Matti Bunzl
Symptome der Moderne. Juden und Queers im Wien des späten 20. Jahrhunderts

(= Edition Parabasen, Bd. 2), Freiburg im Breisgau: Rombach Druck- und Verlagshaus 2004, 310 S., € 36,00 [Originalausgabe: Matti Bunzl: Symptoms of Modernity, Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press 2004]

Cover

 

Rezension von Timon B. Schaffer, Wien

Erschienen in Invertito 9 (2007)

Der Anthropologe Matti Bunzl widmet seine Aufmerksamkeit den beiden gesellschaftlichen Gruppen der Juden und der Queers – die sich selbstverständlich zum Teil überschneiden – in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts speziell in Wien. Unter Juden versteht Bunzl den sich selbst so bezeichnenden Teil der österreichischen Bevölkerung, unter dem Begriff Queers fasst er Personen mit einer nicht-heterosexuellen Identität zusammen; zu ihnen gehören Lesben und Schwule, aber auch Menschen mit Bi- oder Trans-Identität. Die Begriffe homosexuell/Homosexuelle beschränkt er auf gleichgeschlechtlich empfindende Menschen, die vorwiegend Objekt medizinischer, juristischer und nationaler Diskriminierung waren und sind. Bunzl sieht (unter Berufung auf George Mosse) in Juden und Queers "Symptome der Moderne", ohne die Zustandekommen und Stabilisierung von Nationalstaaten, des NS-Staates, aber auch der zweiten österreichischen Republik fraglich gewesen seien. Es bedürfe nämlich immer so genannter "Anderer" – wie etwa Juden oder Queers –, um die zu einende Gesellschaft zusammenzuschweißen. "Andere" im Sinne von "schwarze Schafe" – Gruppen von Menschen, die sich aufgrund ihrer Religion oder Sexualität oder anderer tatsächlicher oder zugeschriebener Merkmale von der Masse und vom angestrebten Idealtypus einer Gesellschaft abhöben. Die Anderen müssten als Sündenböcke herhalten, würden vom Staat für ihre Andersartigkeit bestraft, weggesperrt oder sogar getötet, von den Medien gehetzt und von den (meisten) Menschen gemieden und verachtet, so Bunzl.

Bunzls Buch ist ein Beitrag zur stetig wachsenden anthropologischen Erforschung der jüdischen und der homosexuellen Geschichte. Innovativ ist sein Ansatz, die Schicksale dieser beiden Gruppen nicht getrennt zu betrachten, sondern miteinander zu verknüpfen und gezielt nach Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zu suchen. Nach einer Methodenklärung (Feldforschung sowie Archivarbeit zwischen 1994 und 2001 als Basis der vergleichenden anthropologisch-ethnografischen Analyse der Entwicklungen von Juden und Queers) hält Bunzl fest, dass in seiner Studie nicht die Unterschiede, sondern vielmehr die kulturellen und geschichtlich-strukturellen Ähnlichkeiten der beiden auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Gruppen herausgearbeitet werden sollen – ganz im Sinne von Franz Boas' Form der Komparatistik übernimmt Bunzl die Theorie des Vergleichsverfahrens, welches sich auf die Feststellung von Ähnlichkeiten konzentriert. Mehrere Jahre lang arbeitete sich der Autor durch Archive, sammelte Berichte von ZeitzeugInnen und führte qualitative Interviews mit SpezialistInnen – mit den Direktoren des IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien), dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sowie Hannes Sulzenbacher (Besitzer einer umfassenden Quellensammlung zur schwul-lesbischen Geschichte Österreichs) –, um so einen Einblick in die (Wiener) jüdisch-homosexuelle Geschichte zu erlangen und Daten, Berichte, Erinnerungen aus erster Hand auswerten zu können.

Das erste Drittel des Buches ist der Unterdrückung gewidmet – der Verfolgung von Juden und Homosexuellen und dem Schweigen darüber. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts seien die "Anderen" dazu missbraucht worden, einen (groß–)deutschen Nationalismus zu schaffen und aufrechtzuerhalten – Homophobie und Antisemitismus gelten so für den Autor als Symptome der Moderne, die von den Machthabern zur Beeinflussung und Steuerung des Volkes eingesetzt worden seien. Homosexuelle und Juden seien zu Feinden des Nationalstaates proklamiert und für sämtliche Fehler und Unstimmigkeiten im System verantwortlich gemacht worden. Besonders in Österreich habe sich die politische Engstirnigkeit gegenüber den beiden Gruppen lange gehalten und so die Entfaltung einer jüdischen oder homosexuellen Kultur im Gegensatz zu anderen europäischen Metropolen lange Zeit behindert, so der Autor. Zwar hätten sowohl Homophobie als auch Antisemitismus sehr alte historische Wurzeln, über deren Kontinuitäten zur Moderne gebe es aber unterschiedliche und kontroverse Auffassungen. Bunzl selbst konzentriert sich auf die Gruppe der Juden und Homosexuellen Mitteleuropas, die "in ihrer modernen Konfiguration im späten 19. Jahrhundert in Erscheinung getreten" seien – in diesem Sinne nicht als historische Koinzidenz zu betrachten, sondern als Auswirkung des Nationalismus. Der Autor räumt ein, dass es auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag, die Entstehung des modernen Judentums, aber auch des Judenhasses im 19. Jahrhundert anzusetzen, doch argumentiert er, dass der Antisemitismus im 19. Jahrhundert sich vor allem dadurch von seinen Vorläufern unterscheide, dass seit dieser Zeit eine ausgeprägte Rassenidee dahinterstehe; das Judentum werde seitdem nicht mehr religiös oder kulturell definiert, sondern vielmehr biologisch. Homosexuelle seien ebenfalls ab Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts – hier bezieht sich Bunzl stark auf Mosses Nationalism and Sexuality – vielfach als eigene Spezies angesehen worden, als "physisch deformierte Perverse", deren Ziel es sei, die Reproduktionsfähigkeit des Volkes zu untergraben und die daher auszugrenzen und zu verfolgen seien. Beide Gruppen seien etwa zeitgleich im 19. Jahrhundert im Rahmen des Nationalismus zu geächteten "Nebenprodukten" des sich verdichtenden gesellschaftlichen Normierungsprozesses geworden. Die moderne Existenz der Juden und Queers als Gruppen und ihre Instrumentalisierung seien also für die Begründung und Legitimierung der Nationalstaaten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts unerlässlich gewesen und auch für die Entstehung und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Bunzl beschreibt, dass auch die zweite Republik Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg sich u.a. über die Ausgrenzung der Juden und Homosexuellen definierte – sei es durch die Nicht-Anerkennung ihrer unter dem NS-Regime erlittenen Leiden oder durch rechtliche Benachteiligungen (besonders der Homosexuellen – aber auch der Juden, z.B. in Hinblick auf Entschädigungszahlungen). Besonders in den 1950er und 1960er Jahren stellte sich Österreich gern als Hitlers erstes Opfer dar. Um diese von vornherein von kritischen Bevölkerungsteilen und internationalen Beobachtern sehr skeptisch wahrgenommene Fiktion nicht zu gefährden, hätten – so Bunzl – die wahren Opfer keinen Platz in der Öffentlichkeit gehabt und seien nicht nur ausgeblendet und ignoriert, sondern auch aktiv schweigsam gehalten worden, indem ihnen kein öffentliches Forum (z.B. in den Massenmedien) zur Verfügung gestellt worden sei. Dies habe bis in die 1970er Jahre einen Rückzug vieler Wiener Juden und Queers ins Private zur Folge gehabt – die "Andersartigkeit" wurde lieber in kleinen vertrauten Kreisen zelebriert als öffentlich zur Schau gestellt (bis in die 1970er Jahre herrschte in Österreich noch das "Totalverbot" homosexueller Handlungen nach § 129 I b des Strafgesetzbuches).

Im zweiten großen Kapitel des Buches geht es um den Widerstand – also die Zeit ab etwa Mitte der 1970er Jahre, als eine nächste Generation von "Anderen" sich nicht mehr mit der Zurückdrängung ins Private zufriedengeben wollte und vermehrt die Öffentlichkeit suchte, zu provozieren und vor allem für ihre Rechte zu kämpfen begann. Als wegweisende Beispiele hierfür werden etwa auf Seiten der Queers die Entstehung öffentlicher Lokale für Homosexuelle, die Gründung der HOSI (Homosexuelle Initiative Wien) oder die seit 1996 jährlich stattfindende Regenbogenparade genannt, seitens der Juden die vermehrt kritisch in der Öffentlichkeit auftretenden jüdischen Intellektuellen, Demonstrationen zur Durchsetzung jüdischer Anliegen und zunehmendes politisches Engagement der IKG (Israelitische Kultusgemeinde Wien). Trotz der zu Beginn vehementen und zahlreichen Versuche von Staat und Behörden, vor allem Queers aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, hätten beide Gruppen sich nicht beirren lassen und sich im Verlauf der Jahre etablieren, teilweise auch rechtliche Änderungen durchsetzen und größere und kleinere politische Erfolge (etwa einen offen schwulen Abgeordneten und eine offen lesbische Abgeordnete im österreichischen Parlament) verzeichnen können. Seit Ende des NS-Terrors war eine offene Unterdrückung oder Zurückdrängung von Juden zum Glück nicht mehr denkbar, anders als im Fall der Queers – für Bunzl, der die Geschichte der Juden und Queers nicht als ident ansieht, aber strukturelle Ähnlichkeiten ihrer Entwicklung herausarbeiten möchte, ein Beispiel für Unterschiede im historischen Entwicklungsverlauf. Spätestens seit den 1990er Jahren, so Bunzl, seien die Juden und Queers im Wiener Stadtbild (wieder) so etabliert, dass eine erneute Verdrängung bzw. ein Ignorieren ihrer Kulturen undenkbar geworden sei.

Der dritte Teil des Buches widmet sich in erster Linie dem Gedenken an jüdische und homosexuelle Personen – etwa Sigmund Freud und Theodor Herzl –, der Gründung von Museen und der Errichtung von Denkmälern, der Inszenierung von Bällen, Festen, Paraden und anderen – oberflächlich betrachtet – ausschließlich der Unterhaltung dienenden Veranstaltungen. Bunzl hebt an dieser Stelle jedoch hervor, dass all diese Bemühungen nicht nur dem Amüsement, sondern vielmehr der Schaffung neuer Diskurse und der fixen Positionierung der Juden und Queers im Gesellschaftsbild der Wiener (bzw. österreichischen) Bevölkerung dienten. Obwohl diese politisch-sozialen Erfolge mit neuen Verordnungen der EU, z.B. der Abschaffung homosexuellenfeindlicher Paragrafen u.a. in Österreich, und einem drastischen Wandel der journalistischen Berichterstattung über Juden und Queers einhergingen, ist der "tiefgreifende gesellschaftliche Wandel im späten 20. Jahrhundert", wie Bunzl ihn nennt, bei weitem noch nicht am Ziel angekommen (und auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht vollendet). Zwar gelten beide Gruppen zu Beginn des 21. Jahrhunderts als nicht mehr wegzudenkende Bestandteile der Wiener, österreichischen und europäischen Gesellschaft, und homosexuelle Gleichberechtigung schreitet voran, doch wird vor allem gleichgeschlechtlich liebenden Männern und Frauen auch heute immer noch mit Skepsis und Diskriminierung begegnet. In Österreich fehlen etwa eine staatlich akzeptierte gleichgeschlechtliche Partnerschaft, Adoptionsrecht etc.

In seinem Nachwort unterstreicht Bunzl als zentrale Aussage seiner Studie, dass Juden und Queers sich spätestens in der Postmoderne von "Objekten der Unterdrückung" zu etablierten, nicht mehr wegzudenkenden Bestandteilen der Gesellschaft gewandelt hätten. Bunzl warnt jedoch gleichzeitig, dass sich ein Trend abzeichne, "neue Andere", nämlich vorwiegend Moslems, aus dem sich auch politisch immer deutlicher etablierenden Europa zunehmend auszuschließen. Er ruft dazu auf, wachsam die sich immer stärker herausbildenden Strömungen und Ausprägungen der Ausgrenzung (teilweise unmittelbarer Nachbarn) zu verfolgen, um einer erneuten negativen Instrumentalisierung von "Symptomen der (Post-)Moderne" rechtzeitig entgegensteuern zu können.

Alles in allem handelt es sich um ein interessantes Werk für Personen, die mit der Materie wenig vertraut sind – aufgrund von Stil und Thematik ideal als Einstiegslektüre. Die Spezialisierung auf die Juden und Homosexuellen von Wien beschränkt zwar die Erkenntnis, die man aus der Lektüre ziehen kann, jedoch werden vom Autor an einigen Stellen interessante Querverweise geliefert, und besonders für angehende AnthropologInnen oder Gender-ForscherInnen kann Bunzl mit dieser Studie eine übersichtliche Analyse bieten.




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