David Johnston:
Federico García Lorca

Leben hinter Masken, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2003, 176 S., € 19,90

Cover

 

Rezension von Werner Altmann, Augsburg

Erschienen in Invertito 6 (2004)

Als der irische Hispanist Ian Gibson 1985 und 1987 seine zweibändige, über tausend Seiten starke Biographie über Federico García Lorca publizierte, schien alles, was über den bedeutendsten spanischen Lyriker und Dramatiker des 20. Jahrhunderts zu sagen war, gesagt zu sein. Gibson, der über 20 Jahre lang allen noch so kleinen Spuren gefolgt war, musste später (anlässlich des 100. Geburtstages des Dichters) allerdings einräumen, dass Lorcas Leben trotz aller Bemühungen nur unvollständig bekannt sei. So fehlten wichtige Briefe Lorcas an seine Freunde (vor allem an seine beiden Geliebten Emilio Aladrén Perojo und Rafael Rodríguez Rapún) sowie der Schriftverkehr mit seiner Mutter; erhaltene Briefe seien oft nur fragmentarisch überliefert oder würden bewusst zurückgehalten, Zeugnisse von langjährigen Freunden (wie zum Beispiel das Tagebuch von Carlos Morla Lynch oder das intime Wissen von Rafael Martínez Nadal) seien möglicherweise für immer verloren. Über Lorcas bestialische Ermordung zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs fehlten immer noch wichtige Daten, so dass die genauen Umstände seines Todes bis heute nicht restlos geklärt werden können. Eine vor wenigen Monaten geforderte Exhumierung der Leiche (der Platz, an dem Lorca erschossen und vergraben wurde, ist bekannt) lehnt die Familie strikt ab. Unklar dabei ist, ob nur, wie die Familie vorgibt, die Totenruhe bewahrt werden soll, oder ob sie befürchtet, unbequeme Details könnten ans Tageslicht befördert werden.

Der Hauptgrund für die vielen "ausencias lorquianas" sind jedoch mit Sicherheit nicht irgendwelche Geheimnisse, sondern die tabuisierte Homosexualität des Dichters, die heute zwar nicht mehr geleugnet wird, mit der sich aber auch nur wenige auseinander setzen wollen. Zwar hat sich Gibson nicht gescheut, alles, was er über das Liebesleben Lorcas auffinden konnte (viel war es nicht) in seine Biographie einzuarbeiten, wie die Homosexualität aber Lorcas Schaffen beeinflusste, ist immer noch ein weitgehendes Desiderat der Forschung. Die Mehrzahl der Arbeiten konzentrieren sich entweder nur auf ein bestimmtes Werk, wie die minutiöse Studie über El Público von Julio Huélamo Kosma (1996), oder auf eine einzelne Gattung, wie Moraima de Semprún Donahues Untersuchung der wenig bekannten Erzählungen Lorcas (1975), oder sie behandeln nur ausgesuchte Schaffensperioden, wie Eutimio Martíns umfangreiche Analyse von Lorcas Jugendwerken (1986) oder Uta Feltens moderne Interpretation des "surrealistischen" Lorca (1998). Bis heute gibt es nur wenige Monographien, die Lorcas Homosexualität als Schlüssel für sein ganzes Werk betrachten, wie Paul Bindings Lorca. The Gay Imagination (1985), Angel Sahuquillos Federico García Lorca y la cultura de la homosexualidad masculina (1991) und Werner Altmanns Der Schmetterling, der nicht fliegen konnte (2002). In diese Reihe ist nun auch David Johnstons (von Alice Jakubeit aus dem Englischen übersetzt) neue Biographie zu stellen.

Johnstons Verdienst ist es, Lorcas Leben ganz und gar als Ausdruck seiner sexuellen Dissidenz zu interpretieren. Diese führte den Dichter - so die These des Autors - zu einem individuellen Nonkonformismus und zu einer radikalen Gesellschafts- und Kulturkritik, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Spanien nur selten vorkam. Johnston warnt aber - zu Recht - davor, Lorca zu einem politischen Aktivisten zu stilisieren. Sein in den 30er Jahren zunehmend zur Schau gestelltes "linkes" Engagement sei letztendlich doch nur einem gewandelten Zeitgeist und einem unverbindlichen intellektuellen Habitus verhaftet geblieben. Auch die Motive von Lorcas Mördern werden von Johnston nicht monokausal reduziert. Er sieht "primär" politische Gründe, doch lässt er keinen Zweifel daran, dass Lorcas "schwankende Sexualität" (wie es in einem damaligen Zeitungsartikel hieß) einen zusätzlichen Faktor darstellte. Auf der anderen Seite stilisiert Johnston Lorca doch zu einem "homosexuellen Märtyrer" (S. 19) hoch, der "alternative Lebensweisen" geradezu "zelebrierte" (S. 10). Johnston übersieht dabei geflissentlich Lorcas traditionelle Denkstrukturen: sein einseitiges Männerbild, das nur den "virilen" Mann, nicht aber die "Tunte" anerkennt, sein Festhalten an der bürgerlichen Kleinfamilie, die für ihn wohl auch das Vorbild einer mann-männlichen Beziehung abgab, und nicht zuletzt seinen misogynen Abwehrmechanismus, der ihn immer wieder zu frauenfeindlichen Äußerungen hinriss.

Der zweite Anspruch des Buches (zumindest wenn man dem Klappentext folgt) besteht darin, Lorcas Homosexualität auch in seinen Gedichten und Dramen nachzuweisen, wie etwa im Romancero gitano, der bislang noch kaum unter diesem Aspekt untersucht worden ist. Antoñito el Camborio wird von Johnston nicht - wie üblich - als freiheitsliebender "Zigeuner" folkloristisch ausgeschlachtet. Im Gegenteil: Johnston hebt an ihm das "Feminine" und "Tuntenhafte" hervor, das die heterosexuelle Männlichkeit seiner Verfolger (der Zivilgardisten) mit voller Absicht konterkariert. Der Autor macht auch deutlich, dass Walt Whitmans "Reinheit", die von Lorca in der gleichnamigen Ode aus dem Poeta en Nueva York den promisken Homosexuellen der nordamerikanischen Metropolen als Vorbild entgegengesetzt wird, kein asexuelles Postulat darstellt, sondern als ein "unschuldiges Genießen der Sexualität" (S. 115f.) im Sinne einer griechischen Ganzheitlichkeit von Körper und Seele zu verstehen ist. Leider lassen sich solch bravourösen Erkenntnisse nicht durchgehend feststellen. In der Romance sonámbulo soll Lorca etwas unverbindlich "die Lebenskraft und die Tragik des Lebens zugleich" beschworen haben, wobei "keines der beiden Phänomene" (S. 103) erklärt wird. Und in den Sonetos del amor oscuro sieht Johnston nur die Darstellung der "Gegenwart des Geliebten", die "Freuden und Qualen durch Briefe und Anrufe" sowie die "Erfahrung, das Bett zu teilen" (S. 148). Solche Interpretationen bleiben im Konventionellen und Traditionellen stecken und verharmlosen die sexuelle Sprengkraft der genannten Gedichte.

Trotz der vorgebrachten und berechtigten Kritik im Detail ist das Buch jedoch insgesamt eine gute und lesenswerte Einführung in Lorcas Leben und Werk. Es ist eine auf dem neuesten Stand der Forschung fußende Zusammenfassung, eine prägnante und gedrängte Kompilation des gibsonschen Monumentalwerkes.




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