Wolfram Setz (Hg.)
Homosexualität in der DDR

Materialien und Meinungen (Bibliothek rosa Winkel, Band 42), Hamburg: Männerschwarm Verlag 2006, 288 S., € 14,00

Cover

 

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 9 (2007)

Die Bibliothek rosa Winkel, herausgegeben von Wolfram Setz, macht seit mehr als 15 Jahren Texte unterschiedlichster Art zur Geschichte und Gegenwart homosexuellen Lebens zugänglich oder wieder zugänglich. Band 42 beschäftigt sich mit der Geschichte der "Homosexualität in der DDR". Der Untertitel grenzt ein auf "Materialien und Meinungen" und die Vorbemerkung des Herausgebers macht klar, dass die vorgelegten Texte sich hauptsächlich mit männlicher Homosexualität beschäftigen. Eine Begründung für die weitgehende Ausblendung der weiblichen Homosexualität fehlt.

Die Geschichte der DDR ist eine abgeschlossene Epoche der deutschen Geschichte; ein geschichtswissenschaftliches Urteil über diese Epoche, diesen Staat und – logischerweise – die Homosexualität in diesem Staat kann sicher noch nicht gefällt werden, aber dass der Herausgeber des vorliegenden Bandes "das Wissen und Wollen, am Aufbau einer neuen, damals selbstverständlich sozialistisch verstandenen Gesellschaft mitzuwirken", als "das grundlegend Andere in der Geschichte der Homosexuellen in der DDR" ansieht, macht doch einigermaßen ratlos; zu dieser Einschätzung passt, dass er von der Gesellschaft der DDR als einer "bis zum Schluss immer noch im Aufbau befindlichen sozialistischen Gesellschaft" spricht. Es ist nicht klar, welches Sozialismus-Konzept ihm vorschwebt – ein Modell für den Aufbau eines demokratischen sozialistischen Staates war die DDR eher nicht.

Über die "gewöhnlichen" Homosexuellen (Männer und Frauen) der DDR ist wenig bekannt, sie werden wohl so angepasst oder so unangepasst wie die Mehrheit der DDR-Bevölkerung gewesen sein. Bisherige Veröffentlichungen zeigen, dass die Homosexuellenbewegung der DDR zum größten Teil nicht staatsfeindlich eingestellt war, sich als Bewegung aber nur im Rahmen der sich in den 1980er Jahren herausbildenden, geduldeten Opposition formieren konnte. Sie verlangte Gleichberechtigung innerhalb des Systems, was vom Regime jedoch als Forderung nach Sonderrechten interpretiert und entsprechend sanktioniert wurde. Untersuchungen dazu, ob und wie weit sich ein Teil der Homo-Aktivisten und -Aktivistinnen mit dem real existierenden Sozialismus identifizierte, gibt es nicht; Aussagen darüber, dass viele Lesben und Schwule in einem "demokratischeren und humaneren Sozialismus" (Bert Thinius im vorliegenden Band, S. 10) die Voraussetzung für ihre Emanzipation sahen, gibt es hingegen schon. Demokratie und Humanität waren, so scheint es zumindest aus heutiger Sicht, nur durch eine grundlegende Veränderung des Systems, nicht mit ihm und nicht in ihm durchzusetzen. Das Leben in einer Diktatur und die Notwendigkeit, in einem unfreien System gegen ein repressives Regime um selbstverständliche politische Rechte und um homosexuelle Selbstfindung zu kämpfen – das ist nach Ansicht des Rezensenten "das grundlegend Andere" in der Geschichte der homosexuellen Männer in der DDR. Dass sie mit dem Zusammenbruch der DDR ein System bekamen, das sie so vielleicht auch nicht wollten, steht auf einem anderen Blatt. Das Leben lesbischer Frauen in der DDR ist differenzierter zu betrachten: Die im Vergleich zur BRD weiter entwickelte Gleichberechtigung von Frauen besonders im Berufsleben, verbunden mit einem gut ausgebauten System der Kinderbetreuung, bot ihnen, bei aller Einschränkung der politischen Rechte, im privaten Bereich möglicherweise mehr Chancen, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu realisieren, als sie sie heute haben, angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Niedriglöhnen.

Der vorliegende Band vereint Wiederabdrucke und erstmals publizierte Texte. Zu Ersteren gehört der Beitrag von Bert Thinius "Erfahrungen schwuler Männer in der DDR und in Deutschland Ost", ein skizzenhafter, leicht gekürzter, immer noch lesenswerter Überblick über viele Gesichtspunkte homosexuellen Lebens in der DDR – vom Umgang des Staates mit den Homosexuellen über die Herausbildung und die Aktivitäten der Homosexuellenbewegung bis zur Forderung nach Rehabilitation der nach § 151 StGB der DDR verurteilten Männer und Frauen (Bestrafung sexueller Handlungen von Erwachsenen mit einem Jugendlichen gleichen Geschlechts).

Ebenfalls subjektiv und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber die umfassendste Darstellung dieser Art ist Olaf Brühls detailreiche Chronologie "Sozialistisch und schwul", die die Jahre von 1947 bis 1997 umfasst. Im Internet zugänglich ist eine ergänzte Darstellung (http://www.olafbruehl.de/chronik.htm) – Brühl selbst bezeichnet aber dort die im vorliegenden Band publizierte Version als "überarbeitet und korrigiert", wahrscheinlich muss man bei Interesse am Thema beide Zeittafeln zu Rate ziehen. Deutlich wird in dieser Chronik die Bedeutung von Literatur, Theater, Film und West-Fernsehen für die Herausbildung homosexuellen Selbstbewusstseins in einer Gesellschaft, in der der öffentliche Diskurs über Homosexualität weitgehend unterbunden wurde und die relativ kleinen Gruppen mutiger homosexueller Männer und Frauen ihre Aktivitäten nur in wenigen Zentren entfalten konnten. Als Bereiche, zu denen es bisher praktisch keine Informationen gibt, nennt Brühl unter anderem die Homosexualität in Jugendheimen, in Gefängnissen, in Armee und Marine sowie Statistiken zu Selbstmorden und antihomosexueller Kriminalität; außerdem beklagt er regionale Defizite in der Aufarbeitung der homosexuellen Geschichte der DDR. Zu ergänzen ist, dass der zeitliche Schwerpunkt der bisher publizierten Arbeiten zur Homosexualität in der DDR auf den 1980er Jahren liegt und allenfalls noch die 1970er Jahre behandelt werden. Die Zeit davor ist bislang weitgehend unbearbeitet.

Den Anstoß zur Bildung der "Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin" (HIB), der ersten homosexuellen Emanzipationsgruppe in der DDR (vorwiegend Männer, aber von Anfang an auch Frauen), gab – wie vielerorts in der BRD – die Fernsehausstrahlung des Praunheim-Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Peter Rausch, einer der Mitgründer der HIB, schildert aus eigenem Erleben den hoffnungsvollen Beginn der Arbeit und das aufgrund staatlicher Repression und verwehrter Öffentlichkeit fast zwangsläufige Scheitern der Gruppe. Umfangreiches Material zur Geschichte der HIB wird im Schwulen Museum Berlin aufbewahrt.

Trotz bzw. wegen der untersagten öffentlichen Diskussion des Themas Homosexualität und des nicht erlaubten Zusammenschlusses gab es Einzelkämpfer, die im Glauben an die Kraft der Argumente durch Briefe an Behörden und Zeitungen versuchten, Staat und Gesellschaft der DDR zu Aufgeschlossenheit und Akzeptanz gegenüber der homosexuellen Minderheit zu bewegen. Einer davon war Klaus Laabs, der unter dem Titel "In eigener Sache, maskiert" einen kurzen Bericht darüber für den vorliegenden Band beisteuert. Seine Hartnäckigkeit bezahlte er damit, dass er nach fünf Jahren Romanistik-Studium keine angemessene berufliche Stellung fand.

Einen literarischen Zugang zum Thema bietet Michael Sollorz ("Sozialismus mit Männer-Tanz"); der Text, eine Wiederveröffentlichung, soll hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden.

Mehr Interesse aus der Sicht des Historikers verdienen zwei weitere Beiträge: ein Interview Eike Stedefeldts mit dem ehemaligen Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Wolfgang Schmidt (vollständig zuerst in: Gigi. Zeitschrift für sexuelle Emanzipation, Heft 40, 2005, S. 8-13) und vor allem die auszugsweise Dokumentation einer Ausarbeitung, die ein in den Westen übergelaufener Mitarbeiter des MfS 1965 für einen westdeutschen Geheimdienst verfasst hat (zur Verfügung gestellt von Florian Mildenberger). Zielsetzung dieser Ausarbeitung eines homosexuellen Stasi-Mannes war, eine Typologie von nachrichtendienstlich einsetzbaren homosexuellen Männern zu entwickeln. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass sich "der Homosexuelle" "aufgrund seiner psychischen Struktur" insbesondere für Personenkontakte und Personenaufklärung eigne, wobei sein "Mitteilungsbedürfnis" negativ zu werten sei, andererseits könne aber seine Erpressbarkeit unter Umständen nachrichtendienstlich genutzt werden. Der anonyme Verfasser schildert anschließend an konkreten Beispielen das Vorgehen zur Informationsbeschaffung bei Homosexuellen, was sich jedoch methodisch kaum von dem unterscheidet, was über die Stasi-Praktiken aus anderen Quellen hinreichend bekannt ist.

Etwas aus dem Rahmen fällt der letzte Beitrag, eine biografische Skizze Florian Mildenbergers: "Günter Dörner – Metamorphosen eines Wissenschaftlers". Aufhänger ist die Auszeichnung Dörners mit dem Bundesverdienstkreuz (2002). Dörner war als führender Endokrinologe (Drüsen- und Hormonforscher) der DDR international anerkannt; aus Versuchen an Ratten zog er allerdings die unhaltbare Schlussfolgerung, Homosexualität könne durch Hormongaben an schwangere Frauen verhindert werden. Nach Dörner ist Homosexualität eine z.B. durch Stress hervorgerufene vorgeburtliche Fehlbildung, die während der Schwangerschaft diagnostizierbar und durch entsprechende Behandlung theoretisch zu verhindern sei. Mildenberger setzt sich detailliert und kritisch mit Dörners Methoden und seinem Homosexualitätsbild auseinander und stellt den wissenschaftshistorischen Zusammenhang mit Hormonforschungen der 1920er Jahre her.

Wie oben schon angedeutet, verspricht der Titel des vorliegenden Bandes in mehrfacher Hinsicht mehr als das Buch einhalten kann. Die heterogenen Texte, überwiegend bekannt und nicht besonders schwer zugänglich, ergänzt um einige bisher unveröffentlichte Materialien, dokumentieren jedoch in ihrer Gesamtheit durchaus wichtige Aspekte einer Geschichte der homosexuellen Männer bzw. der männlichen Homosexualität der DDR. Vier Seiten Literaturverzeichnis bieten die Grundlage zu umfassenderer Information und Weiterarbeit. Die Geschichte der "Homosexualität in der DDR" bleibt aber noch zu schreiben. Angesichts der genannten Forschungslücken ist es dafür wohl deutlich zu früh.




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