Florian Mildenberger:
"... in Richtung der Homosexualität verdorben". Psychiater, Kriminalpsychologen und Gerichtsmediziner über männliche Homosexualität 1850-1970

(= Bibliothek rosa Winkel, Sonderreihe: Wissenschaft Bd. 1), Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag 2002, 510 S., € 32

Rezension von Jürgen Müller, Köln

Erschienen in Invertito 5 (2003)

Auf den Beginn der Medikalisierung der (Homo-)Sexualität im 19. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf das Sexualstrafrecht hat Michel Foucault bereits in den 70er Jahren hingewiesen. Doch lange Zeit wurde dieses Thema nur in Artikeln oder in Kapiteln darüber hinausgehender Studien angeschnitten. Mit der Untersuchung Florian Mildenbergers zur Bedeutung der Psychiatrie für die Pathologisierung homosexueller Männer wird erstmals eine umfangreich angelegte Studie zu diesem Themenkomplex vorgelegt. Für den Zeitraum von 1850 bis 1970 zeichnet Mildenberger dezidiert die Forschungsgeschichte nach. Er hat seine Abhandlung chronologisch angelegt, durchbricht aber diese Struktur, wenn einzelne medizinische Fachgebiete einer besonderen Thematisierung bedürfen. Mildenberger stellt den Widerstreit unterschiedlicher medizinischer Disziplinen und Teildisziplinen wie der Psychiatrie, der (Kriminal-)Psychologie, der Psychoanalyse und der Psychotherapie, der Sexualwissenschaft, der Gerichtsmedizin, der Rassenhygiene und der Kriminalbiologie vor. Dabei legt er in seiner Publikation einen doppelten Schwerpunkt: Zunächst zeichnet er die Gedankengänge maßgeblicher Psychiater seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach, um daraus den Umgang der Psychiatrie mit männlicher Homosexualität, die bevorzugter Forschungsgegenstand war, während der NS-Zeit zu erklären. Er hebt dabei zu Recht auf die Bedeutung der Psychiatrie als Legitimationswissenschaft für rassen-politische und eugenische Entscheidungen ab.

Die Arbeit ist in insgesamt 15 Kapitel, ohne übergeordnete Gliederung, unterteilt. Im ersten von sechs Kapiteln, die den Zeitraum von 1852 bis 1932 umfassen, thematisiert Mildenberger den Paradigmenwechsel in der Behandlung der "Homosexualität" von der Gerichtsmedizin hin zur Psychiatrie. Eine Entwicklung, die um 1850 einsetzte und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen war. Die Gerichtsmedizin hatte zunächst die Aufgabe, Delinquenten dahin gehend zu untersuchen, ob die betreffende Person "homosexuelle" Handlungen begangen habe und ob sie "homosexuell" sei. Die Psychiatrie dagegen setzte andere Schwerpunkte im Rahmen ihrer Forschungen: Sie diskutierte die Genese/Ätiologie der "Homosexualität", ihre Heilbarkeit und den Nutzen von Strafvorschriften. Die Methode Mildenbergers, das Spektrum der wissenschaftlichen Theorien breit zu entfalten, ermöglicht den Lesenden an dieser Stelle einen Überblick über die zeitgenössischen Vorstellungen zum Wesen der Homosexualität zu erhalten: Homosexualität sei angeboren, Homosexualität sei ein erworbenes "Laster" (u.a. durch "Verführung"), "Homosexualität" sei eine "Krankheit". (Der Begriff "Homosexualität" wurde erst 1869 geprägt und Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts von der deutschsprachigen Wissenschaft übernommen.)

In den Kapiteln 2 und 3 stehen die Person Magnus Hirschfelds und seine Theorie von der Natürlichkeit der Homosexualität (Zwischenstufentheorie) im Zentrum. Die Psychiatrie, die Rassenhygiene und die Kriminalpsychologie setzten sich mit der Zwischenstufentheorie auseinander und versuchten vehement, diese zu widerlegen. Mildenberger zeichnet nach, wie Hirschfeld im Kampf um die Meinungsführerschaft Verbündete suchte, letztlich aber scheiterte: Weder der Psychologe Sigmund Freud noch der Schriftsteller Hans Blüher ließen sich vereinnahmen. Ende der 20er Jahre verlor Magnus Hirschfeld als Sexualwissenschaftler an Bedeutung, sein Werk wurde kaum noch rezipiert. Die unterschiedlichen Positionen, die den Fokus auf die Vorstellung von einer "Verführung" zur Homosexualität legten, erhielten von Beginn des 20. Jahrhunderts an eine immer größere Bedeutung. Zwei Debatten, die dauerhaft die Stellung des homosexuellen Mannes im Gerichtsverfahren und seine körperliche Unversehrtheit betrafen, wurden zu dieser Zeit erstmals geführt: Ob homosexuelle Männer bei Sexualhandlungen eine Unzurechnungsfähigkeit attestiert werden könne und (mit Beginn der 20er Jahre) welche "Heilungschancen" eine Kastration böte.

Die Kapitel 4-6 thematisieren die Psychiatrie, die Psychologie, die Psychoanalyse, die Kriminalbiologie und die Rassenhygiene der Weimarer Zeit in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung. In diesen wie in späteren Kapiteln nimmt Mildenberger jeweils eine knappe Einordnung der medizinischen Teildisziplinen innerhalb der Medizin vor. Anschließend bewertet er die Forschungen zur Homosexualität im Rahmen der jeweiligen Disziplinen, um daran anknüpfend ausführlich die verschiedenen Theorien und Forschungsansätze zu diskutieren. Dezidiert zeigt Mildenberger Verbindungen der Wissenschaftler zu Politik und Justiz auf. In Fußnoten trägt er biographische Informationen zu den Protagonisten der Forschungen zusammen.

In den folgenden sieben Kapiteln (7-13) steht die Zeit des Nationalsozialismus im Mittelpunkt. Der Psychiatrie widmet Mildenberger dabei zwei Kapitel (1933-1936 und 1936-1945), unterbrochen durch ein Kapitel zu den Forschungen des Münchener Psychiaters Theo Lang. Die Theorien, Forschungen und Therapievorschläge zur Homosexualität wurden in der NS-Zeit vor dem Hintergrund rassehygienischer Debatten über Erbkrankheiten, Sterilisation, Förderung der "natürlichen Auslese" und "Ausmerzung von Minderwertigen" diskutiert. Die Psychiatrie war maßgeblich an der Ausarbeitung der "Gesetze zu Verhütung erbkranken Nachwuchses" (1933 und 1935) und des "Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" (1933) beteiligt. Gesetze, auf deren Grundlage homosexuelle Männer "freiwillig" bzw. zwangsweise kastriert, in Sicherungsverwahrung und in Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen werden konnten. Die Hervorhebung Theo Langs als Forscher durch ein eigenes Kapitel ist nicht nachzuvollziehen, da sich die Psychiatrie zwar mit Langs Theorie auseinandersetzte, diese aber weitgehend ablehnte, weil Langs Hypothesen für die Praxis keine Relevanz besaßen. Viel eher hätte das Werk des Hamburger Psychiaters Hans Bürger-Prinz einer ausführlichen Darstellung bedurft, der mit seiner Position, dass es keine Homosexualität gebe (weder eine erworbene, noch eine angeborene), sondern lediglich homosexuelle Handlungen, eine wichtige Rolle in der Wissenschaft und als Gutachter in Strafprozessen einnahm.

Die Kapitel 10-12 behandeln die (Kriminal-)Psychologie, die Kriminalbiologie und die Wehrmachtspsychiatrie, abschließend geht Mildenberger auf die Praxis der Gerichtsgutachter (Kapitel 13) ein. Die unterschiedlichen Forschungsansätze innerhalb der beiden Fachdisziplinen (Kriminal-)Psychologie, und Kriminalbiologie werden ausführlich dargestellt, ebenso die Abgrenzung der Wehrmachtspsychiatrie zur zivilen Psychiatrie. Die Gutachtertätigkeit in Strafverfahren verweist nicht nur auf eine NS-konforme Einstellung der meisten Mediziner, sondern darüber hinausgehend wird eine Förderung rassehygienischer Postulate durch die Gerichtsgutachter deutlich. Die fachliche Qualifikation der Gutachter beurteilte Mildenberger äußerst kritisch. Im Einzelfall konnte sich die Inkompetenz mancher Mediziner auch zu Gunsten von angeklagten homosexuellen Männern auswirken. So führt Mildenberger Fälle an, bei denen Mediziner, die ihre Gutachten auf der Körperbaulehre von Ernst Kretschmer aufbauten (homosexuelle Männer seien an körperlichen Merkmalen zu erkennen), in ihren Gutachten die Homosexualität der betroffenen Angeklagten nicht zweifelsfrei nachweisen konnten. Die betroffenen Angeklagten wurden freigesprochen.

Im folgenden Kapitel (14) wird die besondere Situation der Homosexuellenforschung in Österreich zwischen 1933/34 und 1945 nachgezeichnet. Dabei geht Mildenberger auf Besonderheiten der Zeit zwischen 1933/34 und 1938 ein wie auf die zügige Gleichschaltung der Psychiatrie in der "Ostmark" ab 1938. Den Abschluss (Kapitel 15) bildet ein Blick auf Kontinuitäten der Forschungen zur Homosexualität nach 1945. Dabei stehen die Psychiater Hans Bürger-Prinz und Hans Giese im Zentrum der Ausführungen.

Mildenbergers Methode der detaillierten Darstellungen konkurrierender bzw. sich ergänzender Forschungsansätze zeigt sich janusköpfig. Einerseits bietet die vorliegende Publikation einen umfassenden Überblick über die Forschungen der Medizin und ihrer Teilgebiete zur Homosexualität. Mildenberger hat in einer immensen Fleißarbeit die entsprechende Fachliteratur ausgewertet; seine Arbeit ermöglicht es WissenschaftlerInnen ebenso wie interessierten Laien, sich über einzelne Teilgebiete und einzelne Forscher schnell und zuverlässig zu informieren. Andererseits ist die detaillierte Darstellung der unterschiedlichen Forschungsansätze für die Lesenden auf die Dauer unbefriedigend. Zu sehr verliert sich Mildenberger in Einzelheiten der Forschungsgeschichte, seine Darstellung läuft dann Gefahr, für die Lesenden zu einem unüberschaubaren und kaum zu entwirrenden Konglomerat von Theorien zu werden. Mit der Entscheidung für diese Art der Darstellung werden zentrale Aspekte der Homosexuellenforschung in verschiedenen Kapiteln zwar immer wieder angeschnitten, aber nie umfassend dargestellt. Die Bedeutung der Verführungsthese und das Problem der (Un-)Zurechnungsfähigkeitshypothese werden ebenso wenig ersichtlich wie Entwicklungen, Kontinuitäten und Brüche bei der Frage der Kastration. Wenn Mildenberger in seiner Zusammenfassung bei der Frage nach der Genese der Homosexualität die "Verführung" als zentrale "Ursache" hervorhebt, kann die Dominanz dieser Theorie anhand der Ausführungen selbst nicht nachvollzogen werden. Eine stärkere Gliederung und Bewertung der verschiedenen Theorien in den jeweiligen Kapiteln hätte die Lesenden besser geleitet und zentrale Entwicklungen deutlicher vor Augen geführt.




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