Jürgen Martschukat / Olaf Stieglitz:
"Es ist ein Junge!"

Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten in der Neuzeit, Tübingen: edition diskord 2005, 286 S., € 22

Cover

 

Rezension von Ingo Straub, Osnabrück

Erschienen in Invertito 8 (2006)

Es gilt inzwischen als unumstritten, dass historische Forschung bis in die 1970er Jahre fast ausschließlich Männergeschichtsschreibung war, dass zwar der Anspruch einer Menschheitsgeschichtsschreibung verfolgt wurde, aber letztendlich doch Männer über Männer und für Männer forschten und publizierten. Mannsein und Manifestationen des Mannseins, d. h. die Konstruktion und Präsentation von Männlichkeiten in unterschiedlichen historischen Epochen und gesellschaftlichen Systemen, waren - so könnte man meinen - seit jeher Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die von Historikern lange Zeit intendierte Betrachtung des Allgemein-Menschlichen brachte allerdings nicht nur die Nichtbeachtung der Rolle 'der Frau' in den Zeitläuften mit sich, sondern auch 'der Mann' als Geschlechtswesen verschwand hinter dem Bild eines geschlechtslosen Neutrums, z. B. dem des Herrschers, des Feldherrn, des Leibeigenen. Erst unter dem Einfluss der Frauen- und der Schwulenbewegung sowie der sich allmählich etablierenden men's studies veränderte sich auch in Teilen der Geschichtswissenschaft der Blick auf das soziale Individuum als Gegenstand der Forschung. Die in den USA und in Großbritannien ab den 1970er Jahren, in Deutschland mit einiger zeitlicher Verzögerung betriebene historische Forschung nahm sich nun auch des Mannes als Geschlechtswesen und der durch die Zeiten rekonstruierbaren Männlichkeitsentwürfe an.

Das Verdienst von Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz besteht darin, mit der vorliegenden Veröffentlichung einen Überblick über die im angloamerikanischen und deutschen Kontext in den vergangenen 30 Jahren entstandenen Studien zur Erforschung der Geschichte von Männlichkeiten zu bieten. Den Autoren geht es insbesondere darum, sich mit der Geschichte von männlichen Geschlechtsentwürfen zu beschäftigen, die unter bestimmten historischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen entstehen und - neben anderen Faktoren - soziales Handeln sowie soziale Statuszuweisungen prädisponieren. Ziel des Einführungsbandes ist es, den Einstieg in den Themenkomplex zu erleichtern, den Stand der Forschung aufzuarbeiten, Forschungsdesiderate zu benennen und Hilfestellungen für die akademische Lehre zur Männer- und Männlichkeitenforschung anzubieten.

In den beiden auf die Einleitung folgenden Kapiteln 2 und 3 beleuchten Martschukat/Stieglitz zwei Felder, die sie als zentral für die Konzeption und Grundlegung einer Geschichte der Männlichkeiten ausmachen. Zunächst wird in Kapitel 2 die Frauen- und Geschlechtergeschichte in den Blick genommen, in deren Entwicklung sich seit den 1960er und 1970er Jahren die Debatten und Phasenabfolgen der (soziologisch inspirierten) Frauen- bzw. Geschlechterforschung abbilden (Sex-Gender-Debatte, sozialkonstruktivistische und dekonstruktivistische Phase). In Kapitel 3 wird dann die wissenschaftshistorische und theoretische Entwicklung der men's studies - verstanden als die "kritische, sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse von Männern und Männlichkeiten" (S. 43) - skizziert und dabei insbesondere auf zentrale (heute z.T. überholte) theoretische Strömungen innerhalb der men's studies fokussiert (Geschlechtsrollenmodell nach Talcott Parsons, Jeff Hearns' Patriarchatskritik, Konzept der "hegemonialen Männlichkeit" nach Robert W. Connell).

Das sich daran anschließende vierte Kapitel "Theoretische Leitlinien für eine Geschichte der Männlichkeiten" wird von Martschukat/Stieglitz als "Herzstück" ihres Bandes bezeichnet, in dem die vorangegangenen Gedankengänge gebündelt und Leitfragen für die Erforschung einer Geschichte der Männlichkeiten herausgearbeitet werden. Quintessenz dieses Kapitels ist das Plädoyer der beiden Autoren für die Konzipierung einer mehrfach relationalen Geschlechtergeschichte, die Männlichkeitsentwürfe nicht nur zu anderen Männlichkeits-, sondern auch zu Weiblichkeitskonstruktionen in Beziehung setzt und dabei den Stellenwert so zentraler sozialstruktureller Kategorien wie Klasse oder Ethnie mitberücksichtigt.

Nach einem kurzen und hochinteressanten Überblickskapitel über 'Standardwerke' zur Geschichte der Männlichkeiten von angloamerikanischen (z.B. Joseph H. Pleck) und deutschsprachigen Autoren (z. B. Klaus Theweleit und Thomas Kühne) folgen drei Kapitel, die sich den Themenkomplexen 'Väter/Familien/Arbeitswelt' (Kap. 6), 'Männerbünde' (Kap. 7) und 'Geschichte der Homo- und Heterosexualitäten' (Kap. 8) widmen. Martschukat/Stieglitz stellen dabei jeweils Arbeiten aus den USA, Großbritannien und Deutschland vor, die in ihren Augen die Bandbreite der Veröffentlichungen zu den genannten Themenfeldern abbilden.

Besonders informativ und spannend lesen sich die beiden Abschnitte zu männlichen Vergemeinschaftungsformen und zur Geschichte männlicher Sexualitäten. Im Kapitel "Von Brüdern, Kameraden und Staatsbürgern" bilden Martschukat/Stieglitz einen Ausschnitt aus der Vielfalt der Formen männlicher Sozialität ab. Ein Schwerpunkt wird dabei auf diejenigen Beziehungen zwischen Männern gelegt, die auf der Basis persönlicher oder geschäftlicher Interessen zustande gekommen sind und sich beispielsweise in Vereinen, studentischen Verbindungen, Bruderschaften oder Freimaurerlogen institutionalisieren. In einem zweiten Schritt diskutieren die Autoren ausführlich die Literatur, die sich mit dem in der deutschsprachigen Männerforschung gut bearbeiteten Themenkomplex "Kameradschaft, Militär und Krieg" beschäftigt. Im Abschnitt zur Geschichte männlicher Sexualitäten verweisen Martschukat/Stieglitz auf die besondere Rolle des gay liberation movement, das seinen Ausgangspunkt in den schlachtenartigen Auseinandersetzungen in der Christopher Street in New York (Sommer 1969) nahm. Der Ertrag theoretischer Arbeiten, die im Umfeld der offensiv auftretenden Schwulenbewegung entstanden sind, ist im Hinblick auf die Modellierung der Geschlechterverhältnisse vor allem darin zu sehen, dass Heterosexualität nunmehr als scheinbar natürliche Grundlage der Geschlechterverhältnisse in Frage gestellt wurde. Indem herausgearbeitet wurde, dass Homosexualität ein relativ junges Konstrukt ist, das sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seiner modernen sozialen Bedeutung herausgebildet hat, konnte nicht nur der Konstruktionscharakter der Kategorie Homosexualität, sondern auch derjenige der Kategorie Heterosexualität deutlich herausgestellt werden. Eine im Zuge der Schwulenbewegung geschriebene Geschichte der Homosexualitäten erlaubt damit auch einen veränderten Blick auf (bis dato für unveränderlich gehaltene und normierte) Männlichkeiten: In gleicher Weise wie Sexualitäten müssen auch Männlichkeiten in ihrer Geschichtlichkeit und Konstruiertheit betrachtet werden, wobei hierfür einerseits die Wirksamkeit bestimmter Sozialstrukturen (z.B. Klasse, Ethnie, Alter, Religion), andererseits die "Struktur geschlechtlicher Machtbeziehungen" (Connell) berücksichtigt werden müssen, die durch eine Machthierarchie zwischen Männern und Frauen, aber auch durch Über- und Unterordnungsverhältnisse innerhalb der Gruppe der Männer gekennzeichnet ist.

Der Band von Martschukat/Stieglitz, der durch einen kommentierten Quellenteil und eine umfangreiche Bibliografie abgerundet wird, stellt eine auf das Wesentliche beschränkte Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten dar, ohne jedoch ausschließlich für HistorikerInnen von Interesse zu sein. Der interessierte Laie und auch der bzw. die bereits mit Männer- und Männlichkeitenforschung befasste WissenschaftlerIn findet in dem Buch der beiden Historiker sowohl eine anregend zu lesende Zusammenfassung des Forschungsstandes als auch die Beschreibung bestehender Forschungsdesiderate. Einzig das von den Autoren als "Herzstück" des Buches bezeichnete Kapitel 4 lässt einige Fragen offen: Die Einfügung dieses Kapitels in den Einführungsband erschließt sich in konzeptioneller Hinsicht nur bedingt, da der Zusammenhang zwischen den Gedankengängen von Martschukat/Stieglitz zur theoretisch-konzeptionellen Modellierung einer zukünftigen Geschichte der Männlichkeiten und den übrigen Kapiteln, in denen bereits bestehende Studien aufgearbeitet werden, zu wenig deutlich wird. Meines Erachtens wäre es stimmiger gewesen, nach der Beschreibung des Forschungsstandes die eigenen theoretischen Vorstellungen, wie eine zukünftige Geschlechtergeschichtsschreibung konzipiert sein müsste, darzulegen, nicht zuletzt um den theoretischen Eigenbeitrag der Autoren deutlicher herauszustellen und gegenüber anderen Ansätzen abzugrenzen. In der vorliegenden Fassung erscheint das vierte Kapitel gewissermaßen als Fremdkörper, ein Eindruck, der auch dadurch verstärkt wird, dass bis zum Ende des Buches kein Rückgriff auf die von Martschukat/Stieglitz formulierten konzeptionellen Leitlinien für eine Geschichte der Männlichkeiten mehr vorgenommen wird. Ein die Arbeit abrundendes Schlusskapitel wäre hier hilfreich und wünschenswert gewesen. Kritisch anzumerken ist darüber hinaus, dass aufgrund der Zitierweise nicht gleich ersichtlich wird, wann die besprochenen Texte veröffentlicht wurden, so dass stets ein den Lesefluss störendes Nachschlagen der Erscheinungsdaten in der Bibliografie notwendig ist. Gerade bei einem im Rahmen der Genderforschung entstandenen Einführungsband sollte die Zuordnung der besprochenen Studien zu den deutlich sich voneinander unterscheidenden Phasen der Theoretisierung von Geschlecht (Sex-Gender-Debatte, Diskussion um die soziale Konstruiertheit von Geschlecht etc.) eindeutig und ohne allzu großen Aufwand möglich sein.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist das Buch von Martschukat/Stieglitz eine Empfehlung wert und sowohl all jenen ans Herz zu legen, die sich einen Zugang zum Thema Männlichkeiten in der Geschichte verschaffen wollen, als auch denjenigen MännerforscherInnen, die sich ihres Standortes innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion vergewissern wollen, um ihre Arbeiten voranzutreiben und innerhalb der Genderforschung verorten zu können.




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