Heike Schader:
Virile, Vamps und wilde Veilchen

Sexualität, Begehren und Erotik in den Zeitschriften homosexueller Frauen im Berlin der 1920er Jahre, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2004, 308 S., € 24,95

Cover

 

Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 7 (2005)

Marlene Dietrich im Smoking mit Veilchenstrauß am Revers als Liebling des heterosexuellen wie des homosexuellen Publikums - wer kennt nicht dieses Bild, das stellvertretend für die Liberalität der 20er Jahre steht? Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten beschäftigen sich unter unterschiedlichsten Fragestellungen mit diesem Zeitraum, in welchem sich in der Großstadt Berlin eine homosexuelle Subkultur etablierte. Neben Clubs, Bars, Dielen und Cafés, neben Theaterstücken, Revuen und Filmen und deren Idolen wie u.a. Marlene Dietrich, Jeanne Mammen, Anita Berber oder Christa Winsloe gehören auch die Zeitschriften der homosexuellen Frauen in den Kontext eines neuen Selbstverständnisses von Homosexualität. Diese boten den Frauen die Möglichkeiten zu Debatten über homosexuelle Ideale, Wünsche, Vorstellungen, Träume und Realitäten. Auch Beziehungsformen spielten thematisch eine große Rolle. Sexualität, Begehren und Erotik wurden formuliert und als Bestandteil weiblicher Homosexualität konstruiert. Hier setzt Heike Schader mit ihrer Untersuchung an.

Zeitschriften wie Die Freundin, Ledige Frauen, Frauenliebe und Garçonne erschienen zwischen 1924-1933 regelmäßig, waren öffentlich zu kaufen und hatten einen hohen Verbreitungsgrad. Sie sind somit ein einmaliges Zeugnis der Selbstdarstellung homosexueller Frauen, denn in ihnen wurde weibliche Homosexualität von homosexuellen Frauen inszeniert, konstruiert und diskutiert. Die meisten Autorinnen waren Personen des öffentlichen homosexuellen Lebens, sie gehörten also zur gleichen kulturellen und sozialen Gruppe wie ihr Lesepublikum. Neben nichtfiktionalen Textsorten enthielten die Zeitschriften zahlreiche literarische Beiträge in Form von Gedichten, Liedern, Kurzgeschichten und Fortsetzungsromanen. Heike Schaders Verdienst besteht darin, über 70 Fortsetzungsromane, mehr als 560 Kurzgeschichten und fast 1000 Gedichte systematisch als Selbstentwürfe weiblicher Homosexualität gesichtet zu haben. Dabei interessiert sie sich v.a. für das Codierungssystem, dessen die Autorinnen sich bedient haben. Der heutigen Leserin bleiben die Formulierungen von Begehren, Erotik und Sexualität weitestgehend verborgen. So ist die Decodierung dieser zumeist der Trivialliteratur zuzuordnenden Textsorten Hauptbestandteil der Studie, die sich wie folgt aufbaut:

Nach einer ausführlichen Einführung, in der Schader die einzelnen Zeitschriften und deren Macherinnen präsentiert, auf die Bedeutung der Sachtexte in den Zeitschriften sowie einige Debatten (u.a. um Sadismus, Bisexualität als auch um Kameradschaft und Liebesfreundschaft) näher eingeht, erstellt sie im Hauptteil ihrer Arbeit verschiedene Folien, die eine Interpretation der Inszenierung und Beschreibung von Sexualität, Begehren und Erotik ermöglichen. So bietet die Analyse von bestimmten Rollentypen - virile Typen wie der Don Juan, Ben Hur, der Gigolo oder Gentleman sowie feminine Typen wie der Vamp, die exotische und die sportliche Frau - eine erste Folie für die Decodierung der Formulierungen von Begehren, Sexualität und Erotik. In diesem Zusammenhang untersucht Schader anhand der Texte Paare, die durch Gegensätze bestimmt sind wie viril-feminin, arm-reich, alt-jung, Lehrerin-Schülerin bzw. Bekanntes-Exotisches.

Im Kapitel "Literarischer Rahmen" geht es um Handlungs- und Begegnungsorte, Handlungsmuster sowie um literarische Methoden zur Umschreibung sexueller Handlungen. Als Handlungshintergründe tauchen immer wieder die naturhafte Begegnung bzw. ihr Gegenpol, die Großstadt, auf. Für die Inszenierung der Geschichten spielt es außerdem eine wichtige Rolle, ob die Begegnungen in einer homosexuellen oder heterosexuellen Öffentlichkeit oder im privaten Raum stattfinden. Öffentliche Räume wie z.B. Lokale oder Feste dienen quasi als Börse für sexuelle Abenteuer. In diesem Zusammenhang kommt der erotischen Inszenierung des Tanzes eine besondere Bedeutung zu: Ein freier und unbeschwerter Umgang mit der eigenen Sexualität und dem eigenen Begehren ist in der homosexuellen Öffentlichkeit ganz im Gegensatz zur heterosexuellen möglich. In der heterosexuellen Öffentlichkeit liegt der Reiz eher im Geheimen und in der Spannung rund um das gegenseitige Erkennen. So konnten in der heterosexuellen Öffentlichkeit in einem einzigen Blick sowohl das Erkennen von Homosexualität als auch das sexuelle Begehren enthalten sein. Auch ganz bestimmte Handlungsmuster tauchen in Variationen in den Texten immer wieder auf: die einmalige sexuelle Handlung, der erste homosexuelle Kontakt, aber auch der gemeinsame Freitod, der als Bestätigung der idealen homosexuellen Liebe inszeniert wird.

Eines der interessantesten Kapitel geht der spannenden Frage nach, wie es den Autorinnen gelang, Sexualität zu umschreiben. Schader entdeckt drei immer wieder aufzufindende Varianten: Ein beliebtes Mittel war die Auslassung, d.h. das Ausmalen der sexuellen Vorgänge der Fantasie der Leserin zu überlassen. Eine weitere Möglichkeit umschreibt Schader mit dem Begriff Ausdrucksvielfalt. Diese besteht aus ausufernden Aufzählungen, die das Beschriebene bis zur Beliebigkeit erweitern. Der sexuelle Akt versinkt quasi in einem Nebel von Umschreibungen. Auch hier muss die Leserin wieder auf ihre Fantasie zurückgreifen. Sexualität wurde aber auch häufig mit Hilfe von Metaphern, besonders aus dem Naturbereich, dargestellt.

Daneben gab es aber auch eine Reihe von Codes für Begehren und Erotik. Eine besondere Rolle spielten dabei die Farben. Mit deren Hilfe beschrieben die Autorinnen Augen, Haare, Mund, Körper, Licht und Gegenstände und tauchten diese dadurch in eine bestimmte Atmosphäre. Die bekannteste Farbe ist zweifelsohne das Violett, das gemeinsam mit dem Veilchen im Laufe der 20er Jahre zu dem Symbol für weibliche Homosexualität wurde. Daneben spielten aber laut Schader auch das "unendliche Blau", das "feminine Rot", das "unschuldige Weiß" sowie Schwarz (vor allem als Kleiderfarbe) eine Rolle. Hinzu kommen die Haarfarben blond und dunkelhaarig, nicht zuletzt als Gegensatzpaar. Auch der Augenfarbe kam eine wichtige Funktion zu. So gelten dunkle Augen als Zeichen sexueller Erregung und versprechen Leidenschaft, oft in Kombination mit weiteren Adjektiven wie "feurig" oder "brennend". Düfte hingegen - sowohl als Blumen als auch als künstliche Stoffe - sind häufig Begleiter einer sexuellen Verführung.

Ferner untersucht Schader die Verwendung und Bedeutung häufig genutzter Worte in der Beschreibung von Sexualität, Begehren und Erotik. So steht "süß" für sexuelle Befriedigung, "weich" für hingebungsvolle Feminität, "zitternd" für beherrschte Leidenschaft, "fest" für dominante Entschlossenheit, "wild" für unbeherrschte Leidenschaft, "heiß" wird als universeller Begriff für sexuelle Leidenschaft eingesetzt und "brennend"/ "glühend"/"lodernd" steht für bedingungslose Leidenschaft. Wie aber manifestiert sich das Begehren in den literarischen Texten? Schader drückt es so aus: "Durch die Beschreibung von sexuell motivierten Gefühlen und Handlungen waren die Autorinnen in der Lage, das, was in der erotischen Beschreibung zweidimensional blieb, zu individualisieren und damit eine Brücke zu schlagen zur Darstellung von Sexualität. Dabei wurden Emotionen wie Sehnsucht, Verlangen, Leidenschaft, Eifersucht, Rausch oder Raserei und emotional bedingte Handlungen wie Verführen, Erobern oder Hingabe zur Manifestation des Begehrens" (S. 186). Einen ersten Hinweis auf Sexualität liefern sexualisierte Beschreibungen von Körperzonen. So ist der Kuss die häufigste und oft einzige eindeutig sexuelle Handlung in den literarischen Texten. Die Darstellung von Händen, Mund und Lippen steht in engem Zusammenhang mit der Betrachtung der sexuellen Techniken "Küssen" und "manuelle Stimulation". So kommt u.a. der Beschreibung der Hände eine besondere Funktion zu: Sie drücken Liebe und Leidenschaft aus und werden in der Konstruktion weiblicher homosexueller Sexualität zum Phallus. Dagegen sind Textstellen, die den von Seiten der Fachleute als eindeutig weiblich-homosexuelle Sexualtechnik definierten Cunnilingus darstellen, selten und dann vage und uneindeutig in der Darstellung. Schader vermutet, dass eine Beschreibung aufgrund der explizit genitalfixierten Handlung schwierig war und möglicherweise auch jenseits der Schamgrenze lag. Dies gilt auch für die Beschreibung des Orgasmus. Oft hingegen wird die Sexualität als Spiel inszeniert; auch Sadismus-Masochismus wird als spielerische Inszenierung von Macht und Ohnmacht in den Texten immer wieder formuliert. In einem weiteren Kapitel beschäftigt sich Heike Schader mit der negativen Darstellung von Sexualität in den Texten, u.a mit sexueller Belästigung und Erpressung homosexueller Frauen von homosexuellen Frauen, aber auch mit der Darstellung der Sexualität heterosexueller Männer als brutal und egoistisch, wodurch gleichzeitig die Homosexualität zu etwas Positivem wird. Sicherlich muss die Art der Darstellung von Sexualität in den Texten insgesamt auch im Zusammenhang mit dem wie ein Damoklesschwert über den Zeitschriften schwebenden Aushangverbot im Zusammenhang mit dem § 184 gesehen werden. So stand u.a. Die Freundin von Mitte 1928 bis Mitte 1929 auf der Liste für "Schund- und Schmutzliteratur".

In ihrem Fazit hält Heike Schader fest, dass die literarischen Texte für die Leserinnen eine Möglichkeit darstellten, ihre eigenen erotischen und sexuellen Bedürfnisse zu überprüfen, sich neu inspirieren zu lassen, einen Einblick in die Subkultur zu erhalten und vor allem aber auch ein positives Selbstbild zu entwerfen.

Schaders Analyse steht im Spannungsfeld von Geschichts- und Literaturwissenschaft. Als Literaturwissenschaftlerin hätte ich mir eine eingehendere Analyse auf der Basis literaturwissenschaftlicher Arbeitstechniken gewünscht, was aber den Wert der Studie keineswegs schmälert. Heike Schader fasst ihre Ergebnisse leserfreundlich zusammen und überzeugt durch gut gewählte Beispiele aus ihrem Textfundus. Leider hat das Lektorat weniger akribisch gearbeitet; einige Fehler in der Kapiteleinteilung sowie Fehler im Fließtext trüben den positiven Gesamteindruck etwas.




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