Stefan Micheler:
Selbstbilder und Fremdbilder der "Anderen"

Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit, Konstanz: UVK 2005, 488 S., € 49

Cover

 

Rezension von Andreas Pretzel, Berlin

Erschienen in Invertito 8 (2006)

Wie haben sich Männer begehrende Männer in der Weimarer Republik und der NS-Zeit wahrgenommen, mit welchen Selbstbildern haben sie ihrem "Anderssein" Ausdruck verliehen und sich damit zugleich gegenüber den Fremdbildern zu behaupten gesucht? Diesen spannenden Fragestellungen geht Stefan Micheler in seiner Dissertation nach, die 2005 als Buch erschienen ist.

Im ersten Teil stehen Debatten und Strategien zur Identitätspolitik im Mittelpunkt einer diskursanalytischen Darstellung. Micheler untersucht anhand einer lange vernachlässigten Quellengruppe, nämlich der Zeitschriften der Freundschaftsverbände, welches Bild die Autoren als "Männer begehrende Männer" von sich vermitteln wollten, welche Gruppenidentität sie in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fremdbildern und mit den Selbstbildern anderer Homosexuellenverbände entwarfen, welche Konzepte des Begehrens und welche Modelle von Partnerschaften sie favorisierten. Dabei liegt sein Fokus auf der Herausbildung eines neuen Selbstbewusstseins einer "homosexuellen Persönlichkeit" während der Weimarer Republik.

Im zweiten Teil richtet der Autor seine Perspektive auf die radikal veränderten Lebensbedingungen in der NS-Zeit. Statt identitätspolitischer Gruppenbestrebungen in selbst organisierten Freiräumen bedurfte es nunmehr individueller Überlebensstrategien im Geheimen, um der drohenden Ausgrenzung und Verfolgung zu begegnen. Anhand der Auswertung von NS-Strafakten der Hamburger Justiz stellt Micheler den Kampf gegen homosexuelles Verhalten und die als Homosexuelle diffamierten Männer in den Mittelpunkt der Darstellung. Er verdeutlicht die homophoben Fremdbilder der staatlichen Verfolger sowie die in der Bevölkerung kursierenden, die zu Denunziationen motivierten. Und schließlich geht er der Frage nach, inwieweit Verhaltensweisen Männer begehrender Männer, ihre Selbstbehauptungsbemühungen und Selbstbilder durch die Verfolgungsmaßnahmen, den Zwang zur Selbstverleugnung und die Dominanz der Feindbilder beeinflusst wurden.

Entstanden ist eine materialreiche Untersuchung, die im ersten Teil den Versuch unternimmt, mit Instrumentarien aus dem Theoriefeld des sozialen Konstruktivismus und der Queer Theory homosexuelle Identitätskonzepte im Spannungsfeld von Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung zu analysieren. Dabei verfügt Micheler über eine profunde Kenntnis der historischen Quellen, vertraut auf die eigene Übersicht und analytische Kraft, spart nicht mit Kritik an bisherigen Forschungen und dem, was er einen "unreflektierten Essenzialismus" (S. 59) nennt.

Mit einer umfangreichen Einleitung nähert sich Micheler der Geschichte der Konzeptualisierung gleichgeschlechtlichen Begehrens sowie der Herausbildung der Vorstellung von einer "homosexuellen Persönlichkeit". Terminologisch unterscheidet er dazu "Männer begehrende Männer" von "homosexuellen Männern", die auf Grund dieses Verhaltens eine sexuelle Identität, d.h. ein Selbstbild als Homosexuelle angenommen haben. Der "Homosexuelle" stellt für Micheler eine historisch neuartige Kategorie dar, die für viele Männer begehrende Männer mit einem positiven Selbstbild verbunden sei und sich von anderen gleichgeschlechtlich begehrenden Männern und deren Identitätskonzepten abhebe.

Diese wachsende Gruppe selbstbewusster Homosexueller berief sich auf eine "angeborene Veranlagung", betonte "anders als die anderen" und "von eigener Art" zu sein. Ihre Selbstbezeichnungen waren vielfältig. Männer, die sich als "Homosexuelle" oder "Homoeroten", "Invertierte" oder "Artgenossen" begriffen, entwickelten in den Homo-Zeitschriften des Medienunternehmers Friedrich Radszuweit einen publizistischen Wertekanon, in dem von "idealer Freundschaft", Eros und Freundesliebe die Rede war, in dem explizit sexuelles Vokabular vermieden und bürgerliche Tugenden hervorgehoben wurden. Damit wollten sie den sexfixierten Fremdzuschreibungen und stereotypen Fremdbildern ein respektables Selbstbild gegenüberstellen und formulierten zugleich einen normativen eigenen, quasi homonormativen Verhaltenskodex, der auf Selbstdisziplinierung pochte. Die propagierten Partnerschaftsideale orientierten sich an serieller Monogamie, d.h. zeitweiligen Paarbeziehungen bis hin zu so genannten Freundschafts- oder Kameradschaftsehen. Es sollte "anständig", unauffällig und vorbildlich zugehen, um der gesellschaftlichen Ächtung zu begegnen. Im Kampf um Anerkennung und die öffentliche Meinung wurden die integrativen Leistungen als Staatsbürger, Steuerzahler und Kriegsteilnehmer hervorgehoben, im Hinblick auf das "Anderssein" war von Gefühl und Liebe, Männlichkeit, Natürlichkeit und Schamhaftigkeit die Rede.

Dass sich die Mehrzahl der Männer begehrenden Männer in dieser entsexualisierten Schimäre repräsentiert fand, darf bezweifelt werden. Nur mit dem Zwang zur Selbstverleugnung wäre das kollektive Selbstbild mit ihrem eigenen Verhalten in Einklang zu bringen gewesen. Micheler verdeutlicht dies an den Stellungnahmen zur männlichen Prostitution, die von der Verbandsführung generell verdammt und zur besonderen Bestrafung empfohlen wurde, und verweist gleichzeitig auf ein Gerichtsverfahren von 1931 gegen einen Verbandsführer wegen Stricherkontakten (S. 179). Mit dem kollektiven Selbstbild wurden solch bezahlte Sexualbeziehungen zwischen Männern und Jugendlichen für unvereinbar gehalten - dennoch wurden sie gelebt.

Deshalb wäre zu fragen, inwieweit die kollektiven Identitätskonstrukte angenommen bzw. modifiziert wurden, um sie mit den individuellen Lebenszusammenhängen in Einklang zu bringen. Kollektive Identitätsentwürfe erweisen sich als eher flüchtige Konstrukte, die nur zeitweilig und partiell ein Wir-Kollektiv konstruieren und zum Bewusstsein, Teil einer Gemeinschaft zu sein, beitragen. Einblicke in den individuellen Identifikationsprozess vermag eine solche Perspektive nur bedingt, anhand der kontroversen Leserdebatten um Vorbilder und Lebenskonzepte, zu gewähren - obgleich es gerade darum geht, mit den Selbstbildern die "Einstellungen des Individuums zur eigenen Person, das heißt, Auffassungen, Vorstellungen, Bewertungen, Gefühle und Haltungen gegenüber sich selbst" (S. 20) aufzuspüren.

Freilich ist dabei ist die Wirkung diskursiver Konstruktionen nicht zu unterschätzen, denn der homonormative Diskurs der Freundschaftsverbände führte zu strategischen Verwerfungen, Ab- und Ausgrenzungen. Davon waren nicht nur Jünglings- und Knabenliebhaber betroffen. Zum Dauerthema wurden Abgrenzungsbemühungen gegenüber Transvestiten und effeminierten Verhaltensweisen. Das von den Freundschaftsverbänden entworfene Geschlechterbild für Männer begehrende Männer betonte eine männliche Geschlechtsidentität. Das damit verbundene homosexuelle Selbstbild entsprach spiegelverkehrt der von Micheler zitierten zeitgenössischen Ansicht Johanna Elberskirchens, die für lesbisches Begehren "einen Zug zum Weiblichen" beanspruchte und die Fremdzuschreibung "männlicher Züge" davon ausgeschlossen wissen wollte (S. 42). Diese Behauptungen einiger Homosexueller, Mann suche Männlichkeit und Frau suche Weiblichkeit, richteten sich gegen populäre Fremdbilder des Homosexuellen, welche sex und gender auf heteronormative Weise dem geschlechterdichotomen Modell des Begehrens zuordneten. Jener insbesondere von Sexualwissenschaftlern formulierten "fundamentalen Unlogik", die an der Lebenspraxis der von ihnen beschriebenen "Homosexuellen" vorbeiging, so Micheler (S. 42), wurde in einem kollektiven Verständigungsprozess ein Entwurf für ein homosexuelles "Mannsbild" entgegengestellt, das zur Selbstvergewisserung und Identifikation ermunterte und zugleich ein homonormatives Identitätsmodell darstellte. Denn wer diesen Eingrenzungen nicht entsprach, auch das wird an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, wurde aus den Freundschaftsverbänden ausgegrenzt.

Stefan Micheler hat den verdienstvollen Versuch unternommen, die Geschichte der Freundschaftsverbände und ihre Konstruktionsversuche einer homosexuellen Identität "queer" zu lesen. Seine kritische Analyse vermag ein Bewusstsein für die Brüchigkeit des entstehenden Kanons homosexueller Leitbilder zu wecken. Diese identitätskritische Perspektive führt bei Micheler jedoch nicht dazu, die Identitätspolitik Homosexueller zu verwerfen. Im Hinblick auf die NS-Zeit zeigt er, inwieweit die Entwürfe einer Gruppenidentität auch einen bedeutsamen Halt gegenüber einer trostlosen Vereinzelung unter Verfolgungsumständen zu bieten vermochten, das Selbstbild stärkten oder zumindest halfen, die Zeit durchzustehen.

Gerade die Perspektive auf Identitätsstiftungen macht jene Verluste deutlich, die im Hinblick auf das, was mit dem Begriff der NS-Verfolgung erfasst wird, bislang kaum eingehend bedacht wurde. Denn die durch Repression bewirkte Zerstörung der institutionalisierten Homosexuellenszene und die beispiellosen Hetzkampagnen gegen Homosexuelle führten bei vielen Männer begehrenden Männern zu einer Abkehr von Identitätsentwürfen einer positiven "homosexuellen Persönlichkeit". Das positive Selbstbild der "Anderen" verschwand vollständig aus der Öffentlichkeit, während das schon im Kaiserreich entstandene Feindbild des verbrecherisch veranlagten "Anderen", das von den Gegnern homosexueller Emanzipation behauptet wurde, mit dem Verlust der eigenen Medien eine totale Diskurshoheit und zudem Einfluss auf politisches Handeln errang. Die Fremdbilder begründeten fortan die gesellschaftliche Ausgrenzung und staatliche Verfolgung gleichgeschlechtlich begehrender Männer. Inwieweit deren Selbstbilder von dem während der NS-Zeit forcierten gesellschaftlichen Zwang zur Selbstverleugnung dominiert und deformiert wurden, darüber wissen wir bislang allerdings wenig.

In Michelers Untersuchung zur NS-Zeit stehen die Fremdbilder und Maßnahmen der Verfolger im Mittelpunkt, die wirksamen Stereotype bei Polizei, Justiz, medizinischen Gutachtern und der Gerichtshilfe sowie die Fremdbilder bei der Mehrheitsbevölkerung, die anhand von Denunziationen und Reaktionen von Familienangehörigen thematisiert werden. Diese Verlagerung des Blickpunkts ist vor allem den Quellen geschuldet, denn zum Selbstverständnis der Männer, die sich als Homosexuelle begriffen, stehen nach der Auflösung der Verbände und der Einstellung ihrer Zeitschriften keine analogen Quellen zur Verfügung, die so freimütig erwünschte Selbstbilder preisgeben. Das macht eine Untersuchung zur NS-Zeit wie auch einen Vergleich mit der Weimarer Republik schwierig.

Wer Aufschlüsse über Selbstbilder der während der NS-Zeit verfolgten Männer erlangen will, dem bleibt mangels überlieferter Nachlässe und Erinnerungsberichte nichts weiter übrig, als zu versuchen, implizite Hinweise aus den Strafakten der Verfolger zu gewinnen. Auch hierzu bietet Michelers Buch einen bemerkenswerten Beitrag. Er zeigt, wie aus dem Spannungsverhältnis von Verfolgungsmaßnahmen und dem Verhalten der Verfolgten bis hin zu ihren Verteidigungsstrategien zumindest ansatzweise Rückschlüsse auf Selbstbehauptung und Selbstbefragung gezogen werden können. Micheler hat dazu einen Großteil der einschlägigen Hamburger Strafjustizakten ausgewertet.

Seine abschließenden Ausführungen zum Einfluss der NS-Verfolgung auf die Selbstbilder sind hingegen sehr kurz ausgefallen. Beispielhaft skizziert er die Spannbreite notgedrungener Verhaltensweisen, die vor allem auf ein individuelles Stigma-Management verweisen. Das Klima der Angst im Wissen um die Bedrohung und die erzwungene Selbstverleugnung hätten Verdrängungsleistungen erfordert und tendenziell zu einer negativen Selbstdeutung geführt, die erlittene Verfolgung habe Männer begehrende Männer zur Vereinsamung, zu Selbstzweifeln und Selbsthass gedrängt. Nur wenige, die sich während der Weimarer Republik im Umfeld der Freundschaftsverbände bewegt hatten, hätten ein positives Selbstbild aufrechterhalten können, wenngleich auch sie gezwungen waren, ein Doppelleben, oftmals als Verheiratete, zu führen.

Michelers Untersuchung endet mit einem Blick auf Jugendliche. Neben einer massiven homophoben Propaganda in der Hitlerjugend waren sie gleichfalls von staatlicher Gewalt bedroht. Denn zur Abschreckung vor gleichgeschlechtlichen Annäherungsversuchen zwischen männlichen Jugendlichen wurde derselbe staatliche Verfolgungsapparat eingesetzt wie gegenüber Erwachsenen. Welch verheerenden Einfluss die HJ-Sozialisation und die erlittenen Verfolgungsmaßnahmen auf diese Generation der um und nach 1920 Geborenen hatten, muss erst noch erforscht werden. Dabei stellt sich einerseits die Frage nach der Lebenstragik jener, die auch im weiteren Verlauf ihres Lebens, nämlich bis Ende der 1960er Jahre, wegen ihres Begehrens dem Klima der Angst und Bedrohung, einer homophoben öffentlichen Propaganda, dem Fehlen positiver Selbstbilder und nicht zuletzt staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Andererseits wäre generell nach der homophoben Prägung dieser während der NS-Zeit sozialisierten Generation zu fragen, d.h. auch nach den generationsspezifischen Auswirkungen in der frühen Bundesrepublik. Dieser Blickrichtung zu folgen, bleibt eine Aufgabe künftiger Forschung. Michelers Buch gibt auch dazu bemerkenswerte Denkanstöße.




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