Sabine Rohlf:
Exil als Praxis - Heimatlosigkeit als Perspektive?

Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen
München: edition text + kritik 2001, 387 S., € 36

Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 5 (2003)

Bereits im Titel stellt Sabine Rohlf die zentrale Frage, die sich wie ein roter Faden durch ihre Dissertation zieht. Diese Frage nach der narrativen Inszenierung von Heimatlosigkeit und Exil versucht sie anhand der Analyse von fünf Romanen zu beantworten. Diese wurden zwischen 1937 und 1944 von Frauen verfasst, die nach der Übernahme des Reichskanzleramtes durch Hitler am 30. Januar 1933 das deutsche Reichsgebiet verließen, anschließend in unterschiedlichen europäischen und außereuropäischen Ländern lebten und arbeiteten. Die Schwierigkeiten eines Lebens im Exil - Reise-, Pass- und Visumsprobleme, Leben in Hotelzimmern, ständige Ortswechsel, Grenzüberschreitungen, Abschiede, Aufbrüche, Flucht und Verfolgung - wurden zum literarischen Sujet. Die Autorinnen lassen sich eher linken bzw. liberalen Kontexten zuordnen, doch keine von ihnen band sich an eine Partei. Zwei (Alice Rühle-Gerstel und Adrienne Thomas) stammen aus jüdischen Elternhäusern. Die literarischen Werke aller fünf Autorinnen sind gekennzeichnet von einer kritischen Haltung gegenüber der traditionellen passiven Frauenrolle. Annemarie Schwarzenbach und Christa Winsloe widmeten sich zudem in ihren Werken auch dem Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe.

Bei der Textauswahl stand für Rohlf im Vordergrund, inwiefern die weibliche Perspektive in den Erzählungen über Heimat und Exil von Bedeutung ist.

Rohlf wählte fünf Romane aus, deren Geschichten Motive der Grenzüberschreitung, Heimatlosigkeit und Bewegung, die auch die Leben der Autorinnen bestimmten, aufgreifen. So erzählt Alice Rühle-Gerstel in Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit (1937/38 verfasst) von einer deutsch-tschechischen Kommunistin im Prager Exil, ihren Problemen mit dem Ehemann und der Partei. In Kind aller Länder (1938) schickt Irmgard Keun ein Mädchen, aus dessen Perspektive auch erzählt wird, auf die Reise ins Exil durch viele Länder, gemeinsam mit seinen Eltern, einem antifaschistischen Schriftsteller und seiner Ehefrau. Adrienne Thomas' Reisen Sie ab, Mademoiselle! (1944) beschreibt die Zerstörung eines jüdischen Haushalts in Wien nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich sowie die Internierung in einem französischen Lager und die Flucht durch halb Europa. Die Schiffsreise einer Hamburger Kaufmannstochter steht im Mittelpunkt von Christa Winsloes Passeggiera (1938) und wird zum Anlass, bürgerlich weibliche Rollen und Konventionen zu hinterfragen. Vordergründig handelt es sich bei Annemarie Schwarzenbachs Das glückliche Tal (1939) um einen Reisebericht, aber der Aufenthalt in einem persischen Hochtal ist für das beschreibende Ich eher Anlass zu einem Rückblick, begleitet von Selbstreflexionen. Bis auf Winsloes Passeggiera wurden alle Romane in den 80er Jahren nochmals neu verlegt.

Rohlf interessiert sich bei ihrer Analyse weniger für die existentiellen Probleme der aus Deutschland geflohenen Autorinnen bzw. für die besonderen Schwierigkeiten schreibender Frauen. Deren jeweilige Strategien, mit dieser Ausnahmesituation umzugehen, wurden, wie Rohlf in dem Kapitel Die Exilforschung entdeckt die Frauen darstellt, bereits entsprechend vorgestellt und diskutiert. Offen blieb aber bislang die Frage, wie sich die von Frauen im Exil verfasste Literatur gegenüber den auch inhaltlich von Männern dominierten Debatten des Exils als Intervention aus weiblicher Perspektive beschreiben lässt. Hat also die Erfahrung des Exils dazu geführt, dass die Autorinnen ihre in der Weimarer Republik zum Teil sehr lebhafte Kritik an den patriarchalen Strukturen zu Gunsten einer antifaschistischen Einheitsfront in den Hintergrund rückten? Und gibt es trotz aller Unterschiedlichkeit zwischen den fünf Romanen Gemeinsamkeiten zu entdecken?

Rohlf hat ihre Arbeit wie folgt aufgebaut: In einem ersten Kapitel widmet sie sich der literarischen Gestaltung von Heimat, Heimatlosigkeit, Exil und Geschlechterdifferenz. Anschließend werden in zwei Kapiteln die Kontexte der Lektüren abgesteckt: Auf einen Forschungsüberblick zu Exilautorinnen folgt ein Kapitel, das wichtige Bezüge auf Arbeiten aus dem Bereich feministischer Literaturwissenschaft und Geschlechterforschung sowie poststrukturalistischer Theoriebildung vorstellt. Im Anschluss behandelt Rohlf die Romane einzeln: In einer textnahen Lektüre stellt sie zunächst jeweils die Autorin und ihr Werk vor, anschließend erfolgt eine genaue inhaltliche Analyse, wobei die Strategien der Hauptpersonen im Umgang mit Exil und Heimatlosigkeit im Mittelpunkt stehen. In einem letzten Kapitel werden die Ergebnisse der fünf Lektüren zusammengeführt.

Folgende Gemeinsamkeiten zwischen den fünf Romanen kristallisieren sich heraus: Alle fünf Romane entwerfen Figuren und Konstellationen, die sich kaum mit der Konzeption einer exklusiven, d.h. einzigen und ausschließlichen Heimat in Deutschland oder anderswo vereinbaren lassen. Die Begriffe Heimat, Heimweh, Nationalismus, Rückkehr werden in den Romanen entweder negiert oder über Operationen der Vervielfältigung variiert. Rohlf schlägt vor, diese narrativen Distanzierenden von einem, wie sie formuliert, ruchlosen nationalen "Wir" und entsprechenden Heimatgefühlen als politische Stellungnahmen zu lesen, die sich gegen die gewaltsame Konstruktion einer Volksgemeinschaft und ihrer Idee eines gemeinsamen 'Lebensraums' als geographisches Territorium richten. Darüber hinaus sind die Texte aber ihrer Meinung nach auch als Weigerung zu lesen, sich in die vorgegebene Frauenrolle des Mütterlich-Weiblichen zu begeben. Die Heldinnen binden sich nicht nur an keinen festen geographischen Ort oder ein Volk, sie verweigern sich auch imaginären Territorien, wie z.B. der Hoffnung auf ein besseres Deutschland, verbunden mit der Rückkehr dorthin oder einer Zukunft im Sozialismus, die vielen ihrer schreibenden Zeitgenossinnen eine gewisse Stabilität verschafften. Es gibt kein (konkretes) Land, keine Ideologie, kein politisches Modell, eher ist es gerade das Modell der Nicht-Sesshaftigkeit, der Mobilität, das eine Möglichkeit bietet. In den fünf Romanen werden aber auch Figuren auf Reisen geschickt, die sich nicht nur einer Identifikation über Heimat verweigern, sondern auch dem Topos der traditionellen Weiblichkeit, der Definition der Frau durch den Mann. Zwar gibt es in einigen Romanen auch verheiratete Frauen, aber durch verschiedene narrative Kunstgriffe werden die Ehen sozusagen "verhindert". Dabei geht Christa Winsloe in Passeggiera sogar so weit, die heterosexuelle Beziehungsvariante in Frage zu stellen; der Roman enthält zudem einige narrative Bruchstücke, die sich als Elemente einer subkulturellen Kodierung der Homosexualität entschlüsseln lassen. So betont Winsloe einerseits unter anderem den maskulinen Geschmack ihrer weiblichen Hauptfigur; die für die Leserin sich daraus eventuell ergebende Assoziation eines lesbischen Begehrens wird jedoch negiert, indem dieser besondere Geschmack nicht mit eigenen Wünschen oder Entscheidungen, sondern mit der Homosexualität des Ehemannes der Hauptfigur begründet wird. Die Homosexualität des Ehemannes wird aber nicht nur als Erklärung des Kleidungsstils, sondern auch als Beleg für die allgemein distanzierte Haltung der Hauptfigur Männern gegenüber dargestellt. (Rohlf fügt an, dass eine solche Abneigung auch als Indiz einer weiblichen Homosexualität gelesen werden könnte.)

Spannend lesen sich Rohlfs Erkenntnisse zu Annemarie Schwarzenbachs Text Das glückliche Tal. Über das Geschlecht des erzählenden Ichs herrscht in der Rezeption eine gewisse Verunsicherung. Man glaubt Schwarzenbach das grammatisch - männlich - markierte Geschlecht ihres/r Ich-Erzähler(in) nicht so recht. Häufig wird die Figur als autobiographisches Selbst interpretiert, von der Autorin als Mann maskiert, um dem Skandal einer lesbischen Liebesgeschichte zu entgehen. Rohlf weist nach, dass der Ich-Figur zwar durchaus männliche Attribute zugewiesen werden, dass ihr aber andererseits Attribute der Macht fehlen. Ihre Identität verschwimmt im Verlauf des Textes mehr und mehr; schließlich erkennt der/die Ich-Erzähler/in sich selbst nicht mehr. Während die Literaturwissenschaft dazu tendierte, das unbestimmte Geschlecht als Schwäche bzw. mangelnde Souveränität der Autorin zu interpretieren, sieht Rohlf gerade darin die Stärke des Textes, der sich ihrer Meinung nach von allen analysierten Texten am ehesten als radikale Anstrengung lesen lässt, dem Dilemma der Zweigeschlechtlichkeit zu entfliehen.

In ihrem Schlusswort fordert Rohlf im Gegensatz zu der noch häufig in der Exilforschung anzutreffenden Tendenz zur Verallgemeinerung der Exilerfahrungen von Frauen dazu auf, gerade die Unterschiedlichkeit dieser Erfahrungen zu betonen. Eine literarische und politische Praxis kann ihrer Meinung nach durchaus noch andere Wege gehen, als die Erzählstrategien großer Teile der Exilforschung allzu leicht glauben machen. In der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Exils entstanden nämlich jede Menge literarischer Texte, die viele neue Fragen bieten und folglich für die Literaturwissenschaft, aber auch die Geschichtswissenschaft interessanter sein könnten als die literarischen Werke, die großen Problemen mit großen Worten und Konzepten zu begegnen suchten. So kann sich auch die Rezensentin Rohlfs Fazit nur anschließen: "Weiterlesen".




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