Christoph Schlatter:
"Merkwürdigerweise bekam ich Neigung zu Burschen" - Selbstbilder und Fremdbilder homosexueller Männer in Schaffhausen 1867 bis 1970

Zürich: GVA & Frieden / Chronos-Verlag 2002, 540 S., € 36,90

Rezension von Roger Portmann, Zürich

Erschienen in Invertito 5 (2003)

"Merkwürdigerweise bekam ich Neigung zu Burschen. Wenn ich auf der Strasse oder sonst wo einen schönen Bursch getroffen hatte, zog mich etwas zu ihm hin, ich weiss selber nicht warum." Um diese Feststellungen kreisen die Gedanken, die ein 29-jähriger Maurer aus der badischen Nachbarschaft im Januar 1930 im Schaffhauser Untersuchungsgefängnis zu Papier bringt. Der Handwerker schreibt in seinem Lebenslauf ziemlich ratlos, er habe "überhaupt nichts mehr wissen wollen von den Weibern" und sein Geschlechtsleben habe sich nach und nach ganz anders gestaltet. Diese Selbstbetrachtung ist eines von unzähligen Gerichtsdokumenten, mit denen Christoph Schlatter in seinem Buch Selbst- und Fremdbilder von homosexuellen Männern rekonstruiert, von Männern, die zwischen 1867 und 1970 wegen gleichgeschlechtlichen Handlungen in die Fänge der Justiz des Schweizer Grenzkantons Schaffhausen gerieten.

Die Geschichtswissenschaft geht heute davon aus, dass Männer, die Sex mit anderen Männern hatten, vielleicht gar andere Männer liebten, sich nicht immer schon als "anders" wahrgenommen haben. Bilder und Vorstellungen vom Homosexuellen tauchten erst vor etwa 150 Jahren in den Köpfen der Menschen auf. Damit wurde geboren, was Michel Foucault einmal als "homosexuelle Persönlichkeit" bezeichnet hat, als eine Persönlichkeit mit einem speziellen Charakter und einer eigenen Lebensform. Neben dieser Erkenntnis, die gelegentlich noch von einigen Adepten von soziobiologischen Erklärungsmustern bestritten wird, ist der Denkschule Foucaults auch zu verdanken, dass Sexualität für die Wissenschaft heute kein Naturphänomen mehr ist, sondern als ein kulturelles Produkt aufgefasst wird. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass unsere Vorstellung von der Sexualität sich ständig wandelt. Sexualität ist immer historisch bedingt, sie ist gesellschaftlich und kulturell geprägt. Und dies gilt selbstverständlich auch für die Heterosexualität, die immer nur zusammen mit der Homosexualität denkbar ist.

Auf dieser theoretischen Grundlage untersucht Christoph Schlatter in seiner sozialhistorischen Dissertation, mit welchen Kategorien, Stigmata, Selbst- und Fremdbildern, Subkulturen und politischen Bewegungen sich gleichgeschlechtliche Handlungen zu welchem Zeitpunkt verknüpften. Auf der Ebene der Alltags- und Sozialgeschichte konkretisiert der Autor anhand vieler Beispiele und Anekdoten das Abstrakte und oft sehr Pauschale der oben paraphrasierten konstruktivistischen Theorien. Und er demonstriert, wie Lokalgeschichte von allgemeiner Bedeutung sein kann.

Die Darstellung spannt mit den Eckpfeilern 1867 und 1970 einen Bogen von mehr als hundert Jahren. Die Quellenlage ist heterogen, denn Polizeirapporte, Verhörprotokolle, Urteile und Urteilsbegründungen des Schaffhauser Kantonsgerichts, ärztliche Gutachten und von den Angeschuldigten selbst verfasste Briefe oder Lebensläufe sind nicht für den ganzen Zeitraum in gleichem Maße vorhanden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich 1942 die rechtliche Lage änderte: Bis dahin war in Schaffhausen, wie in den meisten deutschsprachigen Kantonen der Schweiz, Sexualität unter Männern als "widernatürliche Unzucht" bestraft worden. Mit dem neuen gesamtschweizerischen Strafgesetzbuch wurden 1942 einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen straffrei; diese Entkriminalisierung erfolgte im Vergleich zu den europäischen Ländern, die sie überhaupt bestraften, sehr früh. Dennoch bot das neue Strafgesetz den Behörden weiterhin Hand für eine Pönalisierung bestimmter Arten gleichgeschlechtlicher Sexualität, namentlich der mannmännlichen Prostitution, die im Gegensatz zur heterosexuellen Prostitution mit einem Totalverbot belegt war, und des gleichgeschlechtlichen Sexualverkehrs mit unter 20-Jährigen, wohingegen die Altersgrenze für Sex zwischen Frau und Mann bei 18 Jahren, unter bestimmten Bedingungen gar bei 16 Jahren lag. (Diese Sonderbestimmungen zur Homosexualität wurden erst 1992 ersatzlos aus dem Schweizer Strafgesetzbuch gestrichen.)

Die disparate Quellenlage und sich ändernde juristische Rahmenbedingungen sind Faktoren, die Kohärenz und Stringenz einer historischen Untersuchung erschweren. Christoph Schlatter meistert diese Hürden jedoch überzeugend - nicht zuletzt dank einer ebenso minuziösen wie nachvollziehbaren Quellenkritik - und es gelingt ihm, wichtige Kernaussagen zu machen. So lassen sich Konjunkturen von ganz verschiedenen Erklärungsmustern für die Homosexualität ausmachen. Medikalisierung und Psychiatrisierung gleichgeschlechtlicher Aktivitäten gegen Ende des 19. Jahrhunderts hinterlassen in den Quellen deutliche Spuren. Und ein immer dichter werdender Diskurs über die Homosexualität führt im frühen 20. Jahrhundert dazu, dass die Angeschuldigten ihre bestraften Handlungen erstmals als Folge einer inneren Eigenschaft betrachten. Es geht plötzlich nicht mehr um losgelöste gleichgeschlechtliche Handlungen, sondern um einen speziellen Charakter der Persönlichkeit. Die vorliegende Untersuchung zeigt mit einer frappierenden Deutlichkeit, wie der "moderne Homosexuelle" mit den Merkmalen der biographischen Konstanz und des Empfindens einer irreversiblen Andersartigkeit sich seit den 1920er Jahren in den Gerichtsakten abzeichnet - obwohl es Sex zwischen Männern freilich schon vorher gegeben hat und obwohl es auch im 19. Jahrhundert schon Männer gab, die "über Jahre hinweg ein konstant oder überwiegend gleichgeschlechtliches Sexualleben pflegten", so Christoph Schlatter. Doch in der früheren Zeit fehlten nicht nur der Begriff "Homosexualität", sondern jegliche Kategorisierung, Benennung und Selbstdeklaration, die auf eine bestimmte sexuelle Orientierung schließen lassen.

Weitere interessante Erkenntnisse erbringt die Untersuchung über die damals existierende Vielfalt der Sexualität zwischen Männern. Darunter finden wir etwa sexuelle Kontakte in den Handwerker-Schlafstuben: So war 1895 die Schlafstube des 28-jährigen Tagelöhners und des acht Jahre jüngeren Schlossers in der Stadt Neuhausen der Schauplatz einer sexuellen Beziehung zwischen den beiden Männern. Der Schlosser stellte die Handlungen später zwar als Übergriffe des älteren Bettgenossen dar, den Handlungen scheint er sich jedoch regelmäßig ohne Widerstand hingegeben zu haben. Solche Vorgänge sind in den Handwerker-Schlafstuben des 19. Jahrhunderts nicht unüblich gewesen. Wir begegnen darüber hinaus im ganzen Zeitraum auch intimen, ganz unterschiedlich arrangierten Beziehungen, die als eigentliche Lebenspartnerschaften auf Dauer angelegt waren. Und im Kapitel über die homosexuelle Subkultur wird die Anziehungskraft deutlich, welche die Stadt Zürich schon damals auf die 50 Kilometer weiter nördlich gelegene Kleinstadt Schaffhausen ausgeübt hat. Nebenbei wird damit der hohe Stellenwert Zürichs für die Schweizer Schwulengeschichte einmal mehr offensichtlich.

Die fundierte, spannende, präzise Arbeit behandelt Aspekte, die in der Geschichte der Homosexualitäten (und in der Schweizer Geschichte) bis heute kaum untersucht worden sind, zum Beispiel Selbstbilder homosexueller Männer aus der Provinz und aus der Unterschicht, die keinen einschlägigen Organisationen angehörten. Das Buch schärft den Blick für Doppeldeutigkeiten, bemerkenswerte Details und Paradoxien nicht nur in der Praxis der ermittelnden Behörden, sondern auch in den Formulierungen des homosexuellen Selbstbewusstseins.

Zum Schluss kommt man nicht umhin zu erwähnen, dass das Obergericht des Kantons Schaffhausen nach plötzlich auftauchenden Vorbehalten verfügt hat, sämtliche, also auch im 19. Jahrhundert in den Akten auftauchende Namen der Beteiligten und Betroffenen zu anonymisieren. Dies in Abweichung von der Praxis, dass die Schutzfrist hundert Jahre beträgt - eine Praxis notabene, die auf einer entsprechenden Archivverordnung gründet. Dass die Behörden mit dieser einmaligen Praxisänderung, mit dem dubiosen Zwang zur vollständigen Tilgung von realen Eigennamen mithelfen, Homosexualität weiterhin als Makel zu behandeln, "scheint ihnen entgangen zu sein - oder sie tun es bewusst", schreibt der Autor mit Recht.




Zum Seitenanfang     Zur Übersicht von Invertito 5