, auch im Kontext mit Strafprozessen in Zusammenhang mit gleichgeschlechtlichen Handlungen oder Transvestismus: Zum Ersten hebt Wünsch selbst hervor, dass ein staatlich gebilligter "Geschlechtswechsel" Ende der Weimarer Republik (in Berlin) möglich war, wenn er erwähnt, dass Sander nicht als "Transvestit" registriert war, das Phänomen Transvestismus dem Gericht also durchaus bekannt war. Das Gericht reagiert mitnichten hilflos auf den Versuch Sanders, mittels der Zurückweisung seiner Männlichkeit der Strafverfolgung entgehen zu können, sondern lässt sich vielmehr genau auf diese Argumentationsebene ein und liefert mit Sanders Zeugungsfähigkeit ein vermeintliches Gegenargument. Zum Zweiten verweist Wünsch selbst auf die Sexualreformbewegung der Weimarer Republik, die auch sexuelle Selbstbestimmung für Frauen forderte, die Vorstellung war also nicht ungewöhnlich. Zum Dritten spielen die genannten Topoi Geschlechtsidentität von Homosexuellen, Transvestiten, homosexuellen Transvestiten oder Damenimitatoren, deren "Möglichkeit, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen" und das Recht von deren Ehefrauen auf sexuelle Befriedigung in vielen Verfahren in der Weimarer Republik und während der NS-Herrschaft, die mit gleichgeschlechtlichem Begehren und Transvestismus zu tun haben, eine Rolle. Wünsch betrachtet hier zweifelsohne einen interessanten Einzelfall, bewertet ihn jedoch über. Interessant wäre es zu fragen, ob sich die Negation einer eigenen männlichen Geschlechtsidentität Ende der Weimarer Republik als Verteidigungsstrategie herausbildete oder ob sie ältere Wurzeln hat. Ebenso stellt sich die Frage, ob dies eine bloße Verteidigungsstrategie, die allerdings den Verzicht auf zahlreiche Privilegien beinhaltete, oder Ausdruck eigener Identitätskonstruktionen war. Wünsch kann diese Fragen nicht beantworten, weil er zum einen die Aussagen in den Quellen nicht im Kontext ihres Produktionsprozesses betrachtet und zum anderen nicht nach dem Selbstbild Anton Sanders fragt: Bei seiner Betrachtung gerät Wünsch aus dem Blick, dass es sich bei der Auseinandersetzung der Sanders mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht nicht um einen Meinungsstreit zwischen Gleichen handelt, sondern dass Sander vor der Polizei und vor Gericht im Kontext eines Strafverfahrens, das ihn mit Gefängnis bedroht, aussagt, seine Aussagen und die Einlassungen seines Anwalts dienen dementsprechend seiner Entlastung, können also Schutzbehauptungen sein. Darüber hinaus sind Sanders Aussagen, wie bei Verhören üblich, meist durch andere wiedergegeben. Welche Selbstbezeichnung Sander verwendet, welches Identitätskonzept er für sich angenommen hat, ob er im Alltag Frauenkleidung trägt, wie Anton und Lissy Sander ihre Beziehung begreifen, erfahren wir nicht, obwohl Wünschs Formulierungen suggerieren, es handele sich bei den Aussagen um Sanders Selbstbeschreibungen. Gerade das interessante Spannungsfeld der Definitionen von Homosexualität, Transsexualität und Transvestismus, das sich während der 20er Jahre eröffnet, wird in dem Beitrag nicht näher beleuchtet, Wünsch stellt aber interessantes Material zur Verfolgung dieses Aspektes vor.




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