Susanne zur Nieden (Hg.):
Homosexualität und Staatsräson.

Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945, Frankfurt a.M. /New York: Campus 2005, 308 S., € 24,90

Cover

 

Rezension von Martin Lücke, Bielefeld/Berlin

Erschienen in Invertito 7 (2005)

Die gute alte Politikgeschichte ist zurück. Diesen Eindruck kann man beim Blick auf den Titel von Susanne zur Niedens Sammelband gewinnen: Neben Homosexualität, Homophobie und Männlichkeit ist dort auch von Staatsräson und Politik die Rede. Das dürfte sich deutlich von den jüngsten Veröffentlichungen zur Geschichte der männlichen Homosexualität unterscheiden, die sich zumeist mit der Konstruktion sexualpathologischer Identitätskonzepte oder dem Wechselspiel von Fremd- und Selbstwahrnehmungen homosexueller Männer beschäftigt haben.

Doch der erste Eindruck täuscht: Nicht die klassische Politikgeschichte kommt hier wieder, sondern ihre neue Variante. Sie lotet aus, welche grundlegenden Wertvorstellungen erst geschaffen werden müssen, damit Politik Anspruch auf Legitimität und Hoffnung auf Erfolg haben kann. Der Band zeigt dies am Beispiel der Genese und Wirkmächtigkeit der Vorstellungen eines "homosexuellen Staatsfeindes", der wie ein Gespenst durch die deutsche Politik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geisterte und sich in fast allen politischen Lagern zu Hause fühlen konnte. So geht es der Herausgeberin nicht darum, einmal mehr die Geschichte der Homosexuellen-Bewegung oder die Entwicklung der Strafbarkeit von mann-männlicher Sexualität nachzuzeichnen. Vielmehr soll in den elf Einzelbeiträgen nach Ursache und Wirkung der "narrativen Plausibilität […] der Legende eines homosexuellen Geheimbundes" (S. 186) gefahndet werden. Es soll in den Blick geraten, wie "gleichgeschlechtliche Sexualität in Deutschland von einer verschwiegenen Sünde zu einem breit diskutierten Gesellschaftsthema" und schließlich "zum Gegenstand staatlicher Sorge" und zur "Problematisierung des Verhältnisses von Männlichkeit, Sexualität und Politik" (S. 7) werden konnte.

Die Beiträge des Bandes decken ein breites Spektrum ab: Während Claudia Bruns im Aufsatz Der homosexuelle Staatsfreund. Von der Konstruktion des erotischen Männerbunds bei Hans Blüher in den Blick nimmt, wie mann-männliche Homoerotik quasi als kultureller Kitt innerhalb von männerbündischen Zusammenhängen des Kaiserreichs konzipiert wurde, vermitteln die Beiträge Vom fragwürdigen Zauber männlicher Schönheit. Politik und Homoerotik in Leben und Werk von Thomas und Klaus Mann von Harry Oosterhuis und Aufstieg und Fall des virilen Männerhelden. Der Skandal um Ernst Röhm und seine Ermordung von Susanne zur Nieden zwischen der Weimarer Zeit und dem Nationalsozialismus. Anson Rabinbach, Armin Nolzen, Wolfgang Dierker und Bernward Dörner widmen sich ausschließlich der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Vorstellung des homosexuellen Staatsfeindes im Begriff des homosexuellen Volksfeindes aufging. Im Rahmen dieser Rezension sollen der einleitende Aufsatz von Susanne zur Nieden, die Analyse des Eulenburg-Skandals von Claudia Bruns und der Beitrag von Marita Keilson-Lauritz besonders in den Blick genommen werden.

Susanne zur Nieden schlägt in ihrem Beitrag Homophobie und Staatsräson eine Brücke, die sich von der Genese des Konzeptes der als pathologisch konzipierten homosexuellen Persönlichkeit im Kaiserreich und dem Eulenburg-Harden-Skandal zum so genannten "Röhm-Putsch" 1934 erstreckt. Damit geraten zwei zentrale politische Ereignisse in den Blick, anhand derer sie eine homophobe Kontinuität in der deutschen Politik nachweisen möchte. Diese Brücke überspannt jedoch einen sehr großen Zeitraum und lässt die Weimarer Jahre fast unberücksichtigt. Zwar deutet zur Nieden an, dass gerade in der Weimarer Zeit lebhafte politische Debatten über männliche Homosexualität geführt wurden, lässt hier jedoch nur nationalsozialistische Stimmen, etwa zur Reform des § 175, zu Wort kommen (S. 29-31). Welche Relevanz die Weimarer Jahre für die Entwicklung der "narrativen Plausibilität […] der Legende eines homosexuellen Geheimbundes" hatten, bleibt deshalb weitgehend offen. Dieser Einwand soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass zur Niedens Ausführungen zum Kaiserreich und zum Nationalsozialismus durchaus überzeugen und der Vergleich des Eulenburg-Skandals mit dem "Röhm-Putsch" ein viel versprechender Ansatz ist.

Dass das kommunikative Wechselspiel von Politik und Homophobie stets auch etwas mit den jeweils dominierenden Vorstellungen von Männlichkeit zu tun hat, zeigt Claudia Bruns in ihrem Beitrag Skandale im Beraterkreis um Kaiser Wilhelm II. Sie arbeitet heraus, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Etablierung eines bürgerlichen Männlichkeitsmodells kam, dessen Kennzeichen die "Codierung der männlichen Identität über das eigene sexuelle Begehren" (S. 76) war. Adelige Männer unter Homosexualitätsverdacht konnten nun von den bürgerlichen Männern "als unmännlich und abnorm" (S. 76) gebrandmarkt werden. Indem Bruns die Metaebene der Männlichkeit als Ursache für die Genese antihomosexueller Stereotype nutzbar macht, gelingt ihr eine überzeugende Verknüpfung von historischer Männlichkeitsforschung und der Historiographie der Homosexualitäten. Bemerkenswert ist hier die Rolle des Kaisers als erster Mann im Staate: Er erscheint bei Claudia Bruns als Exponent einer gebrochenen Männlichkeit im Zwiespalt zwischen alten adeligen Männerbildern und dem neuen nach Hegemonie strebenden bürgerlichen Männlichkeitsmodell.

Marita Keilson-Lauritz verspricht, in ihrem Beitrag Tanten, Kerle und Skandale aufzuzeigen, dass die Flügelkämpfe innerhalb der Homosexuellen-Bewegung nicht zwangsläufig ein lähmendes Moment waren, sondern eventuell auch dazu beigetragen haben könnten, die Akzeptanz von Homosexualität in der Gesellschaft zu erhöhen. Ihr Beitrag sticht hervor, weil er als der einzige im Band versucht auszuloten, ob und wie es überhaupt gelingen konnte, am homophoben Festbeton der Gesellschaft zu kratzen. Nicht die Genese einer narrativen Plausibilität steht bei Keilson-Lauritz also im Mittelpunkt, sondern sie erörtert die Möglichkeiten, diese scheinbare Plausibilität ins Unplausible zu überführen. Ihre These vom befruchtenden Moment der Konkurrenz zwischen den Drittgeschlechtlern auf der einen und den Maskulinisten auf der anderen Seite nennt sie zu Recht eine "etwas kühne These" (S. 83). Leider vertröstet Keilson-Lauritz die gespannten Leserinnen und Leser auf später und stellt heraus, ihr Beitrag diene erst einmal nur dem Zweck, eine "Nachprüfung in größerem Stil" (S. 83) anzuregen. Sie legt jedoch überzeugend dar, wie das Ringen um die Teilhabe an kultureller Männlichkeit auf der einen Seite und der Versuch, Homosexualität biologistisch zu begründen, auf der anderen Seite die Debatten der Homosexuellen-Bewegung bestimmt haben. Ihre Analogieschlüsse zum so genannten "Tuntenstreit" der 1970er Jahre sind ebenso kühn und können zur Diskussion anregen: Zwar ist es unbestritten, dass es Ähnlichkeiten zwischen den homosexuellen Flügelkämpfen der 1920er und 1970er Jahre gab, aber war die von Adolf Brand 1925 als Zerrbild entworfene "Tante" tatsächlich eine Mutter der emanzipierten "Tunte" der 1970er Jahre?

Der Sammelband erreicht das Ziel, die historische Erforschung der männlichen Homosexualität in der modernen Politikgeschichte zu platzieren, indem aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird, auf welche Weise die Diskurse über Homosexualität politische Kommunikationsräume eröffnen konnten und mit welcher Politik diese dann ausgefüllt wurden. Dass dabei auch Aspekte der Männlichkeitsgeschichte zur Deutung des Phänomens der Homosexuellen-Feindlichkeit mit einfließen, ist besonders erfreulich. Wie bereits mehrfach angedeutet, hätte man sich jedoch einen vertiefenden Einblick in die Weimarer Verhältnisse gewünscht. So bleibt zwar die Erkenntnis haften, dass es für sozialdemokratische und kommunistische Exilanten nach 1933 ein Leichtes war, nun ihrerseits mit dem Homosexualitätsvorwurf aufzutrumpfen, um die nationalsozialistischen Gegner erfolgreich zu verunglimpfen. Welche Bedeutung es jedoch hatte, dass SPD und KPD in den 1920er Jahren Verbündete der Homosexuellen-Bewegung waren, verrät uns niemand.




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