Andreas Seeck (Hg.):
Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?

Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld,
Münster, LIT 2003, 272 S., € 25,90

Cover

 

Rezension von Stefan Micheler, Hamburg

Erschienen in Invertito 6 (2004)

Der Berliner Arzt Magnus Hirschfeld (1868-1935) war nicht nur ein führender Repräsentant der "homosexuellen Bewegung" und ein maßgeblicher, populärer Sexualwissenschaftler während des Deutschen Kaiserreiches und der Weimarer Republik, sondern dürfte auch diejenige historische homosexuelle Persönlichkeit sein, zu deren Biographie und Werk es die meisten Untersuchungen und Beiträge gibt. Aus Anlass des zwanzigjährigen Bestehens der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG) hat der Berliner Ethnologe Andreas Seeck 2003 eine Sammlung von 21 Texten von 14 AutorInnen zur kritischen Rezeption des Schaffens von Hirschfeld herausgegeben. Die Texte stammen aus den Jahren von 1983 bis 2002 und dokumentieren die wissenschaftspolitische Auseinandersetzung mit dem Wirken und den Schriften Hirschfelds durch Sexualwissenschaft und Schwulenbewegung sowie deren Berührungspunkte. Die Texte stammen von Volkmar Sigusch (1983, 1984, 1985/1990, 1995), Hans-Günter Klein (1983), Martin Dannecker (1983, 1996), Gunter Schmidt (1984, 1986), Ralf Dose (1989), Günter Grau (1989), Manfred Herzer (1992, 1998), Gesa Lindemann (1993), Rainer Herrn (1993, 2002), J. Edgar Bauer (1998), Andreas Seeck (1998), Sophinette Becker (2000), Andreas Pretzel (2000) und Christina von Braun (2001). Da Peter Kratz nicht mit dem Abdruck seiner beiden Beiträge aus dem Jahr 2000 einverstanden war, referiert Seeck deren Kernaussagen in einem eigenen Beitrag, um Andreas Pretzels Erwiderung nachvollziehbar zu machen.

"Die Textsammlung soll", so schreibt der Herausgeber, "Material für ein Zwischenresümee" der Bewertung Hirschfelds "liefern und Ausgangspunkte für weitere Diskussionen bieten" (7). Seeck hat den wieder abgedruckten Texten eine ansprechende Einleitung vorangestellt, in der er die Hirschfeld-Rezeption beleuchtet, die Beiträge zusammenfassend überblickt sowie die zentralen Themen der Beschäftigung mit Hirschfeld und der Kritik an ihm benennt. Eine von ihm erstellte Bio-Bibliographie Hirschfelds rundet den Band ab.

Seeck zeichnet in der Einleitung überblickend die Hirschfeld-Rezeption bzw. dessen Ignoranz durch "Homosexuellen-Bewegung", Schwulenbewegung und Sexualwissenschaft seit der Nachkriegszeit nach: Während die ersten Homosexuellen-Gruppen nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes versuchten, an die Traditionen des Kaiserreiches und der ersten Republik anzuknüpfen, maß die Schwulenbewegung der 70er Jahre Hirschfeld zunächst keine Bedeutung bei, da viele Aktivisten die Frage nach den Ursachen von Homosexualität hinsichtlich einer Emanzipation von Schwulen und Lesben für kontraproduktiv hielten. Für die Sexualwissenschaft spielten Hirschfelds Theorie und seine Verbindung von Wissenschaft und Politik in beiden deutschen Staaten kaum eine Rolle, sein Datenmaterial wurde hingegen herangezogen. Für Hans Giese, Seeck bezeichnet ihn treffend als "Hauptinitiator" der westdeutschen Sexualwissenschaft, mit seinem psychologischen, soziologischen, psychiatrischen und philosophisch-anthropologischen Herangehen habe Hirschfelds biologische Theorie keinen Nutzen gehabt, auch habe Giese sich aus Angst, als Wissenschaftler diskreditiert zu werden, vor einer Verbindung von Sexualwissenschaft und Sexualemanzipation gescheut. Bis 1983 sei Hirschfelds Werk eher selten rezipiert worden, u.a. setzten sich Martin Dannecker und Reimut Reiche 1974 in Der gewöhnliche Homosexuelle mit Hirschfeld auseinander.

Für den deutlichen Anstieg der Zahl der sich mit Hirschfeld beschäftigenden Texte im Jahr 1983 sieht Seeck drei Gründe: Zum einen die Gründung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und die Herausgabe ihrer Mitteilungen mit dem Ziel, anlässlich des 50. Jahrestages der Machtübernahme der NSDAP auch der homosexuellen Opfer der NS-Herrschaft zu gedenken, die Wiedereinrichtung des 1933 zerstörten Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin zu erreichen und an Hirschfeld und dessen Werk zu erinnern. Zum zweiten den auch im Band abgedruckten Aufsatz von Volkmar Sigusch in der Zeitschrift für Sexualmedizin, den Seeck als Reaktion auf die Gründung der MHG und die Angst, dort würde Hagiographie betrieben, ansieht. Zum dritten die Präsentation der von Erwin Haeberle in den USA erstellten Ausstellung Anfänge der Sexualwissenschaft an der Universität Hamburg, den zugehörigen Ausstellungskatalog und den kritischen Eröffnungsvortrag von Friedemann Pfäfflin.

Die grundsätzliche Problematik der Bewertung des Wirkens und Werks von Hirschfeld, mit der sich die Beiträge beschäftigen, skizziert Seeck einleitend wie folgt: "'Per scientiam ad justitiam' - 'Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit' war ein Motto, auf das sich [...] Magnus Hirschfeld [...] immer wieder bei seinen Arbeiten bezog; ob es sein unermüdlicher Kampf gegen die gesellschaftliche Ächtung und strafrechtliche Verfolgung Homosexueller war, sein Einsatz für bessere Lebensbedingungen von Transvestiten und Hermaphroditen oder in der Prostitutionsfrage und der eugenischen Eheberatung. Wissenschaft sollte nicht zum Selbstzweck, sondern zum Wohl der Menschen da sein und zu einer besseren, gerechteren Welt führen. Hirschfelds reformerisches und emanzipatorisches Engagement wird wohl von niemandem, der sich eingehender mit seinem Lebenswerk auseinander[ge]setzt hat, bestritten. Aber gerade sein unerschütterlicher Glaube an eine 'unvoreingenommene' Wissenschaft und deren befreiende Kraft und seine konsequente Rückführung alles Sexuellen auf eine 'sichere' Naturwissenschaft, die Biologie, brachten Unterströmungen mit sich, welche die aufklärerischen Ziele und Ideale zu korrumpieren drohten oder ihnen tatsächlich zuwiderliefen" (7).

Alle Beiträge beschäftigen sich aus unterschiedlicher Perspektive mit Hirschfelds positivistischer Wissenschaftsgläubigkeit. Zentral ist in vielen Beiträgen auch die Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Eugenik im Werke Hirschfelds, denn auch Hirschfeld trat wie viele zeitgenössische Sexualwissenschaftler für "positive Eugenik" (Förderung der Vererbung "nützlicher Gene") und "negative Eugenik" (Verminderung der Vererbung "schädlicher Gene") ein. Seeck unterstreicht, dass Hirschfeld die "großen Gefahren, welche das von ihm mit getragene eugenische Denken für die Gesellschaft in sich barg" (12), übersah. So habe Hirschfeld den Zwickauer Medizinalrat Gustav Boeters, der 1925 einen Entwurf für ein Zwangssterilisationsgesetz ("Lex Zwickau") vorlegte, 1930 als einen "von hohen Idealen erfüllten Mann" bezeichnet, der "das bedeutsame Sterilisationsproblem auch in Deutschland zur gründlichen Erörterung gestellt" habe (Geschlechtskunde, Bd. 3, 1930, S. 42). Nachdem die "Lex Zwickau" 1933 als "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" Rechtskraft erhielt, habe Hirschfeld, inzwischen im Pariser Exil, keine prinzipielle Kritik geäußert, sondern sich auf die Gefahr des Missbrauchs des Gesetzes konzentriert und Kritik auf die Frage der Durchführbarkeit beschränkt. Für Seeck hat die bisherige Diskussion drei wesentliche Ergebnisse geliefert: Hirschfeld habe Eugenik nicht mit Rassismus verbunden, er sei kein Vordenker der Eugenik gewesen, jedoch ein Popularisierer, Hirschfeld habe sich für eine "konsensbezogene Eugenik" eingesetzt, "die auf Freiwilligkeit basieren und weitgehend auf Zwangsmaßnahmen verzichten sollte" (13), für Zwangssterilisationen habe er sich bei Menschen ausgesprochen, die geistig nicht über sich selbst verfügen könnten, und bei Menschen, die schwere sexuelle Gewalttaten verübt hätten.

Das zweite zentrale Thema des Bandes ist Hirschfelds "Biologistische Argumentation für die Rechte Homosexueller". Seeck fasst die in den Beiträgen geäußerten Positionen wie folgt zusammen: Die biologistische Argumentation Hirschfelds, "Homosexualität sei eine angeborene, 'natürliche' Konstitution und dürfe als solche nicht unter Strafe gestellt werden", habe neben der Argumentation gegen das Strafrecht zwei weitere vermeintliche Vorteile gehabt: Sie habe den Vorstellungen von "Verführtwerden" zur Homosexualität und der Möglichkeit zur Heilung durch Eheschließung oder Psychotherapie eine Absage erteilt. Gleichzeitig unterstreiche aber die Vorstellung, Homosexualität sei eine Anlage, die Möglichkeit, die Anlage als unerwünscht, abweichend und krankhaft zu betrachten und nach Mitteln zu ihrer Beseitigung oder Vermeidung zu suchen. Seeck stellt fest: "Was als naturgegebene Abweichung angesehen wird, kann sehr leicht auch zu einer krankhaften Anomalie umgedeutet werden" (15). Hirschfeld selbst habe behauptet, von Homosexuellen gezeugte Kinder seien nur "selten vollwertig" (Geschlechtskunde, Bd. 1, 1926, 573). Mit seiner für einen kurzen Zeitraum ausgesprochenen Empfehlung zur Kastration für Männer, die "von Homosexualität geheilt" werden wollten, leistete Hirschfeld selbst einen Beitrag zu diesem Diskurs, der nie bis heute nicht an Bedeutung verloren hat. Er reicht von der Suche der NS-Machthaber nach einem Instrumentarium zur Beseitigung der Homosexualität über die Rattenversuche des Ostberliner Endokrinologen Günter Dörner, der auch für diese Forschungen 2002 das Bundesverdienstkreuz erhielt, bis hin zur Suche nach einem "Homo-Gen" seit den 90er Jahren.

Weitere Gegenstände einiger der abgedruckten Aufsätze sind "Hirschfeld, Sexualwissenschaft und Judentum" sowie "Die historische Bedeutung der Zwischenstufentheorie". Seeck unterstreicht in Anlehnung an verschiedene Autoren zu Recht, dass die Zwischenstufentheorie mehr als bloß eine Theorie der Homosexualität ist. Vielmehr ist sie eine Theorie der Geschlechter und des sexuellen Begehrens mit der Intention, vermeintliche Abweichungen als "natürliche Varianten" zu betrachten. Insbesondere die jüngsten Beiträge, die auch unter dem Einfluss der Fragen der Queer Theory stehen, betrachten Hirschfeld vornehmlich als Kritiker der Geschlechterdichotomie, sehen ihn als Pionier einer Relativierung der Kategorie Geschlecht oder versuchen, seine diesbezüglichen wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Wurzeln aufzuzeigen.

Andreas Seeck hat eine wichtige Aufsatzsammlung für alle vorgelegt, die sich wissenschaftlich, politisch und wissenschaftspolitisch mit Magnus Hirschfeld und seinem Werk beschäftigen, ein wichtiger Band, in dem maßgebliche Texte versammelt sind. Die Texte dokumentieren in ihrer Gesamtheit die Widersprüche von Hirschfelds Werk, die einerseits in seinem Eklektizismus und andererseits in politischen Strategien begründet liegen. Sie zeigen nicht nur Hirschfelds emanzipatorische Ansätze, sondern auch seine anti-emanzipatorischen Ideen, seinen Positivismus, sein Verhaftetsein in zeitgenössischen Diskursen von Bevölkerungspolitik und Eugenik, seine fehlende Distanz zu angesehenen Kollegen, seine Anbiederung an sie. Die AutorInnen zeigen Hirschfelds Irrwege und seine wahrgenommenen und nicht wahrgenommenen Handlungsspielräume: Sie porträtieren eine ambivalente Persönlichkeit. Vielleicht kann der Band auch einen Beitrag dazu leisten, die bisher eher in internen Positionspapieren und öffentlichen Pamphleten stattfindende Debatte über den Sinn und Unsinn, eine Stiftung zur Erforschung gleichgeschlechtlichen Lebens von Männern und Frauen nach Magnus Hirschfeld zu benennen, nunmehr öffentlich sachlich zu führen.




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