Burkhard Jellonnek / Rüdiger Lautmann (Hg.):
Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt,

Paderborn: Schöningh 2002, 428 S., € 34,80

Rezension von Jürgen K. Müller, Köln

Erschienen in Invertito 4 (2002)

Der Sammelband ist das publizistische Ergebnis des im Herbst 1996 von der saarländischen Landeszentrale für politische Bildung und der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalteten Kongresses: "Wider das Vergessen. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich - Die unterbliebene Wiedergutmachung für homosexuelle Opfer in der Bundesrepublik Deutschland". Der Untertitel verweist auf die beiden Schwerpunkte des Kongresses: Standortbestimmung der Forschung zur Verfolgung (schwerpunktmäßig) männlicher aber auch weiblicher Homosexueller und die Weigerung der bundesrepublikanischen Politik, männlichen Homosexuellen den Status als Opfer des NS-Regimes zuzuerkennen. Die Artikel zur Verfolgung der Homosexuellen bieten leider keinen Überblick zum aktuellen Forschungsstand verschiedener Aspekte der Homosexuellenverfolgung, sondern leiten aus dem damaligen Erkenntnisstand Fragestellungen für die Geschichtsforschung ab.

Es hat nun über fünf Jahre gedauert, diesen umfangreichen Sammelband zu publizieren. Man könnte auch sagen, fünf verlorene Jahre, denn zahlreiche Artikel wurden inzwischen anderweitig veröffentlicht. An Aktualität haben nur einige Artikel wie die von Johannes Wasmuth, Peter von Rönn, Rainer Herrn, Jörg Hutter, Stefan Micheler/Moritz Terfloth und Klaus Müller nicht verloren. Es wurde versäumt, in einem Anhang die zwischen 1996 und 2001 erschienene Forschungsliteratur anzuführen, Lautmann und Jellonnek nennen nur wenige neuere Veröffentlichungen in den Fußnoten ihrer Einleitung. Der Sammelband ist mit seinen 26 Beiträgen in acht Kapitel unterteilt. Bevor im Rahmen der Rezension drei Artikel besprochen werden, erfolgt vorab ein Abriss aller Beiträge.

Das einleitende Kapitel zur Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich steckt den Rahmen des Forschungsgebiets ab. Wolfgang Benz geht auf die fehlende Wahrnehmung der Homosexuellen als Opfergruppe des Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Gesellschaft ein - aus diesem Manko resultieren Probleme, wie z.B. eine erst Mitte der 70er Jahre einsetzende Forschung oder die fehlende Erinnerungsliteratur betroffener homosexueller Männer und Frauen aus der (un-)mittelbaren Nachkriegszeit. Ausgehend von diesen spezifischen Problemen skizziert Rüdiger Lautmann den möglichen Rahmen einer künftigen Forschung zur Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit. James D. Steakley thematisiert in einem Rückblick zwei miteinander verbundene Aspekte: die Mythologisierung der Homosexuellenverfolgung und die daraus resultierenden schwulenpolitischen Implikationen in Deutschland und den USA.

Dass das Kapitel zur Frauenliebe im Dritten Reich knapp gefasst ist, basiert auf einer doppelten Problematik. Zuerst ist die schwierige Quellenlage zu nennen, resultierend aus der Sonderrolle, die lesbische Frauen im Rahmen der Homosexuellenverfolgung einnahmen: Ihre Sexualität wurde juristisch als nichtstrafbar gewertet, sozial aber als sexuell abweichendes Verhalten gleichwohl diskriminiert und verfolgt. Dann ist die geringe Zahl an ForscherInnen, die sich mit der Verfolgung lesbischer Frauen auseinander setzen, zu beklagen. Claudia Schoppmann beschreibt die Diskriminierung und Verfolgung von Lesben im Nationalsozialismus unter der besonderen Beachtung der Rolle der Frau. Mit dem Sonderfall Österreich befasst sich Angela H. Mayer. Dort, wo vor und nach dem "Anschluss" an das Deutsche Reich eine spezifische Strafbarkeit lesbischer Sexualität gegeben war, sind kleinere Quellenbestände überliefert. Damit wird nicht nur ein Einblick in das Ausmaß der Verfolgung von lesbischen Frauen ermöglicht, sondern zugleich wohl auch der Rahmen einer Verfolgung von Lesben als normabweichende Frauen im NS-Staat skizziert.

Das Kapitel Der Homosexuelle und die nationalsozialistische Gesellschaft thematisiert, fokussiert auf die Homosexualität, zentrale Aspekte der NS-Herrschaft. Georg Hansens Analyse der Funktion des Homosexuellen als Sündenbock gilt nicht nur für den NS-Staat, sondern für alle Gesellschaften. Geoffrey J. Giles untersucht die "Angst" der Nationalsozialisten vor der Homoerotik im Männerbund und ihre Überreaktion bei der "Reinhaltung" ihrer Organisationen von der "Seuche" Homosexualität wie beispielsweise bei der Hitlerjugend. Harry Oosterhuis analysiert die Rolle der Homophobie in der NS-Ideologie. Zuletzt thematisiert Manfred Herzer den Widerstand, der von Homosexuellen ausging, anhand von vier Lebensskizzen.

Mit Polizei und Justiz werden zentrale Institutionen der Homosexuellenverfolgung angesprochen. Dabei ist der Blick weniger auf konkrete Forschungsergebnisse gerichtet, als vielmehr auf die Möglichkeiten und Prämissen einer zukünftigen Forschung. Hier wird in der Praxis über die bei Rüdiger Lautmann benannten theoretischen Forschungsperspektiven hinausgegangen. Burkhard Jellonnek untersucht die Rolle der Gestapo bei der polizeilichen Ermittlungs- und Verfolgungspraxis. John C. Fout fordert in seinem Beitrag eine Differenzierung der unterschiedlichen Opfergruppen unter den Homosexuellen, nach den Orten der Liquidierung und den verbleibenden Nischen der Homosexuellensubkultur. Johannes Wasmuth schließlich richtet den Blick auf Kontinuitäten und Brüche bei der strafrechtlichen Verfolgung männlicher Homosexueller in der jungen BRD und DDR sowie eine Einordnung in die gesellschaftspolitischen Maximen.

Im Kapitel Medizin und Psychiatrie werden die verschiedenen Forschungsansätze zum Umgang mit der Homosexualität im NS-Staat dargestellt. Darüber hinaus wird auf die medizinische Praxis eingegangen. Marc Dupont untersucht die verschiedenen "Schulen" zur Ätiologie der Homosexualität, der Kategorisierung von Homosexuellen sowie den daraus resultierenden Vorschlägen zum Umgang mit Homosexuellen. Günter Grau richtet sein Augenmerk auf die Rolle des Mediziners bei der Kastration homosexueller Männer. Dabei spielt die Kooperation zwischen Medizin und Polizei eine zentrale Rolle. Peter von Rönn stellt die Wechselwirkungen zwischen Ideologie und Medizin am Beispiel des Psychiaters Hans Bürger-Prinz dar.

Die Forschung zur Homosexuellenverfolgung im besetzten Europa steckt noch "in den Kinderschuhen". Pieter Koenders behandelt die besetzten Niederlande - im Spannungsfeld zwischen der eigenen nationalen Strafpolitik und dem Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Mario Kramp zeichnet für Frankreich ein nach Regionen (besetztes Frankreich, Gebiet der Vichy-Regierung, Elsass-Lothringen) unterschiedliches Bild der Repression nach, die allerdings überall maßgeblich durch den NS-Staat geprägt war. Das Referat von Giovanni Dall'Orto über die Verfolgungssituation in Italien ist leider nicht abgedruckt.

Im Kapitel Wiedergutmachung an homosexuellen NS-Opfern in der Bundesrepublik Deutschland liegt das Hauptgewicht auf der Kritik an der nicht geleisteten Wiedergutmachung. Über das Konzept einer kollektiven (nicht nur materiellen) Entschädigung mit einem Fokus auf die "Wissenschaft als Form der Erinnerung" referiert Rüdiger Lautmann. Rainer Herrn porträtiert Magnus Hirschfeld und hebt die politische und wissenschaftliche Bedeutung dieses Sexualwissenschaftlers hervor. Hans-Georg Stümke revidiert nachdrücklich den Status der Homosexuellen als so genannte vergessene Opfer: Er belegt den ausdrücklichen Ausschluss der Homosexuellen von Wiedergutmachungsansprüchen und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung als Nicht-Opfer des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft. Jörg Hutter zieht das Fazit, dass die individuelle Wiedergutmachung auf Bundes- und Landesebene gescheitert ist, daran ändern auch die so genannten Härtefonds nichts.

Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit basieren auf zwei Säulen: dem Sich-der-Erinnerung-Stellen und dem Sich-an-etwas-erinnern-Können. Thomas Rahe zeichnet die Entwicklung des Gedenkens und Erinnerns in der Gedenkstättenarbeit nach. Dabei geht er auf die Bedeutung, die Beschränkungen und Möglichkeiten dieser Gedenk- und Erinnerungsform ein. Albert Eckert betont die Tragweite eines Homo-Monuments für das gesellschaftliche Kollektivgedächtnis. Anhand der Debatte über das Berliner Holocaust-Mahnmal zeichnet er gesellschaftliche Positionen zu einem Homo-Monument nach. Stefan Micheler und Moritz Terfloth dokumentieren den ignoranten Umgang des Hamburger Staatsarchivs mit NS-Quellen, mit einem Fokus auf Strafakten zu § 175. Lutz van Dijk beschreibt anhand eines Lebensschicksals exemplarisch die traumatischen Auswirkungen der Verfolgung in der NS-Zeit auch in nicht-deutschen Nachkriegsgesellschaften. Klaus Müller berichtet über die wenigen Zeugnisse überlebender Homosexueller (ob als Videointerview oder als Biografie) und ihre Bedeutung für die Forschung.

Im Folgenden gehe ich auf drei Artikel näher ein; sie stehen stellvertretend für zahlreiche interessante Denkansätze auf diesem Kongress. Burkhard Jellonnek verweist in seinem Artikel auf zwei wichtige Ansätze, die den Fokus bei der Erforschung der Verfolgung der Homosexuellen stärker auf den Aspekt der Alltagsgeschichte richten. In seiner zentralen Aussage geht er davon aus, dass eine "Ausmerzung" der Homosexuellen weder ideologisch geplant war, noch praktisch stattgefunden hat. Er betont, dass diese These keine Marginalisierung der Verfolgung bedeutet; vielmehr ist damit die Aufforderung verbunden, Aspekte wie die Selbstverleugnung der eigenen sexuellen Identität, das Gefühl der Beobachtung durch Nachbarn, ArbeitskollegInnen und Familienangehörige oder die ständige Angst vor der Entdeckung des "Anders-Seins" in eine Analyse der Verfolgung mit einzubeziehen. Für die Rolle der Gestapo fordert er eine relativierende Bewertung ihres Machtstatus: Die Geheime Staatspolizei war kein monolithischer Machtapparat und nicht allein verantwortlich für die Homosexuellenverfolgung. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Unterstützung der Verfolgung durch Denunziationen aus der Bevölkerung und zeigt die Bedeutung erzwungener Geständnisse von inhaftierten Homosexuellen für die Anordnung von Razzien und Festnahmen. Die Rolle der Kriminalpolizei bleibt dabei leider außen vor.

Peter von Rönn porträtiert den Psychiater Hans Bürger-Prinz vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Fremdbildes des Homosexuellen: Aus dem pathologischen Homosexuellen wird ein politischer Feind, aus dem medizinischen wird ein politisches Problem; homosexuelle Männer werden zur Gefahr für den Männerstaat. Diese neue Sichtweise beeinflusste auch den medizinischen Diskurs: Ätiologische Fragestellungen wurden zweitrangig, wichtiger waren Ergebnisse bei der Bekämpfung der Homosexualität. An diese Denkweise anknüpfend bestimmten so genannte "praktische Erfahrungen" statt medizinische Erkenntnisse das Bild der und den Umgang mit den Homosexuellen. Bürger-Prinz hatte die Politisierung des medizinischen Diskurses verinnerlicht, was sich in seinem Homosexuellenkonzept widerspiegelte. Homosexualität wurde für ihn wesentlich durch Einstellung und Handeln bestimmt; war damit weder "schicksalshaft" noch organische Veranlagung. Homosexualität entstehe durch eine fehlgeleitete soziale Genese ("Verführung") und sei somit veränderbar: durch Bestrafung (Gefängnis) und Erziehung. Bürger-Prinz förderte das Vorurteil von der "Verführung" zur Homosexualität und der damit verbundenen "Gefährlichkeit" der Homosexuellen. Von Rönn sieht als Folge dieses Konzepts eine Radikalisierung der Homosexuellenbekämpfung. Peter von Rönn führt mit diesem Aufsatz seine langjährigen Forschungen zu Bürger-Prinz fort. Innerhalb dieses Sammelbandes legt er den wohl spannendsten Beitrag vor.

Der Beitrag von Stefan Micheler und Moritz Terfloth verweist auf die politische Dimension von Geschichtsarbeit, nicht nur hinsichtlich der Forschungsergebnisse, sondern schon bei der Quellenrecherche. Das Hamburger Staatsarchiv hatte entschieden, einen von der Justizbehörde angebotenen Aktenbestand von 160.000 Akten der Staatsanwaltschaft am Landgericht Hamburg nicht komplett zu übernehmen, sondern 75% dieser Akten zu vernichten. Eine Entscheidung, die schon an sich skandalös ist, da ein solcher fast komplett erhaltener Aktenbestand für die NS-Zeit einmalig gewesen wäre. Die beiden Autoren dokumentieren die unzureichende Reflexion der verantwortlichen Archivare bei dieser Entscheidung, die bewusste Fehlinformation der Hamburger Forschungseinrichtungen über den Umfang der Vernichtung und die Registrierung der vernichteten Akten sowie die Fehler bei der Auswahl der Stichprobe und der Verzeichnung der archivierten Akten. Besonders gravierend für die Erforschung der Homosexuellenverfolgung war, dass auch zahlreiche Verfahrensakten nach § 175 vernichtet wurden. Weit mehr als 1.800 Akten sind so für die Erforschung der Verfolgung und des Alltags homosexueller Männer endgültig verloren gegangen. Das Beispiel des Hamburger Staatsarchivs zeigt, dass ein Historiker im Elfenbeinturm nur die Ergebnisse hervorbringen kann, die politisch gewollt oder aus undurchsichtigen Entscheidungen einer Archivleitung noch möglich sind. Wir sind also nicht nur gefordert, die Quellen zu finden, sondern auch sie vor der Vernichtung zu bewahren.




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