Volker Woltersdorff:
Coming Out

Die Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung, Frankfurt/Main: Campus 2005, 300 S., € 24,90

Cover

 

Rezension von Antke Engel, Hamburg

Erschienen in Invertito 8 (2006)

In Zeiten vielfältiger und flexibler sexueller Lebensweisen der Metro- und Neosexualitäten - dies jedenfalls suggeriert der mediale Diskurs - scheint Coming-out ein altmodisches Modell, das überkommenen Identitätsvorstellungen verhaftet ist. Tatsächlich hat das Coming-out sein ungebrochenes Befreiungsversprechen auch innerhalb der lesbischen und schwulen Communities schon vor geraumer Zeit eingebüßt: Kritisiert worden sind von translesbischwul lebenden Menschen sowohl die Normen, die jemand erfüllen muss, um den Anforderungen der Community gerecht zu werden und das eigene Out-sein anerkannt zu finden, als auch die Entwertung all derjenigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, gegen ein Coming-out entscheiden. Mit dem Aufkommen der Queer Theory und poststrukturalistischer Identitätskritik stellte sich zudem die Frage, ob der Rekurs auf lesbische oder schwule Identitäten nicht die Opposition von Hetero- und Homosexualität festschreibt und damit die Voraussetzungen ihrer hierarchischen Anordnung fortwährend neu herstellt. Nichtsdestotrotz stellen Coming-outs in der Alltagspraxis ebenso wie in kulturellen Repräsentationen ein verbreitetes Phänomen der Herausbildung, aber vor allem auch der Veränderung und der Neugestaltung non-konformer geschlechtlicher und sexueller Subjektivitäten dar. Auf dem Hintergrund dieser vielfältigen Skepsis gegenüber dem Coming-out und angesichts viel versprechender Potentiale non-konformer geschlechtlicher und sexueller Subjektivitäten entwickelt Volker Woltersdorff seine Überlegungen und Analysen zur "Inszenierung schwuler Identitäten zwischen Auflehnung und Anpassung". Dieser Untertitel der literaturwissenschaftlichen Dissertation, die Coming-out-Erzählungen aus der deutschsprachigen, westeuropäischen und anglo-amerikanischen Literatur von den 1960ern bis heute untersucht, ist Programm. Denn Woltersdorff geht es weder darum, das Coming-out als unvermeidlichen und befreienden Sozialisationsschritt zu feiern noch es als pathetisch oder als Form der Unterwerfung abzutun. Vielmehr möchte er es stattdessen "als kompliziert austariertes Kompromisshandeln [...], eine Dialektik aus Auflehnung und Anpassung" (S. 268) verstanden wissen. In diesen Prozess flössen sowohl identitätspolitische als auch identitätskritische Ansätze ein, so dass sich im Coming-out sehr unterschiedliche Lösungen des Durcharbeitens gesellschaftlicher Widersprüche bzw. Formen finden, mittels derer diese an die Allgemeinheit zurückgegeben werden (vgl. S. 23). Die Qualität des Buches mit dem schnörkellosen Titel Coming Out begründet sich nicht zuletzt darin, dass die Unterschiedlichkeit der Coming-out-Erzählungen betont wird, ohne deshalb ihre Unvergleichbarkeit zu behaupten. Vielmehr entwickelt Woltersdorff Kriterien, die es ihm erlauben, die Formen literarischer und ästhetischer Selbstentwürfe, die das "Coming-out als performative Technologie des schwulen Selbst" (S. 269) fassen, mit dem kollektiven Moment des Coming-out als schwule Emanzipationspolitik (S. 9) zu verknüpfen. Gleichzeitig hebt er es als produktiv hervor, dass sich die literarischen Texte nicht vor Ambivalenzen und Widersprüchen scheuen (S. 21). In diesem Sinne entsteht ein komplexes Bild der verschiedenen ästhetisch-diskursiven Formen des Sich-Abarbeitens an Diskriminierungserfahrungen sowie der Identitätsbildung als Selbstvergesellschaftung, Weltaneignung und politischer Mobilisierung. Im Rückgriff auf Foucaults Diskursanalytik und ein Konzept der Performativität, wie es von Judith Butler und Eve Kosovsky Sedgwick vorgeschlagen wird, untersucht Woltersdorff einen breiten Fundus schwuler Coming-out-Erzählungen daraufhin, wie diese Schwulwerden gleichzeitig als Gefängnis und als Befreiung inszenieren. Dies heißt einerseits zu fragen, welche Strategien des Umgangs mit heteronormativen und homophoben sozialen Verhältnissen die Erzählungen anbieten. Zu diesem Zwecke ordnet der Autor diese in die Tradition religiöser Konversionserzählungen und autobiographischer Genres ein, vergleicht Strategien der Camouflage mit denen des Bekenntnisdiskurses oder untersucht die Bedeutung von Camp-Ästhetik und Ironie (Kap. 4). Andererseits richtet sich Woltersdorffs Interesse auch darauf zu verstehen, welche individuellen und kollektiven Grenzen von Handlungsmacht durch die normative Form des Coming-outs entstehen (Kap. 5). Für Woltersdorff bieten die Coming-out-Erzählungen die Möglichkeit, Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Bewertungen von Geschlecht und Sexualität sowie die je vorherrschenden Begründungszwänge zu ziehen. Obwohl die literaturwissenschaftliche Arbeit sich sehr sorgfältig mit den ästhetisch-diskursiven Formen der Coming-out-Erzählungen auseinandersetzt, geht sie doch auch mit einem sozialwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse einher: Statt eine Kulturalisierung des Coming-out zu betreiben, werden die gesellschaftlichen Kontexte einbezogen, um die "sexuelle Ökonomie der Macht" begreifbar zu machen, die die Erzählungen antreibt, und darauf zu verweisen, dass "Herrschaftsverhältnisse und ihre Reproduktion auf vielfältige Weise vergeschlechtlicht und sexualisiert sind" (S. 267). Darüber hinaus befriedigt das Buch durchaus auch historisch interessierte LeserInnen. Denn neben den literarischen Bearbeitungen des Coming-out, die noch in den begrenzten Textausschnitten lebhafte Einblicke in mehrere Jahrzehnte schwuler Selbst- und Beziehungsverhältnisse sowie subkultureller Praktiken liefern, stellt Woltersdorff auch eine Entwicklungsgeschichte der Coming-out-Diskurse von "Stonewall als Ursprungsmythos des kollektiven Coming-outs" (S. 44) bis zum "Coming-out heterosexuell-männlicher Eitelkeit" (S. 93) in der Metrosexualität bereit (Kap. 3). Interessant ist hierbei, dass Woltersdorff die historische Darstellung konsequent mit der Frage nach den sozialen Funktionen verknüpft, die die Coming-outs und ihre Erzählungen für die Konstituierung von Subjektivitäten, subkulturellen Communities und gesellschaftlichem Mainstream haben. Gerade in diesem Zusammenhang wird aber auch die - durchaus selbst reflektierte - Beschränkung von Woltersdorffs Untersuchung deutlich. Es handelt sich um weiße, westliche, schwule Erzählungen. Offen bleibt, wie anders die Verläufe und Funktionen einzuschätzen wären, wenn es um ein lesbisches Coming-out im Kontext einer feministischen Frauenbewegung mit den viel beschworenen Lesben-Hetera-Konflikten oder einer Kritik an der Penetrationsfixiertheit des Sex ginge oder um ein Schwarzes Coming-out im Spannungsfeld zwischen Selbstbefreiung und Loyalität zur Herkunftsfamilie aufgrund geteilter Rassismuserfahrungen oder um ein trans Coming-out, dessen Begehren zwischen hetero- und homosexuell changiert und Vorwürfen des Community-Verrats ausgesetzt ist. Doch diesbezüglich wären vielleicht einfach weitere Publikationen gefragt. Woltersdorffs Coming Out besticht dadurch, dass es eine Vielfalt an interessantem Material, das wahrscheinlich so manchen Schwulen auf seine eigene Lesebiographie zurückverweist, literaturwissenschaftlich zugänglich macht und mit extrem pointierten diskurskritischen und sozio-politischen Analysen verknüpft. Nicht nur die Spielregeln und -plätze der Communities und ihre mehr oder weniger idealtypischen Protagonisten treten ins Rampenlicht einer sympathisierend-kritischen Betrachtung, auch gesellschaftspolitische und nicht zuletzt sozio-ökonomische Gesamtzusammenhänge entfalten ihre Bedeutungen entlang der zunächst so selbst-bezüglich und identitätsversessen erscheinenden Coming-out-Erzählungen.




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