Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Liebe Leserinnen und Leser!

Im vorliegenden Jahrbuch wird ein Blick auf die Vielfalt gleichgeschlechtlicher Kontaktformen und Partnerschaftsmodelle geworfen.

Erst in den 1920er Jahren entstand unter homosexuellen Männern und Frauen das Ideal der gleichberechtigten Beziehung. Dieses Ideal setzte sich parallel zur Vorstellung durch, Menschen, die Personen des gleichen Geschlechts liebten, seien "anders als die anderen". Es trat in Konkurrenz zur Ehe oder auch zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften von Mann und Frau. Der Wunsch nach staatlicher Anerkennung und/oder kirchlichem Segen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften wurde in dieser Zeit nicht geäußert.

In Zeiten der Verfolgung, wie im NS-Staat, waren gleichgeschlechtliche Freundschaften wie auch Partnerschaften außerordentlichen Belastungen ausgesetzt: Beziehungen, die Halt und Stütze hätten geben können, drohten nun zu einer Gefahr zu werden.

Für die "neuen" Homosexuellenbewegungen seit Ende der 1960er Jahre standen in Abgrenzung zu heterosexuellen, als diskriminierend empfundenen Konzepten Vorstellungen von "freier Liebe", offenen Beziehungen und wechselnden (kurzfristigen) Partnerschaften im Vordergrund. Die heutige institutionalisierte "Homo-Ehe" stellt eine besondere Form gleichgeschlechtlicher Partnerschaft dar. Erstmals wurde sie in Dänemark (1. November 1989) gesetzlich ermöglicht. Dem dänischen Beispiel sind inzwischen viele europäische Staaten gefolgt. Die volle rechtliche Gleichstellung mit heterosexuellen Ehen ist aber bisher nirgendwo realisiert.

In früheren Jahrhunderten gab es in europäischen und außereuropäischen Kulturen andere Kontaktformen von Menschen, die Personen des gleichen Geschlechts begehrten: Das antike Konzept des pädagogischen Eros war beispielsweise ein struktureller Bestandteil griechischer Gesellschaften und stellte die heterosexuelle Ehe nicht in Frage. Bei längerfristigen Kontakten oder Beziehungen von Männern mit Männern oder Frauen mit Frauen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit handelte es sich um Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten oder rein spirituelle Gemeinschaften, nicht um freundschaftliche Bindungen. Selbst die romantischen gleichgeschlechtlichen Freundschaften des 18. und 19. Jahrhunderts mit ihrem Freundschaftskult verstanden sich nicht als Bindungen im Sinne von Partnerschaften oder gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, sondern waren freundschaftlicher Art. Andererseits galten Verhaltensweisen wie etwa Küsse oder das gemeinsame Nächtigen in einem Bett, die heute als homosexuell interpretiert würden, als üblich und nicht anstößig und galten im Mittelalter als fester Bestandteil ritueller Praktiken.

Die beiden Artikel zum Themenschwerpunkt zeigen am Beispiel von Mittelalter und Früher Neuzeit bzw. der 1920er Jahre in Deutschland, wie unterschiedlich gleichgeschlechtliche Beziehungen konzipiert, ausgestaltet und gedeutet werden konnten. Damit ist auch die grundsätzliche Frage nach dem Verständnis der eigenen sexuellen Identität angeschnitten, ein Thema, das in einem späteren Jahrbuch vertieft werden soll. Schwerpunkt der nächsten Ausgabe sollen Homosexuellen-Organisationen, Homosexuellen-Gruppen und homosoziale Netzwerke sein. Dabei soll es z.B. um innere Strukturen und soziale Beziehungen der Gruppenmitglieder ebenso wie um Außenbeziehungen und die Außensicht gehen. Wir sind an wissenschaftlichen Texten zu den genannten Themen interessiert, natürlich auch weiterhin an kleineren Beiträgen aus anderen Bereichen der Homosexualitätengeschichte und nicht zuletzt an Rezensionen zu Neuerscheinungen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber




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