Magnus Hirschfeld:
Weltreise eines Sexualforschers

Frankfurt a.M.: Eichborn 2006, 440 S., € 29,50

Cover

 

Rezension von Friedrich-H. Schregel, Köln

Erschienen in Invertito 8 (2006)

Magnus Hirschfeld, Sexualwissenschaftler, brach im November 1930 in die USA auf, er war zu Vorträgen eingeladen worden. Er folgte immer neuen Einladungen, durchquerte so die Vereinigten Staaten, gelangte im März 1931 nach Japan, reiste weiter durch China, dann durch Südostasien nach Indien. Im November des gleichen Jahres kam er in Nordafrika an, von dort ging es weiter nach Palästina. Im April 1932 erreichte er Wien, von dort zog es ihn in die Schweiz - er kehrte nicht nach Berlin in sein Institut für Sexualwissenschaft zurück. Aus der geplanten mehrwöchigen USA-Reise wurde schließlich eine mehrjährige Weltreise. Hirschfelds Reisebericht wurde 1933 in der Schweiz veröffentlicht, eine englische und eine US-amerikanische Ausgabe folgten alsbald, dann auch eine französische. Das deutsche Publikum konnte von dem Buch nicht Kenntnis nehmen. Die neue Ausgabe dieses Werks, die 2006 in der Reihe Die andere Bibliothek erschien, ist, so der Hinweis in einer Nachbemerkung, geringfügig gekürzt. Der Herausgeber Hans-Christoph Buch setzt ein Vorwort hinzu, das seine Kenntnis der gängigen Publikationen über Hirschfeld beweist, und einige Literaturhinweise, lobend werden die Berliner Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und die Hirschfeld-Biographie Manfred Herzers erwähnt. Die Reihe Die andere Bibliothek ist bekannt für ihre bibliophile Ausstattung: Papier, Satz, Einband, Lesebändchen - diese Bücher beglücken schon vor dem Lesen.

Hirschfelds Charakteristika waren vielfältig - der Mann war Deutscher, Homosexueller, Jude, Linker. Alle diese Eigenschaften schlagen sich im Buch nieder, und das macht den Reiz der Reisebeschreibung aus, in Hirschfelds Schilderungen, Fragen, Nachforschungen, Ausflügen. Der wissenschaftliche Ertrag dieser Reise ist für uns heute von geringem Belang, es ist die Person des Autors, die das Buch interessant macht.

Hirschfeld wollte aufklären, wollte werben für seine Sexualwissenschaft. Er scheute keine Anstrengung, auf seiner Reise immer und immer wieder vor Versammlungen verschiedener Art aufzutreten und seine Thesen und Forschungen vorzustellen. Vom Inhalt dieser Vorträge - häufig unter dem Titel "Sexology - a new and important science" - erfahren wir wenig, er stellte offenbar die Sexualwissenschaft mit ihren Teilgebieten und Untersuchungsmethoden vor.

Hirschfeld war Deutscher - die meisten Vorträge hielt er auf Englisch, er suchte aber die Nähe der Deutschen am Ort, seien es Kaufleute, Botschaftsangehörige, Reisende, Wissenschaftler usw. Sicherlich suchte Hirschfeld Gelegenheiten, seine Sprache zu sprechen, doch wir beobachten auch ein Gefühl der Zugehörigkeit zu seinem "Volk": Er erkundet Deutsche und Deutsches, lobt deutsche Industrie und Kultur; die verspätete und verfehlte deutsche Kolonialpolitik stellt er gar als rücksichtsvoll und diplomatisch dar.

Hirschfeld stand politisch links, der Leser / die Leserin bemerkt dies am deutlichsten in den Ratschlägen, die vorzutragen der Autor sich angehalten fühlt: Hinweise zur Innen- und Außenpolitik, zur Geburtenkontrolle und zum Minderheitenschutz, zu Bildungsmaßnahmen und zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. Diese Belehrungen, teils seinen dortigen Gesprächspartnern, teils den Lesern und Leserinnen gegeben, wirken in ihrem Ton auch ein wenig deutsch. Der Kritik an manchen politischen Zuständen ist Hirschfelds Standpunkt als linker Demokrat ebenfalls abzulesen. Hirschfeld beachtet durchaus örtliche Gegebenheiten, doch seine Orientierung an in Europa geprägten Idealen von Demokratie und Recht macht seine gut gemeinten Vorschläge unrealistisch, nutzlos, manchmal überheblich.

Hirschfeld war getrieben von dem Wunsch, die Kenntnisse der Sexualethnologie mit seiner Weltreise zu erweitern. Allerlei Gespräche mit und Berichte von Fachleuten bezeichnete er als Forschung, solcherlei Informationen versuchte er indes nicht zu verifizieren, eigene Bemühungen zu Untersuchungen stellte er nicht an. Solche Übernahme von Wissen aus zweiter Hand - anders ist es nicht vorstellbar auf dieser Art von Vortragsreise - mag den eigenen Horizont erweitern, doch macht Hirschfelds Begriff von Forschung hier stutzig. Hirschfeld blieb auch auf Reisen stets Leiter seines Berliner Instituts für Sexualwissenschaft: Er suchte Kontakte, die dem Institut nützen sollten, er sammelte auf seiner Reise nicht nur Wissen, sondern ließ sich wiederholt Objekte für die Sammlung des Instituts schenken. Die Rückkehr nach Deutschland und die Fortsetzung der Arbeiten in Berlin stand für Hirschfeld offenbar fest.

Das Interesse an Soziologie und Ethnologie steht hier deutlich im Vordergrund, im Gegensatz zu Hirschfelds Prioritäten in den Jahrzehnten zuvor. Biologische Gesichtspunkte berücksichtigt Hirschfeld hier kaum. Diese ansatzweise Neuorientierung wird jedoch nicht reflektiert: Damit bleibt offen, ob sich Hirschfeld der Veränderung der Akzentsetzung bewusst war, ob diese Entfernung von der Biologie vorübergehender oder stetiger Art war.

Der längere Aufenthalt in Palästina gegen Ende seiner Reise gibt Hirschfeld vielfach Gelegenheit, über seine Haltung zum Judentum nachzudenken. Dem zionistischen Experiment, hält Hirschfeld fest, stehe er inzwischen wohlwollend gegenüber (S. 402), wenn auch mit einigen Vorbehalten, da - und hier argumentiert er ausschließlich als Soziologe - das Zusammenleben dort beweise, dass Gesellschaft eine Erziehungs- und Schicksalsgemeinschaft sei und kaum auf Willensentscheidungen aus ideologischen oder religiösen Gründen fuße. Er selbst wolle aber seinen Lebensabend nicht in Palästina verbringen - denn dafür müsste er Hebräisch lernen.

Hirschfeld unternahm seine Weltreise nicht allein. Tao Li, sein Lebensgefährte, begleitete ihn. Im Buch vergisst Hirschfeld seinen Freund häufig - fast immer ist allein vom Ich des Erzählers die Rede, nur zwei-, dreimal liest man "wir". Tao Li wird immerhin ein Dutzend Mal erwähnt - er macht Besorgungen, nimmt an Gesprächen teil, kämpft um Einreisegenehmigungen, gewinnt ein Eselrennen. Hirschfeld bemühte sich lebenslang außerordentlich, seine sexuelle Orientierung nicht zu zeigen und nicht zum Thema werden zu lassen - hier ist dies trefflich zu studieren. Homosexualität wird mehrfach erwähnt, dabei nutzt Hirschfeld seine Autorität als Wissenschaftler und trägt Fakten über die Lebenssituation Homosexueller in den von ihm bereisten Ländern zusammen, zudem schildert er seine Bemühungen, durch Vorträge und Gespräche mit Politikern über Homosexualität aufzuklären. In den Bereich der Homosexualitätenforschung gehören Informationen über Ehen unter den Seidenraupenzüchterinnen in China, Cruising-Gebiete in Tokio, Homosexualität bei den indischen Yogis, Ehebündnisse bei einem ägyptischen Nomadenvolk.

So sehr Hirschfelds Lebensgefährte im Hintergrund bleibt, so desinteressiert geben sich auch die Rezensenten der Neuauflage: Hirschfelds Begleiter ist niemandem eine Erwähnung wert.[1] Der Sexualwissenschaftler und der linke Politiker in Hirschfeld berühren sich in der Vorstellung, auch über die Sexual- und Geburtenpolitik langfristig die Gesellschaft verbessern zu können. In der Reisebeschreibung finden sich mehrfach Stellen, an denen solche Gedankengänge ausgeführt werden. Hirschfeld dachte hierbei an Aufklärung und Unterrichtung im Bereich Geburtenkontrolle und -planung, an Bevölkerungs- und Bildungspolitik: "Gebt freie Bahn europäischer Volksaufklärung und verantwortungsvoller Geburtenregelung. Auf die Dauer lässt sich echte Friedens- und Kulturpolitik nicht ohne Bevölkerungspolitik ermöglichen. Nur im Zeichen einer gesunden Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage wird sich eure Zukunft glücklich und glückbringend gestalten." (S. 87) So spricht Hirschfeld die Japaner an, er behauptet einen Zusammenhang zwischen übertriebenem Nationalstolz und Geburtenüberschuss. Seine Formulierung lässt aber deutlich erkennen, dass er hier eine allgemeine Überzeugung ausdrückt und nicht allein einen Rat für das japanische Volk niederschreibt. Ins Auge fällt seine Differenzierung von 'glücklicher und glückbringender Zukunft' - er denkt hier offenbar an die positiven Wirkungen der Bevölkerungspolitik auf die Sozialpolitik nach innen und die Friedenspolitik nach außen. Hirschfeld gelangt von seinem Gesellschafts- und Zukunftsbild zu eugenischen Überlegungen, nicht primär ausgehend von biologischen und medizinischen Vorstellungen. Zu Hirschfelds Zeiten entwickelten linke wie rechte Theoretiker Eugenik-Konzeptionen. Mit der Rassenpolitik des Nationalsozialismus stimmen Hirschfelds Thesen nicht überein: "Nicht reine, sondern gemischte Rassen sind eine Selbstverständlichkeit", konstatiert Hirschfeld (S. 402). Den Menschen Hirschfeld näher kennenzulernen, dazu ist das Buch vorzüglich geeignet. Und daneben bekommt der Leser aufschlussreiche Einsichten in die Geschichte der Ethnologie und der Sexualwissenschaft.

[1] Vergleiche z.B. die Rezensionen in den Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung, Die Welt, tageszeitung Berlin, tageszeitung Magazin sowie im Deutschlandfunk.




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