Jens Dobler:
Von anderen Ufern

Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain, Berlin: Bruno Gmünder Verlag 2003, 320 S., € 15

Cover

 

Rezension von Jürgen Müller, Köln

Erschienen in Invertito 6 (2004)

Jens Dobler legt mit seiner Publikation ein Novum in der lokalhistorischen Forschung zur Geschichte der Homosexualitäten vor. Viele LokalforscherInnen scheitern schon daran, die Homo-Geschichte einer Großstadt zu rekonstruieren. Umso schwieriger scheint es, die Geschichte der Lesben und Schwulen zweier Stadtteile, Kreuzberg und Friedrichshain, der Homo-Metropole Berlin zu schreiben. Um es vorwegzunehmen: Sein Vorhaben ist gelungen. Zugute kam Jens Dobler dabei, dass Kreuzberg und Friedrichshain nicht zwei beliebige Stadtteile, sondern mit die Zentren schwul-lesbischer Geschichte Berlins waren und sind. Es ist faszinierend, welche und wie viele Informationen Dobler zusammengetragen hat und wie viele Facetten der Homosexuellenszene er hier präsentiert.

Das Buch ist als Begleitband des gleichnamigen Forschungs- und Ausstellungsprojekts im Kreuzberg Museum erschienen, das von. Jens Dobler geleitet wurde. Die im Buch vorgestellten Erkenntnisse basieren im Wesentlichen auf seiner Forschungsarbeit. Die Ausstellung im Bezirksmuseums Kreuzberg (25. Mai bis 30. September 2003) wurde wegen des großen Zuspruchs bis Ende 2003 verlängert. "Wo die Wissenschaft an ihre Grenzen stößt," so Dobler, "haben wir Autorinnen und Autoren aus der Literatur dazu geholt und Akteure selber sprechen lassen" (S. 8). Zum Begleitband hat ferner der Historiker Andreas Pretzel einen Beitrag über homosexuelle Männer als NS-Opfer beigesteuert.

Ein Begleitband, wie man ihn sich wünscht: Er enthält zahlreiche großformatige und teilweise farbige Abbildungen. Ob Postkarten, die Innenansichten der Ballsäle und Cafés zeigen oder zeitgenössische Travestie-Stars porträtieren, ob Zeichnungen, Theaterzettel, Anzeigen, Fotos aus Privatbesitz: Sie alle lassen die Vergangenheit wieder lebendig vor Augen erstehen. In diesem Zusammenhang ist auch die grafische Gestaltung des Buches als gelungen zu bezeichnen. Ein Namens- und ein Straßenregister laden zum Stöbern ein.

Ein zentrales Anliegen der Ausstellung war es, nicht nur die Geschichte homosexueller Männer, sondern auch die homosexueller Frauen zu zeigen. Das uneingeschränkte Lob für die Ausstellung verdeutlicht auch ein Eintrag der Pionierin der Lesbengeschichte Ilse Kokula vom 18. Juli 2003 im Gästebuch: "Habe mir heute die Ausstellung zum zweiten Mal angesehen. Sie ist gut gemacht, informativ und deckt viele Aspekte ab. Schön, daß Frauen und Männer gleichgewichtig vorkommen." Dieser Anspruch bestimmte auch die Publikation und soweit es die Quellenlage ermöglichte wird Dobler diesem Anspruch gerecht.

Das Buch umfasst den Zeitraum vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Die einzelnen Epochen (Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, 50er und 60er Jahre sowie die Zeit nach 1969) sind dabei sehr unterschiedlich gewichtet, so sind der Weimarer Republik 26 teilweise sehr knappe Abschnitte gewidmet (122 S.); der Zeit nach 1969 dagegen nur sechs Beiträge (23 S.). Die auf den ersten Blick kleinteilige und überfrachtet wirkende Gliederung verweist auf das Konzept des Verfassers: Es gibt nicht "die Geschichte der Lesben und Schwulen, sondern es sind sehr viele Geschichten, Teilstücke, Hinweise - Mosaikstücke, die ein Ganzes erahnen lassen."(S. 7) Und so erscheint es konsequent, wenn Dobler zahlreichen Themen einen eigenen, wenn auch nur kurzen Abschnitt widmet.

Diesem Ansatz entsprechend hat Dobler nicht den Anspruch, eine umfassende Geschichte der männlichen und weiblichen Homosexuellen dieser beiden Stadtteile zu schreiben. Überregionale Aspekte wie die Entwicklung des Strafrechts oder gesamtgesellschaftliche und politische Aspekte entfallen. Ein Ansatz, der für eine Publikation, die aus einem lokalgeschichtlichen Ausstellungsprojekt entstand, gerechtfertigt ist; er wird ein Publikum, das sich für die eigenen historischen Wurzeln (vor allem in der Alltagsgeschichte) interessiert, ansprechen.

Ein Kritikpunkt ist der manchmal zu saloppe Sprachstil. Jens Dobler schreibt beispielsweise durchweg von Schwulen und Lesben, was dem Selbstverständnis der handelnden Personen nicht für alle Zeitabschnitte gerecht wird; ebenso ist ein Begriff wie "Bermudadreieck" für die Lokalszene in der Alexandrinenstraße für die 20er Jahre nicht zeitgemäß.

Im Mittelpunkt der beiden Epochen Kaiserzeit und Weimarer Republik steht die Subkultur. Sie ist thematischer Kristallisationspunkt. Sei es, dass über die Lokale geschrieben wird, über die Vereine der Emanzipationsbewegung, Festveranstaltungen, Theater, Verlage, Gewerbe- und Dienstleistungen oder über Prostitution. Hier zeichnet Dobler ein facettenreiches, lebendiges Bild der homosexuellen Subkultur, indem er an vielen Stellen ausführlich aus zeitgenössischen Homosexuellenzeitschriften zitiert. Dem Reichtum an unterschiedlichen Lokalen in den beiden Stadtteilen wird Dobler dadurch gerecht, dass er einerseits Lokaltypen vorstellt, wie zum Beispiel die "Inflationskneipen", die Lokale verschiedener Straßen präsentiert ("Ein Bummel durch die Alte Jakobstraße" und "Bermudadreieck Alexandrinenstraße") und schließlich einzelne prominente Treffpunkte wie zum Beispiel "Anna Jänsch und die Goldene Kugel", "Rheinischer Hof - Lesbenzentrum oder Absteigequartier?" und "Christopher Isherwood und das Cosy Corner" ausführlich porträtiert.

In einem zweiten Schwerpunkt stellt Dobler zeitgenössische Persönlichkeiten vor. So wird über den Aktivisten der Gemeinschaft des Eigenen und Journalisten Ewald Tscheck ebenso berichtet, wie über den englischen Schriftsteller Christopher Isherwood oder den/die Artistin Willi Pape. Dieser biographische Ansatz verdeutlicht zugleich eine grundlegende Problematik einer solchen Mikrostudie, denn den Wohnort, den Arbeitsplatz oder das "Lieblingslokal" als Aufhänger zu verwenden, um eine Person näher vorzustellen, ist letztlich beliebig. Die vorgestellten Personen könnten mit gleicher Berechtigung auch für ganz andere Stadtteile Berlins oder andere Städte stehen. Nichtsdestotrotz sind diese Abschnitte ebenfalls spannend zu lesen. Verwunderlich ist, dass den Klappen, Parkanlagen und Bädern für keine der Epochen ein eigener Abschnitt gewidmet wurde.

Die NS-Zeit stellt sich inhaltlich wie auch von der Quellenlage her als deutlicher Gegenpart zu den beiden vorherigen Epochen dar. Die Homosexuellenzeitschriften mussten ihr Erscheinen einstellen, Selbstzeugnisse wurden weitgehend vernichtet, übrig bleiben die Akten der Verfolgerinstitutionen. Damit wechselt Dobler zwar die Perspektive, nicht aber das Sujet. Anschaulich beschreibt er die Repressionen gegen die Subkultur, die schon vor der Machtübernahme der NSDAP beginnen. Im Abschnitt "Der Lesbenclub 'Lustige Neun'", ein so genannter Damenclub, bezieht sich Dobler auf eine Ermittlungsakte der Gestapo (1935-1940). Er liest sie gegen den Strich und zeichnet so das Bild einer Lesbengruppe, die trotz Beobachtung ihrer Aktivitäten durch die Berliner Gestapo Bälle mit bis zu 300 tanzenden Frauen veranstaltete. Im Beitrag über die "Gerichtsprozesse" zeichnet Dobler Situationen nach, die zur Verhaftung homosexueller Männer führten. Die Fülle von 41 knapp dargestellten Fällen ermöglicht es dem Verfasser, die Bandbreite möglicher Verhaftungsanlässe und die permanente Bedrohung durch eine Verhaftung vor Augen zu führen. Dobler resümiert, "dass es fast jeden treffen konnte, jeden Jugendlichen und Mann zwischen 14 und 80 Jahren."(S. 191)

Andreas Pretzels Artikel über ermordete Homosexuelle aus Kreuzberg und Friedrichshain stellt eine Art Totenbuch dar. Zu fast 40 homosexuellen Männern gibt er unterschiedlich umfangreiche biographische Notizen. Da der Fokus auf der Subkultur der beiden Berliner Bezirke und den dort lebenden homosexuellen Männern und Frauen liegt, bleiben die Verfolgungsinstitutionen wie Gestapo, Kripo, Justiz und Strafvollstreckungsbehörden ausgeblendet.

Im Kapitel über die 50er und 60er Jahre steht wieder die Lokal- und Kneipenszene im Mittelpunkt. Nach einer allgemeinen Einführung in die Lebenssituation homosexueller Männer und Frauen widmen sich zwei Artikel ganz allgemein der Lokalszene (in Kreuzberg und am Lausitzer Platz), zwei weitere Artikel der Gaststätte "Hartungs Bier- und Weinstuben" und der Wirtin Elli Hartung. In diesem wie auch in dem Kapitel "1969 bis heute" treten neben die historische Forschung literarische Texte: Peter Thilos "Überfall bei Elli" und "Kneipenszene am Lausitzer Platz" sowie Peter O. Chotjewitz' "Kreuzberger Miniaturen"; von Zeitzeugen verfasst, haben durchaus auch historischen Quellenwert. Hier vermisse ich allerdings Hinweise über Entstehung und Intention der Beiträge. Die Quellenangaben und die kurzen Informationen über die Autoren im Anhang genügen nicht zur historischen Bewertung. Auf drei Texte dieses Kapitels sei besonders verwiesen: "Hartungs Bier- und Weinstuben", "Kurt Neuburger (1902-1996)" und "Kreuzberg tanzt". Diese drei Artikel basieren auf historischer Recherche. Elli Hartungs Lokal war in den 50er und 60er Jahren eines der populärsten Lokale der Kreuzberger Szene. Aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet Dobler dieses Lokal, er geht auf die Kontrollen durch die Polizei ein, auf die Schutzmaßnahmen, mit denen die Gäste darauf reagierten und die Entwicklung des Lokals zu Berlins erster Lederbar. Unter dem Namen Monis Bierbar schloss dieses Traditionslokal 1990. In der biographischen Skizze zu Kurt Neuburger zeichnet Dobler den Lebensweg des Künstlers (Schauspieler, Musiker, Publizist, Lyriker) von den 20er bis in die 80er Jahre nach. Dobler setzt sich kritisch mit Neuburgers antisemitisch geprägter Haltung in den 20er Jahren und den Versuchen, in den 50er Jahren Entschädigungsleistungen als politisch Verfolgter zu erhalten, auseinander. Die vielen Hinweise auf die unterschiedlichsten Aspekte seines Lebens formen das Bild einer interessanten Persönlichkeit und machen neugierig auf mehr Biographieforschung. Der B eitrag "Kreuzberg tanzt" basiert im Wesentlichen auf den Erinnerungen Bernd Feuerhelms, des Protagonisten in Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt. Die Erinnerungen des gebürtigen Kreuzbergers an die verschiedenen Homosexuellen-Lokale nimmt Dobler zum Anlass, die Kreuzberger Szene der 50er und 60er Jahre in ihrer Vielfältigkeit nachzuzeichnen.

Der Zeitraum von 1969 bis zur Gegenwart umfasst sechs Beiträge, drei davon von Frauen als Zeitzeuginnen verfasst. Diese drei Artikel bieten interessante Einblicke, die intensiv und bereichernd sind. Zum Beispiel "Naunyn 58: Wir sind Gäste des Prinzen" von Lilo Rößler und Kristine Preuß in die Lesben-Hausbesetzerszene oder "Kreuzberg - Ein Bezirk wie ein Popstar, mit Allüren und Charisma", Annette Berrs Bericht über Drogen und Sex in der Lesbenszene. Allerdings ist auch hier der Charakter dieser beiden Texte nicht eindeutig erkennbar.

Jens Dobler hat ein Buch verfasst, das wohl den facettenreichsten Blick auf die Alltagsgeschichte homosexueller Männer und Frauen wirft.




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