Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Liebe Leserinnen und Leser!

Vor 10 Jahren fand in Berlin im Schwulen Museum eines der ersten Jahrestreffen des Fachverbandes Homosexualität und Geschichte (FHG) statt. Auf jenem Treffen ging es unter anderem darum, ein wissenschaftliches Publikationsorgan zu begründen, in dem die Mitglieder des FHG und darüber hinaus alle, die sich mit der Erforschung der Geschichte der Homosexualitäten beschäftig(t)en, ihre Arbeits- und Forschungsergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit unterbreiten könnten. Es gab damals schon Capri, herausgegeben von Manfred Herzer, in dem in unregelmäßiger Folge Ergebnisse der homosexuellen Geschichtsforschung publiziert wurden. Bemühungen. ein gemeinsames neues wissenschaftliches Organ oder ein erweitertes Capri zu initiieren, scheiterten an konzeptionellen Differenzen und personellen Unvereinbarkeiten. In der Konsequenz ist Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten entstanden, erstmals erschienen im Herbst 1999. Der vorliegende Band trägt die Nummer 10 – ein Anlass für Rückblick und Ausblick.

Soweit wir sehen, ist Invertito weltweit die einzige wissenschaftliche Zeitschrift, die sich auf die Erforschung der Geschichte der gleichgeschlechtlichen weiblichen und männlichen Liebe, Erotik und Sexualität konzentriert. Allenfalls Capri und – mit engerem thematischen Schwerpunkt – die Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft haben und realisieren ähnliche Zielsetzungen. In zehn Jahrgängen sind mehr als sechzig größere und kleinere Artikel zu allen Bereichen der Geschichte der Homosexualitäten erschienen, mit geographischem Schwerpunkt Deutschland, Österreich und Schweiz. Der zeitliche Schwerpunkt liegt im 19. und 20. Jahrhundert, mehrere Texte gehen jedoch in die Frühe Neuzeit und andere bis ins Mittelalter zurück. Allein die Antike blieb bisher unberücksichtigt. Darüber hinaus erschienen mehr als siebzig Rezensionen, mit ähnlichen inhaltlichen Schwerpunkten. Der Anspruch, lesbische Geschichte gleichgewichtig mit der Geschichte der männlichen Homosexualitäten darzustellen, konnte – wie schon mehrfach an dieser Stelle angesprochen und bedauert – nicht realisiert werden, weil Beiträge über gleichgeschlechtliches Begehren von Frauen nur in geringer Zahl eingereicht werden. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden. Die Redaktion strebt das Ziel der Ausgeglichenheit weiterhin an und bittet nach wie vor um Unterstützung in dieser Hinsicht. Haben wir nun mit Invertito erreicht, was wir erreichen wollten? Allein die Tatsache, dass Invertito seit 10 Jahren erscheint und sich ohne Sponsoren oder Werbeeinnahmen selbst finanziert, ist schon ein beachtlicher Erfolg. Invertito eröffnet Publikationsmöglichkeiten für Forschungsergebnisse zu Themen, die im üblichen akademischen Betrieb zu kurz kamen und noch immer nicht genügend Beachtung finden. Die Möglichkeit, in Invertito zu publizieren, war mehr als einmal Voraussetzung für wissenschaftliche Anstrengungen, die sonst nicht unternommen worden wären. Auch ist es Invertito gelungen, eine Plattform für wissenschaftliche und geschichtspolitische Kontroversen zu bieten, Initiativen. Archive und erfolgreich realisierte Projekte vorzustellen und so vielleicht auch zum eigenen Forschen und zur eigenen Initiative anzuregen. Diese Möglichkeit offen zu halten, lohnt die Anstrengungen, die Autorlnnen, Redaktion, Verlag und Vertrieb jedes Jahr erneut auf sich nehmen. Oft werden mehr Beiträge eingereicht, als wir abdrucken können, obwohl der Umfang unserer Zeitschrift im Laufe der Jahre gewachsen ist.

Heute ist Invertito in zahlreichen deutschen Universitätsbibliotheken und auch in verschiedenen Nationalbibliotheken erhältlich. Invertito wird in den Forschungsfeldern Sexualitätsgeschichte und Gender Studies im deutschsprachigen Raum und international beachtet und durchaus häufig werden in unserer Zeitschrift erschienene Artikel angeführt, trotzdem könnte Invertito im allgemeinen universitären Wissenschaftsbetrieb und gerade in den Publikationen von und für homosexuelle LeserInnen stärker wahrgenommen werden. Die Auflage von 600 Exemplaren ist für eine wissenschaftliche Zeitschrift nicht gering, die Anzahl der Abonnenten stagniert jedoch auf dem Stand von vor acht oder zehn Jahren. Wir halten deshalb eine systematische Werbung und Vertriebsförderung für nötig, die allerdings von der Redaktion nicht zusätzlich zur inhaltlichen Arbeit übernommen werden kann. Insofern wären wir glücklich, wenn sich Personen bereit erklären würden, ihre Ideen und Arbeitskraft in diesen für die Zeitschrift überlebensnotwendigen Bereich einzubringen und damit das Erscheinen von Invertito für mindestens die nächsten zehn Jahre sicherzustellen. Gleiches gilt auch für die Betreuung der Website des FHG www.Invertito.de, um diese zu einem Forum für Menschen auszubauen, die an der Geschichte gleichgeschlechtlichen Lebens interessiert sind.

Wenden wir nun unseren Blick auf den vorliegenden Band von Irrvertito, der wieder lesenswerte Texte und Rezensionen zu verschiedenen Aspekten der Geschichte der Homosexualitäten bietet. Zwei Artikel beschäftigen sich mit der Weimarer Zeit: Stefan Micheler gibt einen Überblick über die zum Teil nach wie vor schwer durchschaubare Geschichte der Organisationen homosexueller Männer und Frauen im Deutschland der 20er und 30er Jahre; die Männlichkeitskonzepte zweier wichtiger Repräsentanten der Homosexuellenbewegung und Vertreter unterschiedlicher Strömungen in dieser Zeit untersucht Martin Lücke (Stefan Micheler: Freundschaftsverbände und Martin Lücke: Die Konstruktion homosexueller Männlichkeiten bei den Homosexuellen-Aktivisten Friedrich Radszuweit und Richard Linsert). Mirko Nottscheid legt eine biografische Skizze zu Joachim S. Hohmann vor, einem Pionier der Erforschung nicht nur der homosexuellen Geschichte, ergänzt durch eine nach heutigem Stand umfassende erste Bibliografie der Schriften Hohmanns. Den Skandal um den Film Anders als Du und ich von Veit Harlan, der 1957 in die Kinos kam, analysiert Frank Ahland auf Grundlage neu veröffentlichter Quellen. Régis Schlagdenhauffen beschäftigt sich schließlich mit der Berücksichtigung des Gedenkens an homosexuelle Opfer in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem. Berichte, eine Archivvorstellung und Rezensionen runden den Inhalt ab.

Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre und bedanken uns für zehn Jahre Treue zu unserem und ihrem Projekt Invertito.

Die Redaktion




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